Joe Li plant gerne im Voraus: Der Chinese wird bald Vater, seine Frau Vivian ist schwanger. «Wir freuen uns sehr», sagt er und tätschelt seiner Frau den Bauch. Sein Kind soll einmal im Ausland studieren, in Grossbritannien oder in den USA. «Dann muss es ja irgendwo wohnen», sagt der 43-Jährige. Also sucht er schon jetzt nach einer Bleibe, in der sein Kind während des Studiums im Ausland wohnen kann – im Grossraum London.
«Das ist zugleich eine gute Absicherung gegen die Inflation», sagt der Chinese, «Wohneigentum in London verliert nicht an Wert.» In Shanghai ist das nicht unbedingt gesagt: Die Immobilienpreise in der 24-Millionen-Metropole an der chinesischen Ostküste steigen derzeit zweistellig – trotz der Bemühungen der Regierung, den Markt zu regulieren und einen Einbruch zu verhindern. Die Angst steigt, dass die Blase platzt.
«Der Markt ist überhitzt, es ist wie in Tokio Anfang der 90er-Jahre», sagt Joe Li. Er arbeitet als Vertriebsdirektor für ein Biotech-Unternehmen in Shanghai. Zuvor hat er knapp 15 Jahre an der US-Ostküste gelebt. «Eine Wohnung hier in Shanghai kostet dreimal so viel wie in den USA», sagt er, «und dafür bekommt man keine gute Qualität.»
Glitzernder Yachthafen
Hinzu kommt: Wer in Shanghai kauft, erwirbt zwar Immobilien, nicht aber das Grundstück, auf dem die Gebäude stehen. Das bleibt Eigentum des Staates, alle Kaufverträge laufen deshalb nur 70 Jahre. «Was danach kommt, weiss niemand», sagt Joe Li. Das ist für ihn Grund genug, sich im Ausland nach Immobilien umzuschauen, vorzugsweise in Grossbritannien. «Die Verhältnisse dort sind stabil, das ist attraktiv», sagt er.
So wie Joe Li denken an diesem Nachmittag noch andere. Der Konferenzraum im «Langham», einem Luxushotel im Shanghaier Vergnügungsviertel Xintiandi, ist voller Chinesen, die sich für Wohnungen in Kent, ganz in der Nähe der britischen Hauptstadt, interessieren. Ein Modell zeigt glitzernde Apartment-Türme direkt am Yachthafen, an den Wänden hängen Grundrisszeichnungen und Listen mit Quadratmeterpreisen.
Die Zwei-bis Dreizimmerwohnungen sollen bis zu 250’000 Pfund kosten, das sind etwa 360’000 Franken. Für Shanghaier Verhältnisse sind das Schnäppchen: Wer dort 360’000 Franken investiert, wohnt in einem zugigen, schäbigen Hochhaus ohne Isolierung und Heizung, viele Kilometer vom Stadtzentrum entfernt.
Interessante Anlagemöglichkeit
Die Anlage in Kent dagegen liegt an der Eurostar-Station, die Fahrzeit nach St. Pancras beträgt nur 17 Minuten. Angesichts der steigenden Immobilienpreise in London – knapp zehn Prozent betrug der Anstieg allein im vergangenen Jahr – ist Marina Point West in Kent für viele Chinesen eine interessante Anlagemöglichkeit.
«Die Nachfrage hier in Festland-China nach Londoner Immobilien steigt jedes Jahr», sagt Amous Lee Tarn Siong, der für die Immobilienfirma IP Global Limited in Hongkong, Singapur und nun auch in Shanghai wirbt. «Vor zwei Jahren wusste der Grossteil unserer Kunden nicht mal, wo London ist.»
Das hat sich geändert: Auf der Suche nach alternativen Investments blicken viele Chinesen inzwischen nach London. Sie trauen dem wirtschaftlichen Boom im Reich der Mitte nicht und wollen wenigstens einen Teil ihres Vermögens im Ausland sichern.
Immobilienfirmen wittern hier ein Geschäft und bieten ihre Londoner Objekte zunehmend in China an – teilweise direkt, ohne dass die Wohnungen jemals in London auf dem Markt gewesen wären. 60 Investorengruppen hat IP Global Limited an zwei Tagen ins Langham eingeladen, obwohl nur 30 Wohnungen zum Verkauf standen.
Die Preise ziehen an
«Der Wettbewerb um Wohnungen im Ausland ist heftig», sagt Li, der bereits anderswo gesucht hat. «Auf die Idee sind wohl schon andere gekommen.» Er lacht. Li spricht gut Englisch und Deutsch, er kann sich vorstellen, wieder im Ausland zu leben. «China ist gerade eine tolle berufliche Möglichkeit für uns, aber auf Dauer ist die Lebensqualität einfach zu gering», sagt er.
Ein Leben in überteuerten Hochhausblocks, mit hoher Luftverschmutzung, Stress und wenig Freiraum erscheint ihm auf Dauer nicht sonderlich attraktiv. «Shanghai erlebt gerade eine absolute Blase», sagt er, «wer jetzt kauft, der investiert ein Vermögen.»
Das gilt in Ansätzen auch für London: Die Immobilienpreise in der britischen Hauptstadt gelten als hoch, viele Londoner wohnen deshalb bis Mitte 30 in Wohngemeinschaften oder bei ihren Eltern. Ein Förderprogramm der Regierung, Help to buy, soll nun mehr Briten zu Hauseigentümern machen. Kritiker fürchten jedoch, dass das die Preise noch weiter steigen lässt.
«Wir erwarten, dass das Londoner Umland attraktiver wird», sagt Amous Lee Tarn Siong, der die Wohnungen in Marina Point West vermarktet. Wer heute in Kent kauft, macht also im Zweifel ein gutes Geschäft. «Die Freunde meiner Frau haben schon vor drei Jahren gekauft», sagt Joe Li: «Sie haben schon jetzt dreissig Prozent Wertsteigerung. Meine Frau ist schon ganz aufgeregt.»
Verwöhnte Hongkonger
Auch Li möchte einen Teil seines Vermögens sichern. «Wer weiss, was hier in China passiert», sagt er. Wie viele Chinesen hat er kaum Alternativen: Bis heute hat China keinen florierenden Aktienmarkt, es gibt keine Anleihen, der Renminbi ist nicht frei handelbar. Immobilien und Gold stehen hoch im Kurs. «Könnten sie, würden noch viel mehr Chinesen Immobilien im Ausland kaufen», sagt Joe Li.
Immobilienmakler wie Amous Lee Tarn Siong rechnen damit, dass die Nachfrage weiter steigt. «Die Shanghaier reisen mehr, viele schicken ihre Kinder zum Studium ins Ausland», sagt er. «Die Hongkonger sind schon zu verwöhnt, die kaufen nur noch in absoluten Toplagen.»
Die Festland-Chinesen hingegen kaufen oft zum ersten Mal eine Wohnung im Ausland, «sie geben sich mit Einfacherem zufrieden», sagt Amous Lee Tarn Siong. Sein Arbeitgeber wird deshalb in den kommenden Monaten noch mehr Objekte in London direkt in Festland-China anbieten.
Auch Platzhirsche wie Knight Frank aus Grossbritannien sind dazu übergegangen. Die Firmen vermarkten dabei nicht nur Immobilien – sie organisieren auch die Visa und beraten bei der Wahl der richtigen Schule.
Visaberatung als Service
«Grossbritannien ist für viele Chinesen eine äusserst interessante Option», sagt Jennifer Lai. Sie arbeitet bei Henley & Partners, einem Schweizer Unternehmen, das weltweit bei der Beschaffung eines Visums oder eines neuen Passes hilft. Doch an diesem Nachmittag interessieren sich die Chinesen mehr für die Appartments, weniger für ihre Visaberatung. Dafür hat der extra aus Grossbritannien eingeflogene Anwalt alle Hände voll zu tun.
«Es ist ganz unterschiedlich», sagt Jennifer Lai, «je nachdem, ob die Leute für den eigenen Gebrauch kaufen oder nicht, brauchen sie ein Visum oder keins.» Ein sogenanntes Investoren-Visum kostet eine Million Pfund, rund 1,4 Millionen Franken, 25 Prozent davon können in Immobilien investiert werden. Erst vor wenigen Wochen hatte die britische Regierung neue Visa-Erleichterungen für chinesische Touristen und Geschäftsleute angekündigt.
«Das macht Grossbritannien auf Dauer noch attraktiver», so Lai. «Viele Chinesen sehnen sich nach Lebensqualität und Bildung für ihre Kinder», sagt Lai. 2012 hat sich die Zahl der Chinesen, die mit Investorenvisum auf die Britischen Inseln kommen, mehr als verdoppelt, berichtete die Londoner Anwaltskanzlei Pinsent Masons. Joe Li sollte sich also bald entscheiden, ob er in Kent kaufen will – es könnte sonst sein, dass seine Landsleute ihm zuvorkommen.
Dieser Artikel ist zuerst in unserer Schwester-Publikation «Die Welt» erschienen.