Leicht, zäh und gummig wie Tintenfische sind die begehrten Bigorneaux oder Wellhornschnecken, die am Sonntagnachmittag an unzähligen mobilen Ständen rund um die Grand’ Place in Brüssel angeboten werden. Dennoch strömen die Brüsseler sonntags zu Tausenden in die Innenstadt, um sich einen Plastikbecher voll mit der Meeresdelikatesse in scharfer Gemüsebrühe zu kaufen.
Noch zahlreicher sind die Geniesser, die sich an einem der Dutzenden Verkaufslokale der belgischen Chocolatiers mit Schachteln voller Edelpralinen versorgen, um sie in der Regel vor Ort zu verdrücken. Galler, Leonidas, Godiva oder Neuhaus – alle grossen Schokoladenproduzenten Belgiens haben sich um den prachtvollen Hauptplatz mit seinen barocken Zunfthäusern, dem gotischen Rathaus und dem fantastischen Schokoladenmuseum niedergelassen und buhlen um die Gunst ihrer schokoladenverrückten Landsleute.
Zwar gilt offiziell, dass die Schweizerinnen und Schweizer pro Kopf und Jahr 11,6 Kilogramm Schokolade essen und damit die Belgier (10,7 Kilos) hinter sich lassen. Doch diese beklagen nicht zu Unrecht, dass die in der Schweiz weit höher liegenden Schokoladenverkäufe an Touristen das Bild verzerrten. Überhaupt tut man sich schwer mit dem imagemässig übermächtigen Schokoladenkonkurrenten. Allerdings haben die Belgier im Export die Schweiz überrundet und vor allem im Luxussegment längst die Führung übernommen.
Bei aller Konkurrenz indes ist die Geschichte der Schokoladenindustrie der beiden Länder eng miteinander verbunden. Der aus dem schweizerischen Le Locle stammende Jean Neuhaus wanderte 1857 aus und gründete im selben Jahr in Brüssel eine Apotheke, in der er auch kakaohaltige Produkte vertrieb. Seinen Laden eröffnete er in der Galerie de la Reine, der ersten gedeckten Verkaufsgalerie Europas. Noch heute ist er an derselben Lage das Aushängeschild des Neuhaus-Konzerns.
Zu Beginn der Neuhaus-Geschichte wurden zu therapeutischen Zwecken Mischungen verkauft, die man sich heute kaum mehr vorstellen kann: Teerschokolade galt ebenso als Heilmittel wie Schokolade mit rohem Fleisch, es gab überdies Kakaoprodukte, die mit Hafer oder mit Mandelmilch versetzt wurden. Erst 1921 entwickelte der Enkel von Firmengründer Jean Neuhaus, der denselben Namen wie sein Grossvater trug, die erste in Serie
gefertigte Praline, indem er Mandeln und Nüsse mit Schokolade überzog. Seine Ehefrau kreierte parallel dazu die erste Pralinenschachtel; der Grundstein für ein neues Kapitel in Belgiens Schokoladengeschichte war gelegt.
Dass die Praline eigentlich eine französische Erfindung ist, tat dem Mythos Neuhaus keinen Abbruch. Der Koch César de Choiseul, Graf von Plessis-Praslin, hatte im 17. Jahrhundert eine Mandel in einen Topf mit gebranntem Zucker fallen gelassen und so zufällig die Praline geschaffen. Neuhaus gebührt die Ehre, der Praline zum Durchbruch verholfen zu haben. Dabei profitierte er davon, dass sich Belgien schon in den Jahren zuvor um Nachschub aus den eigenen Kolonien bemüht hatte, um die Abhängigkeit von südamerikanischem Kakao zu reduzieren. 1890 bereits entschied der belgische König Leopold II., in einer Region Belgisch-Kongos Kakao anzubauen.
Im selben Jahr wie Neuhaus begann auch das Haus Kwatta mit einer Innovation, dem Schokoriegel. Gab es bis zu jenem Zeitpunkt nur Schokoladen in der Grösse von 100 Gramm bis 1 Kilogramm zu kaufen, setzte Kwatta auf Schokoriegel mit 30 und 45 Gramm und verbuchte damit schnell grosse Erfolge; die Konkurrenz zog bereits im Jahr darauf nach.
Bis ins 20. Jahrhundert indes waren die Schweizer und die Franzosen den Belgiern innovationstechnisch weit überlegen. Bereits 1830 hatte Charles-Amédée Kohler die Nussschokolade kreiert, um 1850 schuf der Pariser Jean-Baptiste Letang die erste Gussform für Figuren, und 1875 gelang dann Daniel Peter der entscheidende Durchbruch in der Schokoladenproduktion.
Peter entwickelte als Erster die Milchschokolade. Dabei waren die Schweizer weit später in den Genuss des Kakaos gekommen als die Belgier. Die Belgier profitierten davon, dass die Spanier als Kolonisatoren Süd- und Mittelamerikas als erste Europäer überhaupt Schokolade kennen gelernt hatten. Bereits 1528 hatte der Spanier Cortez den Kakao mit allen notwendigen Ingredienzen wie Zimt, mexikanischem Pfeffer und tahitischer Vanille nach Europa gebracht. Innert Kürze hielt die neue Delikatesse Einzug in die Küchen des spanischen Adels. Belgien kam als eine der ersten Regionen Europas überhaupt in den Genuss der neuen Delikatesse, weil es zum grossen Teil bis 1830 spanisches Untertanengebiet war.
Bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts tauchten in Belgien die ersten Chocolatiers auf, auch sie versorgten vor allem den Adel mit dem Luxusprodukt, hauptsächlich in flüssiger Form und mit zahlreichen Gewürzen versetzt. Es dauerte fast zwei Jahrhunderte, bis dank ersten Preiseinbrüchen bei Kakao und Zucker auch die breite Masse der Belgier die Schokolade als Genussmittel entdeckte.
Die Schweiz war damals noch das Mass aller Dinge, wie ein Blick in die Chroniken des belgischen Hauses Jacques zeigt. Der Firmengründer Jean-Antoine Jacques schwärmte derart von der Eidgenossenschaft, dass er nicht nur regelmässig Schweizer Personal rekrutierte, er gab auch nach Schweizer Vorbild beliebte Bildbände mit Schokoladenbildchen heraus unter dem Titel «collection des chocolats suisses». 1923 entstand im belgischen Comines gar eine Firma mit dem Namen «Italo-Suisse», die das Schweizer Label bis heute auf praktisch all ihren Produkten trägt, obwohl es sich um reine belgische Schokolade handelt.
Mit für die damalige Zeit raffinierten Verkaufsstrategien begannen die Belgier nach dem Ersten Weltkrieg, die Schokolade noch intensiver zu vermarkten. Schokolade wurde an verschiedenen Ausstellungen und Sportveranstaltungen gratis abgegeben, Schokoladenliebhaber schlossen sich zu einem Verband zusammen, der zu seiner Hochblüte 100 000 Mitglieder zählte. Aber vor allem mit der Abgabe von Sammelbildchen weckten die Schokoladenproduzenten die Sammelleidenschaft ihrer Landsleute. Innert Kürze entstanden im ganzen Land Sammlerbörsen, entsprechend stiegen auch die Umsätze der Schokoladenindustrie.
Bis in die sechziger Jahre schossen in Belgien neue Schokoladenfirmen aus dem Boden, in den achtziger Jahren begannen sich ausländische Investoren für den lukrativen belgischen Schokoladenmarkt zu interessieren. Und innert weniger Jahre war praktisch die ganze Elite der belgischen Schokoladenproduzenten im Besitz ausländischer Konzerne: 1982 wurde Jacques von der deutschen Gruppe Stollwerk übernommen, Callebaut ging ebenfalls 1982 an Klaus J. Jacobs Interfood und die alteingesessene Côte d’Or 1987 an Jacobs Suchard. Auch die drei renommierten Schokoladenproduzenten Godiva, Neuhaus und Corné gingen mehrheitlich an ausländische Investoren.
Diese Entwicklung entpuppte sich als Segen für die belgische Schokoladenindustrie, öffneten sich doch dadurch neue Märkte. Heute sind die Belgier im umsatzstarken Markt der USA Marktleader im Segment der Delikatessenschokolade. Vor allem Godiva, 1975 von Campbell Soup übernommen, setzt ihren Siegeszug fort, heute beliefert das Unter- nehmen von seiner Fabrik in Pennsylvania in Nordamerika alleine über 3000 Verkaufspunkte und eigene Shops. Und selbst in Japan ist Godiva mit Dutzenden von Franchise-Läden und Hunderten von Verkaufsstellen vertreten.
Keinen Zweifel daran, dass die Amerikaner heute der belgischen Schokolade den Vorzug geben, lässt auch ein Besuch bei der belgischen Hoflieferantin Mary, deren dunkle Schokolade kaum zu übertreffen ist: An der Wand hängen Bilder, die George W. Bush beim Schokoladen-Shopping im barocken Hauptgeschäft der kleinen Schokoladenproduzentin zeigen. Seit Jahren soll die Familie Bush hier schon ihre Schokolade bestellen.
Unter der rasanten Expansion hat allerdings die Innovationskraft deutlich nachgelassen. Die Führung in Sachen Schokoladenqualität und Schokoladeninnovation haben inzwischen unabhängige Chocolatiers übernommen, deren Kreationen heute absolute Weltklasse sind. Allen voran der italienischstämmige Pierre Marcolini, dessen Schokoladen-, Pralinen- und Patisserie-Kreationen heute zu den Edeldelikatessen schlechthin gehören. Marcolini war einer der Ersten, die den neuen Trend bei den Schokoladen hin zu höherwertigen Produkten erkannten und die vor allem kleinere Pralinen einführten. Damit kam man dem neuen Ernährungsbewusstsein entgegen.
«Die wenigsten Schokoladenliebhaber wollen sich heute noch eine 40-Gramm-Praline in den Mund stecken», so der Chocolatier, der als Patissier schon zweimal den Vizeweltmeistertitel und einmal den Weltmeistertitel gewonnen hat. Entsprechend gefragt sind denn auch seine «ganaches», kleine, pechschwarze Bitterpralinen mit 75 Prozent Kakaoanteil, parfümiert mit Earl-Grey-Tee, Veilchen oder mit exotischen Früchten.
Obwohl Marcolini erst 1994 sein erstes Geschäft eröffnete, ist er heute in Paris, New York und Tokio ebenso vertreten wie an der nobelsten Verkaufslage Brüssels, dem Grand Sablon, einem Platz, an dem der zweite grosse Chocolatier-Patissier Brüssels, Wittamer, seinen Hauptsitz hat. Marcolinis Läden sind von ausgesuchtem Design, in gestylten Vitrinen und salonartiger Umgebung werden die Delikatessen zu Preisen verkauft, die weit über jenen der Konkurrenz liegen. Seine Zutaten sucht sich Marcolini auf der ganzen Welt zusammen, für einzelne Gewürze reist er auch mal ein paar Wochen nach Madagaskar. In der Qualität der Zutaten sieht er das grösste Entwicklungspotenzial: «Belgische Schokolade ist zum Massenprodukt verkommen, sie ist zu fett, zu gross, und den Produzenten fehlt es an innovativen Ideen», kritisiert Marcolini die Konkurrenz. Dem will der kreative Jungunternehmer mit der Gründung einer eigenen Schule für Chocolatiers entgegentreten. 2006 soll die internationale Schokoladenschule «Pierre Marcolini» in der Nähe des Brüsseler Gare du Midi ihre Türen öffnen, Kurse sind sowohl für Profis als auch für Neueinsteiger vorgesehen.
«Schokolade ist das neue Luxusprodukt in der Nahrungsmittelindustrie, darauf setzen wir.» Entsprechend will Marcolini noch weiter expandieren, in den nächsten Jahren will er sein Netz auf etwa 50 Läden weltweit ausdehnen. Auch in der Schweiz würde er gerne Fuss fassen. «Gerne würde ich in Genf eine Schokoladenboutique eröffnen, allerdings fehlt mir hier noch ein lokaler Partner.» Dass der Schweizer Markt inzwischen reif für belgische Schokolade ist, davon ist Marcolini überzeugt. «Schweizerische Chocolatiers und Patissiers haben in den vergangenen Jahrzehnten massiv an Terrain verloren, längst gilt das Land in dieser Branche nicht mehr als sehr innovativ. Praktisch alle wichtigen Einflüsse bei der Schokoladenkreation kommen heute aus Frankreich, ja selbst Japan hat hier zurzeit mehr Ideen.»
Der Aufstieg der belgischen Schokolade an die Weltspitze zeigt sich auch zahlenmässig. Allein 2003 hat die belgische Industrie 189 000 Tonnen Schokolade produziert, die Schweiz mit 118 000 Tonnen hat sie damit längst hinter sich gelassen, wie die offiziellen Statistiken des europäischen Schokoladendachverbandes Caobisco belegen. Von 1998 bis 2003 gelang es den Belgiern, ihre Exporte um 24 Prozent zu steigern, 147 000 Tonnen wurden 2003 exportiert. Auch hier bleibt die Schweiz mit 62 000 Tonnen und einer im selben Zeitraum vergleichsweise bescheidenen Steigerung von elf Prozent weit zurück. Mit 6600 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gehört die Schokoladenindustrie in Belgien nach wie vor zu den grössten Branchen und Arbeitgebern.
Anfang 18. Jahrhundert noch galt Schokolade als absolutes Luxusprodukt, ein Pfund kostete so viel wie 15 Kilo Brot. Dass Schokolade nach Jahren des Schattendaseins im Kaufhausregal wieder auf dem Weg zum Luxusprodukt ist, beweist Marcolini heute wie kein anderer. Kauft man heute ein Pfund von Marcolinis Edelschokolade, liessen sich für dasselbe Geld in Belgien 30 Kilogramm Brot kaufen.
Geschichte: Feines fürs Museum
Seit dem 31. Oktober 2004 verfügt die belgische Hauptstadt Brüssel über ein neues Schokoladenmuseum, nur wenige Meter von der Grand’ Place im Herzen der belgischen Hauptstadt entfernt. Initiiert von Jo Draps, Nachfahrin des Godiva-Gründers Joseph Draps, gibt das Museum einen Überblick nicht nur über die Geschichte der belgischen Schokolade, sondern auch über die Kakao-Kultivierung und die Herstellung unterschiedlichster Schokoladenprodukte. Mit Suchard und Nestlé sind hier auch zwei grosse Schweizer Schokoladenproduzenten vertreten. Das Museum ist dienstags bis sonntags von 10 bis 16.30 Uhr geöffnet.
Edelschokolade: Gut und teuer
Die Hoflieferantin Mary gehört zusammen mit dem Chocolatier Pierre Marcolini zur Crème de la Crème der belgischen Schokoladenkunst. Für eine Schachtel mit 800 Gramm Schokolade lässt man bei Mary gut und gerne 100 Franken liegen, eine Schachtel mit einem Pfund ihrer begehrten Marrons glacés kostet umgerechnet fast 70 Franken. Stolze 6 Franken kostet bei Pierre Marcolini eine 80-Gramm-Tafel seiner begehrten Schokoladen «Madagascar», «Equateur» oder «Java Orange», ein Glas seiner Marmeladen ist für zehn Franken zu haben. Und die bescheidenste Auswahl an Pralinen, die 250 Gramm schwere Auswahl «Malline», geht für 21 Franken über den Tisch.