So ganz genau weiss derzeit noch niemand, wann der Salon des Parfums von Cartier seine ersten Besucher empfangen kann. «Mitte November» lautet einstweilen die präziseste Antwort. Aber wenn es dann so weit sein wird an der Pariser Rue de la Paix Nummer 13 – der Cartier-Adresse seit 1898 zwischen Place Vendôme und Oper –, dann wird der Salon entschlossen jene grosse Belle-Epoque-Tradition äussersten Raffinements wiederaufnehmen, die unauslöschlich mit Paris verbunden ist.
Insofern wird die Welt eine heimliche Renaissance erfahren, wenn Matilde Laurent im Salon das erste auslotende Gespräch führen wird mit jemandem auf der Suche nach ihrem (oder seinem) auf den Leib komponierten olfaktorischen Ausdruck. Matilde Laurent, eine Persönlichkeit mit Charakter, viel Ausstrahlung und bemerkenswerter Formulierungsgabe, erklärt es so: «Ein Parfum ‹sur mesure› transportiert eine Persönlichkeit, eine Geschichte, die Geschichte der Person, ihrer Kindheit, die Geschichte der Länder, in denen sie gelebt hat, oder womöglich auch eine Geschichte ihrer Liebesbeziehungen. Das fliesst alles ein. Es ist also unbedingt ein ganz persönliches Parfum.»
Ob «super rich» oder «very wealthy»: Niemand kommt um den Besuch der Rue de la Paix herum. Aus einfachem Grund: Matilde kann ihren Salon mitsamt der ganzen Palette an Riechstoffen, «Orgel» genannt, schlecht mitnehmen. Denn der Salon ist eben nur bedingt ein Salon. Er ist in erster Linie ein unerlässliches Arbeitsinstrument mit einer neutral konzipierten, gut durchlüfteten Atmosphäre und einer Einrichtung, welche die Sinnesorgane nicht ablenkt. Dazu gehört auch, dass immer blind getestet wird. So kann Matilde sich ganz auf ihr Visavis konzentrieren. Alle, die den Wunsch nach einem für die eigene Haut komponierten Parfum verspüren, müssen also nicht nur zu einer Reise nach Paris bereit sein, sie sollten auch noch möglichst beizeiten einen Termin vereinbaren.
Wie weit und wie intensiv die Mitarbeit bei der Kreation des eigenen Duftes geht, bestimmt dann jeder selbst. Diese Freiheit ist Matilde Laurent wichtig. Wer dem Hause Cartier und dessen reicher Tradition der Spezial- und Sonderanfertigungen uneingeschränkt vertraut, wird zügig zu seinem persönlichen Parfum kommen. Dafür reicht das Grundsatzgespräch. Alles Weitere übernimmt Cartier, seit über 100 Jahren gewissermassen darauf dressiert, die besonderen Wünsche der Kunden wirklich zu begreifen – deren Leben mit dem Parfum, deren Vorstellung von einem Parfum, deren Geschmack. Präzise Fragen, genaues Zuhören, um eine genaue Vorstellung vom Geschmack zu finden, und wirkliches Verstehen führen sehr schnell zu einem beeindruckenden Ergebnis.
Wer hingegen die nötige Ruhe und Geduld mitbringt, um das gültige Parfum fürs Leben zu finden, muss sich selbst nach der zehnten Besprechung nicht genieren, den Wunsch nach einer weiteren Variante zu artikulieren. Kleiner Trost: Nach dem Erstbesuch in Paris sind alle Folgegespräche auch ausserhalb des Hauses Cartier möglich. Und notfalls kann man sich den letzten Stand zusenden lassen und telefonisch das weitere Vorgehen besprechen.
Zum Gedankenaustausch mit der Klientel gehört, sie an den Basisessenzen schnuppern zu lassen, die dem entsprechen, was in ihrer Erinnerung als olfaktorisches Erlebnis haften geblieben ist. Das wird alles festgehalten in einer Besprechungsnotiz. Im zweiten und dritten Gespräch stellt Matilde dann die komponierten Akkorde vor, welche die am intensivsten wahrgenommenen Düfte aufnehmen. Je nach den gewählten Akkorden geht es in den weiteren Etappen an die Affinage, die Feinabstimmung.
Nach etwa zehn Sitzungen, so die Vorstellung der Kreateurin, sollte man wirklich bei einem persönlichen Parfum in gültiger Form angelangt sein. Das Schöne daran: Es gibt keinen Zeitdruck. Vom Massnehmen bis zur Übergabe der Flacons kann so ohne weiteres ein Jahr verstreichen. Möglicherweise aber auch nur zwei oder sechs Monate.
Zehn Sitzungen sind wohl nur dann erforderlich, wenn das Parfum wirklich bis zur letzten Nuance ausgetüftelt werden soll und wenn die Bereitschaft vorhanden ist, wirklich intensiv mit Matilde zusammenzuarbeiten. Nicht jeder hat freilich von Luxus eine Vorstellung, die doch bedenklich nahe an Arbeit grenzt. Wenn es reicht, nur die ersten Akkorde selber zu bestimmen, läuft das Ganze in drei bis vier Sitzungen ab.
Konzentration, starke Präsenz, ein hervorragendes Gedächtnis und die Fähigkeit, Sinneseindrücke in Worte zu kleiden, sind die Schlüsselqualitäten jedes schöpferischen Parfümeurs. Vertreter dieses Berufsstands werden auf Grund ihres wichtigsten Arbeitsinstrumentes oftmals kurz und bündig «Nase» genannt. Weltweit gibt es nicht mehr als 250 von ihnen. Auf der anderen Seite hat ein Parfümeur selten Gelegenheit, olfaktorisch individuell Mass zu nehmen beim Kunden. Das ist eine ebenso spannende wie anspruchsvolle Aufgabe, auf die sich Matilde Laurent, wie sie sagt, «mit Angst und Ungeduld» stürzt. Angst, weil sie sich auf unerforschtes Terrain begibt. Ungeduld, weil für jeden Parfümeur der auf den Leib komponierte Duft die grosse Erfüllung ist.
Auf diese neue Aufgabe ist die geborene Pariserin bestens vorbereitet. Sie hat die Fähigkeit, ihr Visavis umfassend wahrzunehmen. Und dank der harten Schule, die sie bei Jean-Paul Guerlain absolviert hat, ist sie es gewohnt, mit Menschen aller Schwierigkeitsgrade zurechtzukommen. Zehn Jahre lang arbeitete sie Seite an Seite mit dem grossen, leicht exzentrischen Parfümeur. Wer durch Guerlains Schule gegangen ist, kennt sich bestens aus bei den harmonischen Akkorden und floralen Noten der grossen französischen Parfümerie. Es ist eine Erziehung zur Klassik.
Bei Matilde Laurent paart sich die intime Kenntnis der Klassik mit einer grossen Bereitschaft, der Parfümerie die moderne Welt zu erschliessen und eine olfaktorische Vorstellung von Grossstadt, von Luft und Erde, von fernen Ländern und grenzenloser Mobilität zu vermitteln.
Das trifft sich wunderbar. Wer zu ihr findet, kann damit rechnen, dass sie die Erinnerungen an den Mähdrescher des Grossvaters ebenso wieder aufleben lässt wie etwa den Geruch einer ledernen Hundeleine, des Stadtparks im Frühjahr und frisch gegossenen Asphalts. Sofern dies gewünscht wird. Ins persönliche Parfum fliessen eben unweigerlich Erinnerungen an gelebte und geliebte Düfte ein – zum Beispiel Assoziationen mit den eigenen Kindern, die Neigung zu Lakritze, sensuelle Erlebnisse aller Art. Gerüche wecken Erinnerungen und stimulieren das Gemüt.
Die Akkorde der Erinnerung zu finden, ist alles andere als ein intuitives Herumschnuppern. Es ist eine stark kopflastige Arbeit. Jede Note will in Worten beschrieben sein. Parfümeure beherrschen eine reiche Sprache und können sie – halb Künstler, halb Naturwissenschaftler – so übersetzen, dass die Nase versteht, was die Wörter bedeuten.
«Ein Parfum entsteht im Kopf», erklärt Matilde Laurent ihre schöpferische Arbeit: «Der Parfümeur arbeitet häufig mit einem Blatt Papier, denkt nach und notiert die olfaktorischen Noten und deren Menge, die er verwendet. In dieser Phase riecht er sehr wenig. In der Phase des Ausarbeitens findet auch keine Olfaktion statt, sondern erst dann, wenn die gültige Formel komponiert ist. Erst dann, sozusagen am Schluss, geht man hin und wählt die Essenzen für das im Kopf kreierte Parfum aus.» Danach folgen gemeinsame Besprechungen anhand der Proben – und über Modifikationen. Es ist ein geduldiges Herantasten an die finale Formel, das endgültige Parfum fürs Leben.
Als konzentrierte Erinnerung an Kindheit, Jugend und schöne Erlebnisse wird das Parfum nach Mass zum kostbaren Begleiter. Mehr noch: Es wird zum vollendeten Ausdruck seines Trägers und stärkt dessen Seele. Wer sich olfaktorisch gefunden hat, hat damit auch ein Stück näher zu sich selbst gefunden und ist ein sichererer Mensch. Er verführt nicht mit einem konfektionierten, letztlich geliehenen Duft, sondern absolut authentisch mit dem, was man sich selber in möglicherweise zehn intensiven Gesprächen erarbeitet hat. Also die authentischste und damit ehrlichste Botschaft der Verführung. Eine Botschaft, die an die Sinne appelliert – schliesslich sind die Sinne stärker als der Verstand.
Dafür am Ende einen fünfstelligen Euro-Check im mittleren Bereich zu schreiben, ist für Parfum-Passionierte mehr als ein persönliches Bedürfnis. Es ist eine kulturelle Pflicht.
Auf mehr als eine Hand voll Passionierte richtet man sich an der Rue de la Paix einstweilen nicht ein. 10 bis 15 pro Jahr wären schon ziemlich viele, die sich auf das Abenteuer eines eigenen Parfums einliessen. Einschliesslich derer, die das Spiel auch andersherum spielen und für jemand anders ein Parfum komponieren lassen, das sie selbst verführt: ein beliebtes Damengeschenk für Männer, die gerne gut ankommen wollen, aber nicht so richtig wissen, wie.
Auch beim Parfum für den abwesenden Begleiter hilft Matilde mit ihrem reichen Savoir-faire gerne weiter: «Man braucht viele Informationen darüber, was der Partner mag, welche Weine, welche Reisen er bevorzugt. Es ist eine Führung durch das Universum einer Person, die sicher eine gewisse geistige Konzentration verlangt. Es gibt viele Männer, die glücklich sind über ein Parfum, das ihrer Frau gefällt, und wenn jemand nicht ultrakompliziert ist, kann man ohne weiteres ein Parfum in absentia kreieren. Man muss einfach die Ansprüche kennen.»
Wie auch immer: Am Ende steht das Parfum «sur mesure» fürs Leben. Komponiert aus Essenzen allererster Qualität. «Heutzutage leider keine Selbstverständlichkeit mehr», wie uns Matilde verrät. «Derzeit leidet die Qualität etwas.»