Die Einsicht ist alt – und gleichzeitig hochaktuell: Schon in der Gründerzeit des Automobils erkannte man, dass ein Auto mit kleinem Luftwiderstand schneller fahren kann als ein kantiges. Im Motorsport setzten sich aerodynamische Formen entsprechend rasch durch. Heute steht das Thema nach wie vor ganz oben im Pflichtenheft der Ingenieure, das Ziel ist indes ein anderes: Aerodynamik ist ein effizientes Mittel, den Treibstoffverbrauch eines Autos zu senken. Mithin gehört Aerodynamik längst zum Repertoire jedes Fahrzeugherstellers.
Viele Erbauer von Stromlinienautos trachteten früher danach, die schwache Motorleistung ihrer Fahrzeuge mit aerodynamischen Mitteln auszugleichen. Es waren kreative Ingenieure, oft auch begeisterte, manchmal besessene Tüftler. Entsprechend visionär sahen ihre Fahrzeuge aus. Der Windkanal war zunächst noch unbekannt, auch der Ground Effect (Abtrieb) stand noch vor seiner Entdeckung. «Learning by doing» lautete die Devise, und mancher Testfahrer bezahlte die Experimentierfreude mit dem Leben.
Jenseits der Physik
Aerodynamik führte so direkt in die Zukunft, und das zu einer Zeit, als gängige Autos noch aussahen wie verchromte Backsteine. Doch es ist gerade der künstlerische Aspekt früher Stromlinienwagen, der ihren Reiz ausmacht. «Man kann sagen, dass die Stromlinie beim Automobil mehr ist als eine Karosserieform», teilt uns der erfahrene Motorjournalist Malte Jürgens mit: «Neben Design und Ästhetik besteht auch eine gesellschaftliche Bedeutung, weil man die Stromlinie damals auf fast alle technischen Produkte angewendet hat. Ich versuchte, im Buch alle diese Aspekte aufzugreifen und damit über die reine Physik der Stromlinie hinauszugehen.»
Malte Jürgens ist der Autor des kürzlich erschienenen Buchs «Stromlinie». Ein gelungenes Werk: Kompetente Texte erläutern die 25 ausgewählten Fahrzeuge, geben deren wesentliche Eigenschaften wieder. Es werden auch technische Daten geliefert – aber gottlob nur die allerwichtigsten. Die gezeigten Autos stammen aus verschiedenen Epochen: Das älteste ist ein Grade 4/16 PS, Jahrgang 1922, das jüngste der Mercedes-Rekordwagen C111/III von 1977. Anhand der langen Zeitspanne lässt sich die aerodynamische Entwicklung gut nachvollziehen. Der Leser bekommt ein Gefühl für die technischen Anstrengungen und Erkenntnisse, und darum geht es hier.
Man könnte dem Buch «Stromlinie» vorwerfen, einige wichtige Vertreter wie den ab 1921 in Kleinserie gebauten Rumpler-Tropfenwagen ausgelassen zu haben, doch gab es seinerzeit so viele parallel laufende Versuche, dass es dann eine Enzyklopädie hätte werden müssen.
Schmuckstück
So ist es ein schöner Schmöker für lange Winterabende geworden, aus dem selbst versierte Autokenner noch etwas lernen können. Und sie werden vielleicht von Autos überrascht, mit denen sie in diesem Kontext gar nicht gerechnet hätten. Schon das in elegantem Schwarz gehaltene Cover mit der Silhouette des Rennwagens Veritas Meteor Avus Stromlinie aus dem Jahr 1952 ist ein Hingucker. Doch allzu oft wird man diesem Buch nicht begegnen: Gerade mal 1000 Exemplare wurden gedruckt, sie sind handnummeriert und kosten 420 Franken. Für uns zählt es dennoch (oder gerade deswegen) zu den herausragenden Autotiteln der Saison. Denn das über 300 Seiten starke Werk, das auf einer Ausstellung des Hamburger Automuseums Prototyp basiert, ist das Ergebnis von drei Jahren Arbeit. Es kann sich sehen lassen und bereichert jede Privatbibliothek um ein lesenswertes Stück Fahrzeuggeschichte.
Zu den Besonderheiten des Werkes zählt die Arbeit der beiden Schweizer Fotografen Urs Schmid und Michel Zumbrunn, die sich die Mühe gemacht haben, alle Fahrzeuge handwerklich perfekt und homogen abzulichten – in der routinierten Handschrift Zumbrunns, also vor schwarzem Hintergrund. Das Layout von Wolfgang Seidl rundet die hochwertige Darbietung ab. Der Aufwand der Akteure schlägt sich freilich auch im Preis nieder. Doch bei «Stromlinie» ist es wie mit jedem erlesenen Automobil: Billiger dürfte dieser Fachtitel kaum werden.
Malte Jürgens
Stromlinie
324 Seiten, 180 Fotografien von Michel Zumbrunn und Urs Schmid
Format 34 × 24 cm, gebunden, im Schmuckschuber
ISBN 978-3-613-03122-7, 420 Franken