Harari berichtet aus der Vogelperspektive. Von weit ausserhalb unseres alltagsgewohnten Sehens und Denkens beschreibt er die Entwicklung der Menschheit und ihres Lebensraums, beginnend vor dreizehneinhalb Milliarden Jahren mit dem sogenannten Urknall. Als Materie, Energie, Raum und Zeit entstanden (stellen Sie sich das einmal vor). Vor 3,8 Milliarden Jahren, als mit den ersten Organismen Leben auf unserem Planeten entstand. Und vor 70 000 Jahren, als der Homo sapiens Kulturen aufzubauen begann. Kulturen, die Menschen Halt und Orientierung in der Welt geben.
Harari ordnet die Menschheitsgeschichte – faktenreich untermauert – in vier grosse «Revolutionen»: die kognitive Revolution (70 000 Jahre vor unserer Zeitrechnung), die landwirtschaftliche (vor 10 000 Jahren) und die wissenschaftliche Revolution der Neuzeit.
Corine Mauch ist Stadtpräsidentin von Zürich.
Ebenfalls als Revolution interpretiert er die, wie er es nennt, «Vereinigung der Menschheit» in den Jahren vor und zu Beginn unserer Zeitrechnung. Die grossen Reiche, die andere Kulturen dominierten und vereinnahmten oder geldwerten Austausch organisierten. Die Herausbildung von Religionen zu einigenden Kräften in grossen Kulturräumen.
Unterlegt mit Fakten und Quellenangaben
Harari liest sich spannend, offensichtlich bestrebt um eine verständliche Vermittlung komplexer Sachverhalte. Mit Erfolg. Auch wenn dies das eine oder andere Mal kurz gegriffen erscheinen mag, unterlegt er Thesen stets mit Fakten und Quellenangaben. Harari teilt sein grosses Wissen souverän mit der Leserin und dem Leser.
Das Buch inspiriert. Dem Autor gelingt es, Dinge und Gegebenheiten unseres Lebens neu anzuschauen, losgelöst von eingespielter Wahrnehmung und gewohnter Interpretation, von Selbstverständlichkeiten und Überlieferungen. Dies wirkt zuweilen – zwangsläufig – provokativ und vereinfachend. Doch regt es zu weiten Gedankengängen, Fantasie und Nachdenklichkeit an. Warum sehe ich die Dinge so, wie ich sie sehe? Warum ordnen wir die Welt so, wie wir sie eben ordnen? Man könnte sie auch ganz anders interpretieren, ganz anders ordnen. Nichts ist selbstverständlich, erst mit unserem vorgefassten Denken machen wir es dazu. Harari fordert uns heraus – ohne dass wir mit allen Einzelheiten seiner Thesen einverstanden sein müssen. Selbstverständlichkeiten sind keine mehr.
«Ein weiter Horizont von Möglichkeiten»
Vielmehr – und das ist für mich einer der zentralen Aspekte seines Buches – weist er uns darauf hin, dass die menschliche Entwicklung «ein weiter Horizont von Möglichkeiten» ist. Einige realisieren sich, aber «viele dieser Möglichkeiten werden nie Wirklichkeit». Unsere gegenwärtige Situation ist also «weder unvermeidlich noch unveränderlich», wir haben «mehr Gestaltungsmöglichkeiten, als wir uns gemeinhin vorstellen».
Gerade in der gegenwärtigen Krisenzeit, mit einem Virus, dessen umfassende Wirkung in allen Lebensbereichen sich noch vor wenigen Monaten kaum jemand hätte vorstellen können, braucht es solche Möglichkeitsräume. In einem grossen und positiven Sinne wagt Harari im historischen Kontext die Relativierung unserer letztlich erstaunlichen und faszinierenden Existenz auf diesem Planeten. Es hätte auch anders kommen können.
Yuval Harari stellt die grossen Fragen der Menschheitsgeschichte faktenreich und klug.