Eines Tages sind Sie plötzlich Chef. Die Woche beginnt wie immer. Sie gehen mit Elan an die Arbeit, sitzen an Ihrem Projekt, reden und scherzen mit den Kollegen über dies und das. Thema ist natürlich auch, wie dämlich Chefs manchmal sein können. Und dann, einen Tag später, gehören Sie plötzlich selbst dazu. Sie sind befördert worden, Sie sind Chef.
Auf einen Schlag fühlt sich alles anders an – weil es anders ist. Chefsein verlangt ganz bestimmte Verhaltensweisen und Einstellungen. Aber welche? Viele frisch gebackene Führungskräfte betreten völliges Neuland. Vor dem Karrieresprung drehte sich Erfolg immer nur um die eigene Entwicklung. Als Chef aber bemisst sich Ihr Erfolg allein am Vorankommen anderer.
In Sachen Führungsstil gibt es natürlich die unterschiedlichsten Ansätze. Schauen Sie sich nur mal um: Da haben wir einerseits den umgänglichen, direkten Herb Kelleher, der Southwest Airlines drei Jahrzehnte lang führte, und andererseits den stillen Software-Pionier Bill Gates, seines Zeichens Gründer von Microsoft. Oder nehmen wir die politischen Führer Churchill und Gandhi. Wenn Sie diese Erfolgsmenschen nach den «Führungsgeheimnissen» gefragt hätten, hätten Sie mit Sicherheit von jedem eine andere Antwort erhalten. Meine würde lauten: Es gibt acht «Führungsregeln». Sie hatten für mich aber nie etwas Vorschriftsmässiges an sich. Sie schienen einfach stimmig – die richtige Art zu führen eben.
Bevor wir uns nun die Regeln im Einzelnen ansehen, ein Wort zu unvermeidlichen Widersprüchen. Das Leben ist bekanntlich voll davon – und das Managerleben allemal.
Der Methusalem unter ihnen ist das Problem zwischen kurz- und langfristiger Orientierung. Typische Frage: «Wie kann ich meine Quartalsziele erreichen und gleichzeitig dafür sorgen, dass das, was ich jetzt mache, meinem Unternehmen auch in fünf Jahren nützt?» Meine Antwort: «Willkommen in der Führungsriege!» Genau um diesen Spagat geht es!
Schauen Sie, kurzfristige Ziele erreichen kann jeder – man braucht nichts anderes zu tun, als Gas zu geben. Nicht anders ist es mit langfristigen Zielen – entwickeln Sie fleissig Visionen, träumen Sie. In Ihre Führungsposition wurden Sie aber berufen, weil Ihnen jemand zutraut, dass Sie beides gleichzeitig können – Gas geben und träumen. Man traut Ihnen genug Verständnis, Erfahrung und Durchsetzungsvermögen zu, um die mit Konflikten verbundenen Anforderungen kurz- und langfristiger Ziele ins Gleichgewicht zu bringen.
Führung ist nichts anderes als dieser tägliche Balanceakt.
Regel 1: Führungskräfte erhöhen ständig das Potenzial ihres Teams. Sie nutzen jede Begegnung, jedes Gespräch für eine Bewertung, zum Coaching und zum Aufbau von Selbstvertrauen.
Als die Boston Red Sox nach einer 86 Jahre währenden Durststrecke die wichtigste Meisterschaft im Baseball, die World Series, gewannen, spekulierten die Medien allseits darüber, warum ausgerechnet 2004 für die Mannschaft ein so erfolgreiches Jahr war. Die abstrusesten Erklärungsversuche kursierten – von der Frisur des Center-Fielders Johnny Damon bis zum Einfluss der Gestirne.
Für die meisten Menschen hatte der grösste Erfolg der Vereinsgeschichte dagegen überhaupt nichts Mysteriöses. Die Red Sox hatten schlicht die besten Spieler. Die Werfer zählten zu den fähigsten der Liga, die Feldspieler waren auch nicht von Pappe, und die Schlagleute … nun, die waren einfach sensationell. Vor allem aber war das ganze Team von einem Siegeswillen beseelt, der fast mit Händen zu greifen war.
Glückliche und unglückliche Spielsituationen gibt es in jeder Saison, aber am Schluss gewinnt fast immer das Team mit den besten Spielern. Daraus folgt – ganz simpel –, dass Sie Ihre Zeit und Energie in erster Linie auf Folgendes konzentrieren sollten:
Mitarbeiterbewertung: Stellen Sie sicher, dass die richtigen Leute am richtigen Platz sind. Konkret: Unterstützen und fördern Sie diejenigen, die die geforderte Leistung bringen; wechseln Sie jene aus, bei denen das nicht so ist.
Coaching: Weisen Sie den Weg, unterstützen Sie Ihre Mannschaft mit konstruktiver Kritik, helfen Sie den Mitarbeitern auf jede erdenkliche Weise dabei, ihre Leistung zu verbessern.
Aufbau von Selbstvertrauen: Drittens schliesslich kommt es darauf an, durch Ermutigung, persönliche Unterstützung sowie Lob und Anerkennung ein Klima des positiven Denkens zu erzeugen. Selbstvertrauen gibt Kraft und verleiht Ihren Mitarbeitern den Mut, sich zu fordern, Risiken einzugehen und Ergebnisse zu erzielen, von denen sie nicht einmal zu träumen gewagt hätten. Selbstvertrauen ist der Treibstoff erfolgreicher Teams.
Leider sind Führungskräfte häufig der Meinung, die Förderung ihrer Mitarbeiter beschränke sich auf die jährlichen Leistungsbeurteilungen. Die Fehleinschätzung könnte gravierender nicht sein! Mitarbeiterförderung sollte tagtäglich stattfinden – als integraler Bestandteil des Routinebetriebs.
Nehmen wir die Budgetkontrollen. Sie eignen sich hervorragend dazu, den Fokus auf die Mitarbeiter zu richten. Jawohl – auf die Mitarbeiter. Natürlich müssen Sie über das Geschäft und seine Ergebnisse reden. Zugleich gibt Ihnen die ganze Veranstaltung aber einen hervorragenden Einblick in die Dynamik im Team. Wenn etwa alle stumm und starr um den Tisch herum sitzen und der Gruppenleiter im Alleingang doziert, signalisiert das ganz klar Coaching-Bedarf. Wenn hingegen alle an der Präsentation beteiligt sind und der Herzschlag des Teams zu hören ist, ist das ein hervorragendes Zeichen. Zögern Sie in diesem Fall nicht, den Beteiligten an Ort und Stelle auf die Schulter zu klopfen. Hat das Team einen echten Star oder eine Niete in seinen Reihen, sollten Sie das Thema hingegen bei nächster Gelegenheit mit dem Teamleiter besprechen.
Kurz gesagt: Es gibt keine Situation, die sich nicht zur Förderung Ihrer Mitarbeiter nutzen liesse. So sind etwa Kundenbesuche gute Gelegenheiten, Ihren Aussendienst zu bewerten. Werksbesichtigungen bieten die Chance, viel versprechende Nachwuchskräfte kennen zu lernen, die möglicherweise für grössere Aufgaben in Frage kommen. Und selbst die Kaffeepause während einer Sitzung gibt Ihnen die Gelegenheit, ein Teammitglied zu bestärken, das seine erste grössere Präsentation vor sich hat. Doch so wichtig derlei Gespräche, Beurteilungen und Coaching-Massnahmen sind, entscheidend ist der Aufbau von Selbstvertrauen, denn darauf kommt es letztlich an. Nutzen Sie jede Möglichkeit, denen, die es verdienen, den Rücken zu stärken. Lob tut gut. Je konkreter, desto besser!
Ganz abgesehen von der immensen Bedeutung für das Team und dessen Leistungsfähigkeit, macht permanente Mitarbeitförderung aber auch einfach Spass. Denn Tag für Tag stehen der Mensch und seine Entwicklung im Mittelpunkt. Dröge, zahlenfixierte Sitzungen gewinnen dadurch ebenso eine neue Qualität wie die Präsentation neuer Geräte bei einem Werksbesuch. Das Bild vom Gärtner – mit der Giesskanne in der einen und Düngemittel in der anderen Hand – ist durchaus passend. Hin und wieder müssen Sie sicherlich auch Unkraut jäten, doch die meiste Zeit über hegen und pflegen Sie mit viel Freude Ihre Pflänzchen.
Und schon bald sehen Sie, wie alles blüht.
Regel 2: Führungskräfte stellen sicher, dass ihre Mitarbeiter die Unternehmensziele nicht nur kennen, sondern verinnerlicht haben und tagtäglich leben.
Es versteht sich von selbst, dass Führungskräfte ihrem Team ein Ziel – eine «Vision» – vorgeben müssen, und in der Regel geschieht das ja auch. Doch mit der Vorgabe allein ist es nicht getan. Als Verantwortlicher sollten Sie auch sicherstellen, dass das Ganze mit Leben erfüllt wird.
Was heisst das konkret? Vor allem: keine Phrasendrescherei. Abstrakte Ziele hören sich vielleicht gut an, sind aber weit weg und daher von Natur aus nebulös. Anders konkrete Ziele im Sinne von Vorgaben: Sie sind klar umrissen und überprüfbar. Ihre Zielvorgaben sollten so griffig sein, dass Ihre Mitarbeiter auf die Frage «Was wollen wir zusammen erreichen?» – selbst aus nächtlichem Tiefschlaf gerissen – die Antwort parat haben. Die könnte etwa lauten: «Wir werden erstens unsere Leistungen für den Einzelhandel verbessern und zweitens aggressiv in das Marktsegment der kleinen Zwischenhändler vorstossen.»
Sehr oft ist zu beobachten, dass die Verantwortlichen an der Unternehmensspitze zwar eine hübsche Vision entwickeln, sich dann aber damit begnügen, sie nur an die Kollegen in der Führungsmannschaft weiterzugeben. Bei den Leuten «an der Front» kommt eine solche Vision in der Regel nicht richtig an. Die Konsequenzen sind allgegenwärtig. Denken Sie nur daran, wie oft Sie in einem Kaufhaus, das sich Kundenorientierung auf die Fahnen geschrieben hat, an einen unfreundlichen Mitarbeiter geraten. Oder Sie brauchen eine Auskunft und wählen eine Hotline, hängen aber nach der freundlichen Begrüssungsansage endlos lange in der Warteschleife – auch das kennt man zur Genüge.
An der Botschaft liegt es selten – sie wurde nur nicht gehört. Gründe dafür gibt es viele. Vielleicht war der Ruf nicht laut genug. Vielleicht ging er in die falsche Richtung. Vielleicht hat es an der Wiederholung – dem nötigen Nachdruck – gefehlt. Vielleicht wurde das Ganze aber auch nicht schmackhaft genug gemacht.
Damit sind wir beim letzten Aspekt von Regel 2. Wenn Sie wollen, dass die Mitarbeiter die Vision wirklich verinnerlichen und danach handeln, sollten Sie für die nötigen Anreize sorgen – per Gehalt, Prämien oder sonstige geeignete Anerkennung. Ein Freund von mir, Chuck Ames, der frühere Chairman und CEO von Reliance Electric, brachte es einmal so auf den Punkt: «Sage mir, wie eine Firma die Mitarbeiter belohnt, und ich sage dir, wie engagiert sie sind.» Die Vision ist ohne Zweifel wesentlicher Bestandteil der Führungsaufgabe. Doch keine visionäre Botschaft ist das Papier wert, auf dem sie geschrieben steht, wenn sie nicht immer wieder vermittelt und mit Belohnungen beziehungsweise Prämien verknüpft wird. Nur so werden den Worten Taten folgen.
Regel 3: Führungskräfte überzeugen im Innern und setzen positive Energie und Optimismus frei.
Sie kennen das alte Sprichwort: «Der Fisch stinkt vom Kopfe her.» Meistens sind damit Organisationen gemeint, in denen sich Korruption und andere Missstände sukzessive von oben nach unten ausbreiten. Doch lässt sich das Sprichwort im Grunde auf jedwede Gruppe anwenden, um den Einfluss einer schlechten Einstellung an der Spitze zu beschreiben – auch auf kleine Teams. Über kurz oder lang sind alle davon infiziert.
Die Haltung des Chefs ist regelrecht ansteckend. Jeder kennt die Dynamik: Ein agiler Manager mit Pep hat über kurz oder lang lauter Mitarbeiter um sich, die ähnlich agil und mit Pep zu Werke gehen wie er selbst. Und umgekehrt gilt, dass der pessimistische Sauertopf auch einer unglücklichen Truppe vorsteht.
Pessimismus ist nicht der beste Erfolgsgarant. Klar, es gibt Momente, in denen man einfach am Boden ist. Wenn etwa die Konjunktur schwach ist oder die Konkurrenz zuschlägt. Das ist manchmal hart. Aber es ist Ihre Aufgabe als Führungskraft, dem Sog des Pessimismus Paroli zu bieten. Das bedeutet nicht, die Herausforderungen herunterzuspielen. Vielmehr geht es darum, sich ihnen mit Mut zu stellen. Und dafür braucht es eine kraftvolle, motivierende Haltung. Vor allem aber heisst es: weg vom Schreibtisch, hin zu den Menschen. Sie müssen sich in jeden Mitarbeiter einfühlen, müssen sich wirklich für seine Aufgaben interessieren, dafür, wie er klarkommt, während alle den Anstieg gemeinsam bewältigen.
Vielleicht denken Sie jetzt: «Na ja, dieses Persönliche – meine Sache ist das eigentlich nicht.» Und vielleicht haben Sie Recht. Nicht jeder kann das. Ich habe genug fähige Manager kennen gelernt, die zu ihren Mitarbeitern auf Distanz blieben. Die Werte, die sie verkörperten – wie Klarheit und Konsequenz –, waren völlig in Ordnung, und sie waren auch durchaus erfolgreich.
Da sie aber nie wirklich einen «Draht» zu ihren Mitarbeitern entwickelten, blieb etwas auf der Strecke – und Arbeit blieb eben Arbeit. Mit der richtigen Einstellung hätte so viel mehr daraus werden können. Lassen Sie sich diese Chance nicht entgehen!
Regel 4: Führungskräfte schaffen Vertrauen durch Offenheit, Transparenz und Fairness.
Für manche Manager ist Chefsein der reinste Egotrip. Sie geniessen die Kontrolle über Mensch und Material. Da wundert es nicht, dass sie geheimniskrämerisch sind, dass sie ungern durchblicken lassen, was sie von Mitarbeitern und ihrer Leistung halten, und dass sie auch ihr Expertenwissen mit niemandem teilen.
Mit solch einem Verhalten kann man natürlich glänzend den Boss hervorkehren. Vertrauen wird sich unter diesen Umständen in der Mannschaft aber nicht einstellen. Was ist Vertrauen eigentlich? Nun, eine formale Definition wäre im Bücherregal schnell gefunden, doch darum geht es mir nicht. Der Punkt ist: Vertrauen ist spürbar, sobald es da ist. Es stellt sich dann ein, wenn Führungskräfte offen und fair sind und Wort halten. So einfach ist das.
Ihre Mitarbeiter sollten etwa immer wissen, wie ihre Leistung bewertet wird. Und sie müssen genau darüber informiert sein, wie es um die Firma steht, selbst wenn die Informationen nicht so erfreulich sind (etwa bei anstehendem Stellenabbau). Der erste Impuls mag sein, sich vor negativen Botschaften zu drücken oder die Härten herunterzuspielen. Hüten Sie sich davor! Es würde Sie das Vertrauen und die Leistungsbereitschaft Ihres Teams kosten.
Vertrauen ergibt sich ferner aus dem gelebten Grundsatz «Anerkennung, wem Anerkennung gebührt». Gute Chefs gehen fair mit ihren Mitarbeitern um. Gute Chefs klauen nicht die Ideen ihrer Mitarbeiter und geben sie als ihre eigenen aus. Gute Chefs buckeln nicht nach oben und treten nach unten. Als selbstbewusste und reife Persönlichkeiten haben sie all das schlicht nicht nötig, zumal sie begriffen haben, dass ihr eigener Erfolg sich an dem des Teams bemisst und der Teamerfolg ihnen Anerkennung bringt – eher früher als später. Für Misserfolge übernehmen sie bereitwillig selbst die Verantwortung, und im Erfolgsfall verteilen sie grosszügig Lob an die Mitarbeiter.
Auch Führungskräfte sind sicherlich nicht frei von dem Bedürfnis, den eigenen Beitrag gewürdigt zu sehen. Wenn das Team tolle Ergebnisse erzielt, ist es ja nur normal, dass man selbst auch ein wenig Lob abbekommen will. Schliesslich ist man ja der Chef – und in gewisser Weise Herr über die Lohntüten! Deshalb hören die Mitarbeiter ja auch auf jedes Wort, das man fallen lässt (oder tun zumindest so), und lachen über jeden Witz, den man zum Besten gibt (oder tun zumindest so). In manchen Unternehmen steht den Führungskräften ein eigener Parkplatz zu, und Geschäftsreisen erster Klasse sind schliesslich auch nicht zu verachten. Wer nicht aufpasst, dem kann das alles leicht zu Kopf steigen, so dass er sich für ziemlich wichtig hält. Hüten Sie sich davor, abzuheben.
Denken Sie daran, dass Sie keine Krone aufgesetzt bekamen, als man Sie zum Chef ernannte. Sie bekamen vielmehr die Verantwortung dafür, aus anderen das Beste herauszuholen. Das gelingt nur, wenn die Mitarbeiter Ihnen vertrauen. Und das werden sie auch – wenn Sie offen, fair und authentisch bleiben.
Regel 5: Führungskräfte haben den Mut zu unpopulären Massnahmen und Bauchentscheidungen.
Manche Menschen sind von Natur aus konsensorientiert. Manche Menschen wollen partout jedermanns Darling sein. Als Führungskraft können Ihnen solche Veranlagungen ganz schön in die Quere kommen, denn als Chef haben Sie mitunter harte Entscheidungen zu treffen – Entlassungen, Projekteinstellungen, Werksschliessungen und dergleichen mehr.
Harte Entscheidungen rufen bekanntlich Klagen und Widerstand hervor. Ihre Aufgabe ist es, zuzuhören, Ihre Entscheidung unmissverständlich darzulegen, aber auch den eingeschlagenen Weg weiterzugehen. Lassen Sie sich nicht aufhalten, lassen Sie sich nicht beschwatzen.
Sie sind nicht Chef geworden, um die Beliebtheitsskala anzuführen – Sie sind Führungskraft, um zu führen. Sie brauchen sich nicht erst um den Posten zu bewerben – Sie haben ihn schon!
Manchmal sind Entscheidungen aber nicht deshalb schwierig, weil sie unpopulär sind, sondern weil sie gefühlsmässig gefällt werden müssen. Das sind Bauchentscheidungen jenseits sachlicher Begründungszusammenhänge.
Über das Phänomen Bauchentscheidungen wurde schon viel geschrieben, aber eigentlich geht es doch wohl schlicht um ein Wiedererkennen von Strukturen, oder? Man hat etwas schon so häufig gesehen, dass man einfach weiss, was los ist. Trotz unvollständigen Informationen oder eingeschränktem Datenmaterial kommt einem das Ganze irgendwie sehr bekannt vor.
Führungskräfte müssen ständig Bauchentscheidungen treffen. Nehmen wir beispielsweise an, Sie haben ein Angebot zur Investition in einen neuen Bürokomplex vorliegen. Als Sie die Stadt besuchen, sehen Sie Kran an Kran, so weit das Auge reicht. Auf dem Papier scheint es ein recht lukratives Geschäft zu sein, doch hier vor Ort haben Sie plötzlich ein anderes, durchaus bekanntes Gefühl. Denn das alles «riecht» unverkennbar nach Überkapazität, weshalb von dem «lukrativen» Geschäft am Ende sehr wahrscheinlich nicht viel übrig bleiben wird. Beweisen lässt sich das natürlich nicht, doch Ihr Gefühl sagt Ihnen: «Finger weg!»
Sie werden das Geschäft folglich platzen lassen, auch auf die Gefahr hin, dass Sie sich damit keine Freunde machen.
Die schwierigsten Bauchentscheidungen betreffen unter anderem die Einstellungen. Sie führen ein Gespräch mit einem Bewerber, der eigentlich alles mitbringt. Sein Lebenslauf ist perfekt: erstklassige Ausbildung, viel Erfahrung. Auch im Vorstellungsgespräch macht er eine gute Figur: fester Händedruck, guter Augenkontakt, intelligente Fragen und so weiter. Doch irgendwas stört Sie. Vielleicht ist er zu viel herumgekommen, ohne dass Sie seine Erklärung für die vielen Stationen in so kurzer Zeit überzeugt. Oder Sie finden ihn in seiner Art etwas zu hektisch. Oder eines seiner Zeugnisse hat einen verdächtigen Unterton, der bei Ihnen die Warnlampen angehen lässt. Jedenfalls haben Sie wieder dieses «Finger weg!»-Gefühl bei der Sache. Lassen Sie den Mann ziehen.
Sie wurden in eine Führungsposition berufen, eben weil Sie viel Erfahrung und ein bewährtes Urteilsvermögen haben. Hören Sie auf Ihren Bauch. Er spricht zu Ihnen.
Regel 6: Führungskräfte hinterfragen und insistieren mit einer Penetranz, die an Misstrauen grenzt – denn es kommt ihnen darauf an, dass ihren Fragen Taten folgen.
Beim einzelnen Mitarbeiter dreht sich alles um sein Wissen. Er muss die richtigen Antworten parat haben, wenn er als Fachmann, als der Beste auf seinem Gebiet gelten will. Der Experte glänzt mit seinen Kenntnissen.
Ganz anders die Führungskraft. Ihre Spezialität ist das Fragen. Sie muss Experte darin sein, den Dümmsten in der Runde zu spielen. Ob über eine Entscheidung, einen Vorschlag oder eine Marktinformation diskutiert wird, stets geht es ihr darum, ein «Was wäre, wenn …?», ein «Warum nicht?» und ein «Wie kommt’s?» einzuwerfen.
Als ich 1963 meine Managerlaufbahn begann, leitete ich ein junges Unternehmen mit einem Produkt, das über eine grosse Aussendienstmannschaft vertrieben wurde. Mir wurde schnell klar, dass jeder da draussen eigentlich tat, was er wollte. Also nahm ich die Vertreterberichte, die nach jedem Kundenbesuch vorzulegen waren, mit nach Hause und ackerte sie übers Wochenende durch – kistenweise. Montags machte ich mich dann mit einer Runde von Telefonaten unbeliebt, weil ich von den einzelnen Vertretern oder dem Werksleiter all das erklärt haben wollte, was mir an den Berichten problematisch vorkam. Warum zum Beispiel ein Kunde Mengenrabatte bekam, obwohl er nur kleine Chargen orderte. Oder warum ein anderer Kunde schlechte Ware erhielt.
Die Massnahme wirkte. Die Aussendienstmitarbeiter widmeten unserem Produkt fortan endlich die nötige Aufmerksamkeit, und ich profitierte von einem besseren Verständnis der Vertriebswege.
Mit dem Fragen allein ist es allerdings nicht getan. Sie müssen sicherstellen, dass Ihre Fragen als Anstoss wirken und die thematisierten Probleme anschliessend in Angriff genommen werden. Denn eines ist klar: Nur weil Sie der Chef sind, wird das, was Sie sagen, noch lange nicht umgesetzt.
Wenn Sie nicht sicherstellen, dass Ihre Fragen und Vorschläge ernst genommen und mit Taten beantwortet werden, können Sie sich die Mühe gleich sparen – denn Fragen an sich ist nicht Führen. Ich weiss natürlich, dass das Bohren und Nachhaken meist nicht sonderlich gut ankommt. Das ist verständlich. Wer lässt sich eine schöne Präsentation oder ein Produkt, in dem Herzblut steckt, gern vom Chef zerpflücken?
Doch genau das ist Ihr Job. Denn Sie wollen ja grössere und bessere Lösungen. Dazu bedarf es kritischer Fragen, gesunder, kontroverser Diskussionen, der Entscheidungen – gefolgt von entschlossenem Handeln.
Regel 7: Führungskräfte fördern die Risiko- und Lernbereitschaft, indem sie mit gutem Beispiel vorangehen.
Erfolgreiche Unternehmen setzen auf Risiko- und Lernbereitschaft. In Wirklichkeit bleibt es allerdings oft bei Lippenbekenntnissen. Zwar drängen viele Führungskräfte ihre Mitarbeiter, neue Wege zu gehen und ruhig mal etwas zu wagen, doch wenn es schief geht, heisst es «Kopf ab». Und wahr ist auch, dass allzu viele Verantwortliche in ihrer eigenen Welt leben. Neues hat da im Grunde keine Chance, nach dem Motto: «Stammt nicht von uns, kann nicht gut sein.»
Wenn Sie wirklich wollen, dass Ihre Leute experimentieren und ihren Horizont erweitern, müssen Sie mit gutem Beispiel vorangehen. Nehmen wir die Risikobereitschaft. Sie können eine entsprechende Unternehmenskultur etablieren, indem Sie sich offen zu eigenen Fehlern bekennen und gleichzeitig klar machen, was Sie daraus gelernt haben.
Ich weiss nicht, wie oft ich schon von meinem ersten grossen Fehler als Manager erzählt habe. Fehler ist allerdings stark untertrieben – es war ein gigantischer Bockmist! Damals, 1963, liess ich in Pittsfield, Massachusetts, eine Versuchsanlage in die Luft gehen. Ich sass in meinem Büro auf der anderen Strassenseite, als es krachte. Ein Funke hatte einen Riesentank, der eine feuergefährliche Lösung enthielt, zur Explosion gebracht. Dachschindeln flogen durch die Luft, Glassplitter überall, Rauchschwaden legten sich über die ganze Gegend. Zum Glück wurde niemand verletzt.
Ich erwartete, dass von den Vorgesetzten ein Donnerwetter sondergleichen folgte. Doch nichts dergleichen geschah – trotz meinem horrenden Fehler. Meinem Boss, einem ehemaligen MIT-Professor namens Charlie Reed, ging es stattdessen um nüchterne Ursachenforschung, die er auch noch auf äusserst einfühlsame Weise betrieb. Vorbildlich! Mich lehrte das nicht nur, wie man Fertigungsprozesse optimiert, sondern auch, wie man mit Menschen umgeht, die am Boden zerstört sind.
Das war gewiss nicht der einzige Fehler meines Managerlebens, es gab einige weitere, um ehrlich zu sein. Ich nenne nur zwei: den Kauf der Investment-Bank Kidder Peabody – in Sachen Unternehmenskulturen ein Desaster. Und auch bei Einstellungen habe ich mich ganz schön häufig vertan.
Diese Erfahrungen waren bestimmt nicht sonderlich angenehm, doch ich habe nie ein Hehl aus ihnen gemacht. Ich wollte vielmehr offen darüber reden, um zu zeigen, dass Patzer verzeihlich sein können, sofern man aus ihnen lernt.
Predigen Sie nicht, und seien Sie nicht allzu finster. Reden Sie von Ihren eigenen Fehlern am besten so locker und humorvoll, wie es nur geht. Denn Sie wollen den Leuten das Gefühl geben, dass Fehler einen nicht gleich den Kopf kosten.
Auch für das Lernen gilt: vorleben! Nur weil Sie der Boss sind, sind Sie nicht der Hort allen Wissens. Wenn ich bei einem anderen Unternehmen etwas Vorbildliches entdeckte, war mir das immer Anlass, bei General Electric die Trommel zu rühren und den eigenen Leuten kräftig Dampf zu machen. Mag sein, dass ich manchmal etwas übertrieb, aber ich wollte einfach, dass die Mitarbeiter spürten, wie sehr ich von einer neuen Idee begeistert war. Und das war ich auch!
Jeder kann – und sollte – von anderen lernen. Das sagte ich auch jenem Manager, der mich auf einer Veranstaltung in Chicago fragte, ob und wie er Untergebene, die ihm überlegen sind, beurteilen könne. Meine Antwort war: «Lernen Sie von ihnen. Im Idealfall sind sogar alle Ihre Mitarbeiter besser als Sie selbst. Das heisst mitnichten, dass Sie sie nicht führen können.»
Kein Befehl der Welt vermag Menschen risiko- oder lernbereit zu machen. In vielen Fällen allerdings liegt der Mangel schlicht daran, dass die Leute nicht erkennen können, warum es sich für sie lohnen soll.
Wenn Sie das ändern wollen, müssen Sie mit gutem Beispiel vorangehen. Sie werden überrascht sein, wie lebendig und spannend das ist und was sich alles erreichen lässt – und genauso begeistert wird auch Ihr Team sein.
Regel 8: Führungskräfte verstehen es, Erfolge gebührend im Team zu feiern.
Warum eigentlich ist bei Managern das Feiern von Erfolgen so wenig beliebt? Vielleicht weil es als unprofessionell gilt, im Büro die Tassen tanzen zu lassen – oder weil sie Angst haben, dass es ihrem Ansehen schadet, oder weil sie befürchten, dass der Spass überhand nimmt und die Leute das Arbeiten vergessen.
Wie auch immer die Gründe lauten mögen – in den Büros und Abteilungen wird viel zu wenig gefeiert. Bei meinen Seminaren und Vorträgen frage ich die Teilnehmer immer gern, ob sie in letzter Zeit etwas getan haben, um die Leistungen ihrer Teams – ob gross oder klein – gebührend in den Mittelpunkt zu rücken. Dabei meine ich nicht die steifen, von oben verordneten Betriebsfeiern, die jeder hasst, etwa wenn die ganze Mannschaft zu einer pseudofröhlichen Veranstaltung in ein Restaurant verfrachtet wird, obwohl alle viel lieber daheim wären. Ich denke eher an so etwas wie einen Tagesausflug in einen Freizeitpark, und zwar für das ganze Team samt Kind und Kegel. Oder Sie spendieren jedem Teammitglied zwei Eintrittskarten für ein Musical oder einen MP3-Player oder etwas in der Art.
Doch auf meine Frage «Feiern Sie denn auch genug?» fallen die Antworten in der Regel sehr dürftig aus.
Bei General Electric war das allerdings nicht viel anders. Ich habe zwanzig Jahre lang versucht, die Bedeutung von Feiern zu vermitteln. Doch als ich während meines letzten Besuchs als CEO in unserem Trainingszentrum in Crotonville den rund hundert Managern meine Standardfrage «Feiern Sie in Ihren Abteilungen denn auch genug?» stellte, war die Reaktion immer noch nicht das, was ich mir gewünscht hätte. Zwar wusste jeder, was ich hören wollte, doch nicht einmal die Hälfte der Anwesenden bekannte sich zu einem Ja.
So viele verpasste Gelegenheiten! Eine kleine Feier aus gegebenem Anlass sorgt dafür, dass Ihre Mitarbeiter das Gefühl haben, erfolgreich zu sein. Sie unterstreicht Ihre Anerkennung und verleiht zusätzlichen Schwung. Stellen Sie sich doch einmal die absurde Situation vor, eine Mannschaft gewinnt den Weltcup und es knallen keine Sektkorken! Warum eigentlich soll es bei erfolgreichen Unternehmen anders sein? Warum soll man Erfolgsmomente verstreichen lassen, ohne sich – um in der Sprache des Sports zu bleiben – wenigstens richtig abzuklatschen?
Die Arbeit ist ein zu grosser Teil unseres Lebens, als dass wir Erfolgsmomente einfach links liegen lassen dürften. Kosten Sie diese Augenblicke aus und geniessen Sie sie ordentlich. Denn wenn Sie es nicht tun, wer dann?
Es gibt leider keine einfache Formel, die Führungskräften den Erfolg garantiert. Schön wär’s! Führung ist pure Herausforderung – ein endloser Balanceakt, Verantwortung, Druck.
Dennoch gibt es viele Beispiele – und zwar in allen Schattierungen –, die zeigen, dass es geht. Es gibt ruhige Chefs und polternde, nüchterne und impulsive, harte Hunde und verständnisvolle Vaterfiguren. Oberflächlich gesehen, wäre es ziemlich schwierig, gemeinsame Qualitäten auszumachen.
Gräbt man aber tiefer, wird man zweifellos feststellen, dass die Besten sich leidenschaftlich um ihre Mitarbeiter – deren Entwicklung und Erfolg – bemühen. Und noch etwas fiele auf, nämlich dass sie sich in ihrer Haut wohl fühlen. Sie sind authentisch, strahlen Optimismus aus und beeindrucken durch Offenheit, Integrität und Menschlichkeit.
Ich werde oft gefragt, ob gute Führungskräfte eigentlich geboren oder gemacht werden. Die Antwort lautet natürlich: beides. Eine gewisse Intelligenz muss man sicherlich mitbringen, und ohne die nötige Tatkraft geht es auch nicht. Andererseits erwirbt man manche Führungsqualitäten, wie Selbstvertrauen und selbstsicheres Auftreten, im Zuge des Heranwachsens, in der Schule, im Studium oder im Sport. Wieder andere Fähigkeiten lassen sich aus der Erfahrung in der beruflichen Praxis gewinnen – sei es, indem man aus Fehlern lernt, sei es, dass man durch Erfolg bestätigt wird, Selbstvertrauen gewinnt und sich zu immer besseren Leistungen anspornt.
Nicht selten steht das Führungsthema eines schönen Tages wie ein grosses Fragezeichen im Raum: Man wird Chef, und auf einen Schlag ist alles anders.
Bis dahin hatten Sie es in erster Linie mit sich selbst zu tun.
Nun geht es um andere.
In Teil II des Vorabdrucks aus Jack Welchs Buch «Winning» bringt die BILANZ das Kapitel «Krisenmanagement».
Das Buch
Jack Welch, Suzy Welch: Winning. Das ist Management
Aus dem Englischen von Herbert Allgeier et al., Campus Verlag,
Frankfurt a.M.,400 Seiten, Fr. 43.70
Das neuste Buch von Jack Welch ist seit dem 19. Mai auf Deutsch im Buchhandel erhältlich.