Die Dame wirkt leicht verzweifelt, doch ihre Geschichte klingt lustig: «Mein Hund – Sie erinnern sich an ihn, Monsieur Bonnet? Also, stellen Sie sich vor, er hat alle meine fünf Brillen zerbissen. Er hat das Schildpatt wohl für Knochen gehalten.» Franck Bonnet schaut sie entgeistert an. Natürlich kennt er den Hund. Er kennt ziemlich viel von der Dame: ihre Einrichtung, ihre Vorliebe für zeitgenössische Kunst, ihren Saab, ihre etwas strenge Garderobe. Er hat ihr Gesicht studiert, sehr genau sogar, hat Mass genommen, sich Gedanken über ihre Augenfarbe und ihren Lippenstift gemacht. Fast zwei Stunden lang war er bei ihrem ersten Besuch mit ihr beschäftigt, um zu verstehen, wer sie ist, was sie mag, wie sie sich sieht oder sehen möchte.

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Jeder, der einen Antrittstermin mit Maison Bonnet vereinbart hat, unterzieht sich dieser intensiven Kennenlern-Prozedur. Bis vor wenigen Jahren kam Christian Bonnet dafür zu seinen Kunden ins Haus: «Da sehe ich ziemlich schnell, mit wem ich es zu tun habe», sagt er. Sein Sohn Franck eröffnete 2009 einen Laden beim Pariser Palais Royal, er findet es einfacher, zwischen seinen Brillen und Werkzeugen zu arbeiten. So oder so – eine Bonnet-Brille kauft man nicht einfach wie beim Discounter von der Stange. Jedes Modell ist handgefertigt, nach Mass entworfen und absolut einzigartig. Es ist auf seinen Träger zugeschnitten, soll seinen Charakter und seine optischen Vorzüge unterstreichen, Schwachstellen überspielen. Ausser den Bonnets gibt es weltweit niemanden, der so arbeitet, und der Reiz der absoluten Exklusivität ist ein Teil ihres Erfolgskonzepts.

«Haute Lunetterie» steht unter dem dezent geschwungenen Logo von Maison Bonnet. Die Bonnets machen Brillen in vierter Generation, und obwohl fast niemand ihren Namen kennt, sind ihre Produkte weltberühmt: Onassis? Jackie Kennedy? Yves Saint Laurent? Denkt man an sie, hat man sofort ihre Brillen vor Augen, die den Look ihrer Träger weit mehr als jedes andere Accessoire geprägt haben. Die runde, etwas klobige schwarze Brille Le Corbusiers stammte aus der Brillenmanufaktur in Sens, knapp 100 Kilometer südöstlich von Paris, und auch Pierre Mirabaud, Senior Partner der Genfer Privatbank Mirabaud & Cie und Ex-Präsident der Schweizerischen Bankiervereinigung, trägt zu seinem prächtigen Schnurrbart ein eher diskretes Bonnet-Exemplar.

Letzte Bestände. Dass Madames Hund so viel Geschmack an den Brillen gefunden hat, ist leicht zu erklären: Sie sind oder besser waren aus Schildpatt, einem Material, das aus dem Panzer von Schildkröten gewonnen wird. Schildpatt bietet einen extrem hohen Tragekomfort: «Es ist federleicht und nimmt sofort die Temperatur der Haut an. Nach wenigen Minuten vergisst man, dass man eine Brille trägt, und sie hinterlässt keine Druckstellen», erklärt Franck Bonnet. Doch die Sache hat einen Haken. Schildpatt gibt es so gut wie nicht mehr. Seit dem Washingtoner Artenschutzübereinkommen ist der Handel damit strengstens verboten, der allerletzte in Europa existierende Bestand befindet sich im Besitz der Bonnets. Ex-Präsident François Mitterrand, auch er ein Bonnet-Brillenträger und Fan, hatte Christian Bonnet rechtzeitig gewarnt: «Passen Sie auf, das Gesetz wird kommen, füllen Sie vorher Ihr Lager.» Das war vor über 30 Jahren.

Die Erfolgsgeschichte der Bonnets begann in den 1930er Jahren im französischen Jura. In Morez begann Alfred Bonnet damals, Gestelle aus Schildpatt oder Gold zu fabrizieren. Sohn Robert erlernte das Handwerk, avancierte zum Direktor einer Brillenmanufaktur und gründete 1950 seine eigene Firma: Maison Bonnet. Er arbeitete nur mit Schildpatt und lieferte seine massgefertigten Modelle an Könige, Künstler, Literaten und Politiker.

Christian Bonnet kommt im zarten Alter von 14 Jahren in den väterlichen Betrieb. Hier lernt er die Geheimnisse und die Techniken im Umgang mit dem wertvollen Material. Er erbt nicht nur das Können, sondern auch die Werkzeuge und Lagerbestände. Als er 1980 die Leitung von Maison Bonnet übernimmt, ist er so ziemlich der Einzige, der überhaupt noch in der Lage ist, eine Brille aus Schildpatt herzustellen.

Franck Bonnet hat von seinem Vater gelernt, wie die einzelnen Platten in siedendem Wasser erhitzt werden, bis sie geschmeidig sind und in Schichten gepresst werden können, damit sie die nötige Stärke und den gewünschten Farbton erreichen. Das Trocknen kann Monate dauern, erst dann wird die Brille von Hand geformt, geschliffen und poliert. «Unsere Kunden müssen warten», amüsiert sich der Junior, «dabei sind sie oft so ungeduldig.» Bestenfalls 600 Brillen werden jährlich bei Maison Bonnet produziert, darunter auch Modelle aus Azetat oder Horn, aus Koralle, Silber und Gold.

Wertvolle Abfälle. Wie erkennt man eine Bonnet-Brille? Sicher nicht am Label, denn sie trägt keines. Am ehesten an ihrer Schönheit. Dass sie von Hand modelliert wurde, verleiht ihr ein fast architektonisches Aussehen. Das Licht wird anders eingefangen, es durchdringt das Material, legt sich auf die polierten Kanten, lässt die Brille leuchten. Menschen mit Stilgefühl erkennen das. «Die Wahrnehmung von Luxus ändert sich langsam», glaubt Franck Bonnet, «es geht nicht mehr um einen sichtbaren Markennamen, sondern um das Gefühl, etwas Einzigartiges, Handgefertigtes zu besitzen.» In diesem Fall auch um ein Objekt, das es bald nicht mehr geben wird.

«Schildpatt ist heute das seltenste Material der Erde», sagt Christian Bonnet. Und eines der wertvollsten. Ein Schildpattgestell kostet bis zu 30 000 Euro, am teuersten ist das helle, reine Strohgelb, das aus den Seitenteilen des Panzers stammt. Dabei wird nur ganz wenig davon verarbeitet, zierliche Gestelle wiegen gerade einmal sieben Gramm, massive bestenfalls doppelt so viel. Ausser dem Staub, der beim Feilen auf den Boden fällt, entstehen keine Abfälle. Jedes noch so kleine Reststückchen wird aufgehoben und bei Reparaturen eingesetzt: «Ein wenig Hitze und ein wenig Druck genügen, das Material wächst fast von selber zusammen. Und es bleiben keine Narben», erklärt Francks Bruder Steven, der auch zerbrochene Gestelle völlig spurlos reparieren kann. Bei den Brillen der Dame war er aber machtlos. Ihr Hund hatte ganze Arbeit geleistet und mal eben den Gegenwert eines Mittelklassewagens zerkaut.