Enron, WorldCom, Swissair. Das Danach hat einen Namen. Darauf angesprochen, schreibt jeder befragte Verwaltungsrat, jeder Manager, innerlich leicht gelangweilt, äusserlich beflissen wirkend, in seinen Notizblock: Corporate Governance. Der Begriff impliziert die Heilsbotschaft, dass alles regierbar sei. «Böse Macht» sei gerecht teilbar und werde somit im Handumdrehen gut.
Landauf, landab ist heute kaum ein Modernität signalisierendes Wirtschaftsseminar denkbar ohne diesen aus den dreissiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts stammenden Zauberbegriff. Keiner lehnt sich offen gegen das dehnbare Schlagwort auf. «Ich kann doch nicht im Ernst ein schlechtes Wort darüber sagen, selbst wenn ich möchte. Sonst bin ich tot», erklärt ein Verwaltungsratsmitglied eines renommierten schweizerischen Industriekonzerns.
Selbstverständlich bleibt der Mann anonym. Die Good-Corporate-Governance-Hysterie geht um. Gegen das Gutsein kann sich niemand stellen – nur schon aus Reputationsgründen nicht. Deshalb interessieren die Fragen: Wer leidet am meisten unter dem kollektiven Moralanspruch? Wem nützt dieser? Wo endet sein Sinn, und wo beginnt der Wahnsinn? Besuche in den helvetischen Laboratorien der Corporate Governance liefern Antworten.
Brandschenkestrasse 100 in Zürich. Zu Besuch bei Ancillo Canepa, Leiter der Audit-Abteilung des Wirtschaftsprüfers Ernst & Young und ehemaliges Mitglied von zwei eidgenössischen Kommissionen zur Rechnungslegung. «Früher haftete uns das Renommee von Erbsenzählern an. Wir mussten durch den Lieferanteneingang zu unseren Kunden», berichtet Canepa. Heute steht dem energischen Mann der Haupteingang offen. Das hat seine Gründe – und vor allem seinen Preis. Schweizer Unternehmen, deren Aktien an der Börse kotiert sind, werden künftig bedeutend höhere Kosten für ihre Jahresabschlüsse einkalkulieren müssen. Mit einem Mehraufwand in Höhe von dreissig Prozent rechnet Ancillo Canepa nur schon auf Grund der neuen, strengeren amerikanischen Richtlinien.
Nach dem Zusammenbruch des US-Energieriesen Enron im Jahr 2001 und dem rasanten Hinschied der mit diesem verbandelten Audit- und Beratungsfirma Arthur Andersen holte die Administration Bush zum Gegenschlag aus: Sarbanes-Oxley Act, kurz SOA (siehe Nebenartikel «Glossar»), heisst das rigide Gesetz, das die sündigen Managerseelen an die Kandare nehmen soll. Die amerikanische Regierung trieb es in Rekordzeit durchs Parlament und setzte es im Juli 2002 in Kraft. Allen voran werden damit Berufsleute wie Canepa schärferen Kontrollen unterworfen. Menschen, die Erfolgsrechnungen und Bilanzen von Grossunternehmen testieren, die Risiken aus der Konzernrechnungssuppe zu filtern versuchen und das Ergebnis ihrer Zahlenklauberei den Verwaltungsräten in kondensierter Form vorlegen.
In den Vereinigten Staaten wacht heu-te ein neues Verwaltungsungetüm, das
Public Company Accounting Oversight Board (PCAOB), über sämtliche Buchprüfer und Revisoren, die sich mit börsennotierten Unternehmen auseinander zu setzen haben. Das PCAOB wächst und wächst und verschlingt bereits mehr als 500 Millionen US-Dollar pro Jahr. Auch der helvetische Ableger von Ernst & Young hat sich vom PCAOB registrieren lassen müssen. Das habe sein Unternehmen ungefähr eine Million Franken gekostet, verrät Canepas Geschäftsleitungskollege, Länderchef Peter Athanas. Es ärgert ihn, dass die grossen, international agierenden Audit-Unternehmen ihre besten Pferde an das PCAOB verlieren.
Trotz vielstimmigen Wehklagen kann sich die Zunft der Wirtschaftsprüfer und
-berater die Hände reiben, bleibt die alte Businessregel «More standards, more fees» doch unangetastet. Wie gross der mikroökonomische Nutzen sein wird, den die von den Amerikanern losgetretene Regulierungswelle im Einzelfall stiftet, wird aus den kommenden Konzernrechnungsabschlüssen herauszulesen sein – sofern sie denn alle termingerecht erscheinen werden. Davon darf man zurzeit nicht ohne weiteres ausgehen, denn Signale, die aus den grossen Audit-Firmen nach aussen dringen, deuten nicht nur auf eine einmalig hohe Auslastung dieser Branche, sondern auch auf Probleme nicht weniger Klienten beim Erfüllen der verschärften Standards hin. Der Fall des grössten Stellenvermittlers der Welt, Adecco, der vor Jahresfrist Schlagzeilen machte, dürfte nur die Spitze des Eisbergs gewesen sein. Für ihn sei das alles nichts Neues, erklärt derweil Canepa, der Routinier. «Es war schon immer klar: Die Rechenschaftspflicht der Unternehmen gegenüber ihren Shareholdern und Stakeholdern wird exponentiell an Bedeutung gewinnen. Ich sah das schon in Zeiten der New Economy, als es plötzlich überaus leicht zu sein schien, Geld zu verdienen, und niemand nach dem Wie und dem Woher fragte. Eine Gegenbewegung musste ganz einfach kommen.»
Der Rechnungslegungsexperte mag in diesem Moment besserwisserisch erscheinen, doch gewarnt hat Ancillo Canepa tatsächlich schon früher. Seit mehr als einem Jahrzehnt macht er sich in seinen Kreisen mit ähnlichen Aussagen unbeliebt, wird andererseits allerdings auch für seine direkte Art und Ehrlichkeit von vielen geschätzt. Fragen wir ihn deshalb, ob nun, mit Sarbanes-Oxley und dessen Schweizer Lightversion namens Swiss Code of Best Practice, alles zum Besten bestellt sei. Ancillo Canepa legt seinen Kopf leicht schief. Er mag sich für einmal nicht festlegen. Mit gutem Grund.
Womit beschäftigt sich ein Revisor? Zu Hunderttausenden von Transaktionen und Sachverhalten in und ausserhalb eines Unternehmens muss er sich eine Meinung bilden. Das heisst, der Buchprüfer muss verbindlich entscheiden, ob alle relevanten Einflussfaktoren vollständig und ordnungsgemäss im finanziellen Berichterstattungsprozess erfasst worden sind: ja oder nein. Routinemässige Vorgänge – Rechnungen hier, Wareneingänge dort – zu überprüfen, sind dabei eine Sache.
Solche Dinge sind meist eindeutig definiert. Schwieriger wird es, wo Ermessensspielraum besteht. Beispielsweise dann, wenn sich eine Gesellschaft mit der Möglichkeit eines künftigen Produktehaftungsfalls konfrontiert sieht. In einem solchen Kontext müssen Antworten auf die verschiedensten Fragen gefunden werden: Welche Art von Kausalität besteht zwischen Firma und allfälliger Haftung? Wie hoch ist der maximal zu erwartende Schaden? Wie gross ist der potenzielle Haftungsumfang? Wem muss möglicherweise wann wie viel bezahlt werden? Welche Rückstellungen sind zu welchem Zeitpunkt vorzunehmen?
So weit muss man allerdings gar nicht gehen. In jeder Unternehmensbilanz wimmelt es nur so von Positionen mit erheblichem Interpretationsspielraum und relativ unsicherer Bewertungsbasis: Delkredere, unkurante Waren, latente Steuerforderungen, Fremdwährungsanlagen, Immobilien, Eventualverpflichtungen, langfristiger Anlagebau, Beteiligungen und so weiter und so fort.
All diese Grössen erweisen sich als Unbekannte in der Gleichung, wenn es um die Erfüllung von Corporate-Governance-Richtlinien geht. Kein Wunder, zieht Ancillo Canepa den bedenkenswerten Schluss, dass «keine Jahresrechnung per se korrekt» sei. Was nicht heissen soll, dass man sich durch die gegebenen Unschärfen zu willkürlichen Interpretationen verleiten lassen darf, um ein von vornherein angestrebtes Buchhaltungsergebnis zu erzielen. Um dieser Gefahr entgegenzuwirken, müssen börsenkotierte Firmen ein geeignetes Risikomanagement aufbauen, der Auditor eine so genannte «Risk-Map» entwerfen, aus der die Risikobandbreiten ersichtlich sind. Dies führt direkt zum zweiten grossen Missverständnis.
In der Schweiz seien heute alle Voraussetzungen geschaffen, damit differenzierte Aussagen zum Risikomanagement und zum Kontrollsystem «auf hohem Niveau und extrem transparent» gemacht werden können, beteuert der Wirtschaftsprüfer Canepa. Hier fehle es an nichts. Der Umgang mit der neuen Informationsflut sei allerdings eine ganz andere Sache. Im Klartext: Die korrekte Wertung der neuerdings in den Jahresrechnungen offen zu legenden Daten ist ausserordentlich heikel. Die detaillierteren Berichte verlangen entsprechend kompetente Leser. Ausgerechnet an dieser Kundschaft zweifelt aber nicht bloss der Leiter der Audit-Abteilung bei Ernst & Young.
Nutzen Aktionäre, Bankanalysten oder Journalisten die zusätzlichen Unternehmensinformationen ungenügend oder verstehen sie gar falsch, wachsen die Risiken im Übermass. Dabei gibt selbst ein Experte wie Canepa heutzutage offen zu: «Eine etwas komplexere Jahresrechnung kann auch ich ohne vertieftes Studium nicht mehr so ohne weiteres verdauen.» Mithin zeichnet sich eine neue Wissensasymmetrie zwischen Informanten und Informierten ab, welche die Intransparenz und das Schweigen der Zeit vor Inkraftsetzen des SOA ablösen dürfte. Die buchstabengetreue Erfüllung einer immer komplexer werdenden Buchhaltungspflicht verdeckt aber diesen lamentablen Zustand und wird im schlechtesten Fall dazu führen, dass sich die Anspruchsgruppen zu Unrecht in Sicherheit wähnen. Der Ärger über Manager, Verwaltungsräte und Wirtschaftsprüfer wird umso grösser sein, wenn in Zukunft etwas schief geht.
Fallbeispiel: Paralyse bei Adecco
Am 11. Januar 2004 tagt im Meetingraum Zürich in Glattbrugg der neunköpfige Verwaltungsrat des weltgrössten Zeitarbeitvermittlers, Adecco. Die Krise ist komplett. Die US-Auditoren haben kurz zuvor wissen lassen, dass sie den Jahresbericht nicht bis zum geplanten und gemäss SOA angemeldeten Termin testieren können. Der europäische Arm der Auditoren ist nicht derselben Meinung. Die Verwirrung im Saal ist kaum mehr zu überbieten. Die Verwaltungsräte – darunter zu diesem Zeitpunkt die erfahrenen Andreas Schmid, Ernst Tanner und Conrad Meyer – wissen nicht, was nicht stimmen soll in ihrer Jahresrechnung. Sie möchten transparent kommunizieren, können dies allerdings nicht. Ebenfalls anwesende Juristen blocken aus Angst vor möglichen Klagen oder Verfahren in den USA jede öffentliche Äusserung ab. Dabei bewegen sie sich durchaus SOA-konform.
Die aufbegehrenden Kommunikationsspezialisten dringen mit ihren Vorschlägen nicht durch. Am Ende verstummt die Runde. Im regulierten Transparenzfeld setzt sich die Überzeugung durch, dass jede Information nach aussen zu diesem Zeitpunkt falsch verstanden und verheerende Folgen haben würde. So sagt Adecco am 12. Januar in einem dürren Communiqué substanziell nicht, warum die Jahresabschlusspräsentation verschoben werden muss. Der Kurs bricht ein. Die Aktionäre verlieren an jenem Tag 5,4 Milliarden Franken. Zehn Klagen gehen ein. Die amerikanischen Transparenzregeln haben ein zuvor klandestines in ein ängstliches Schweigen verwandelt.
Stiftung Ethos. 2, Place de Cornavin, Genf. Dominique Biedermann ist Geschäftsführer des prominentesten Aktionärsschutzverbandes der Schweiz und Mitglied der Expertengruppe, die den Swiss Code of Best Practice ausgearbeitet hat. Der Name Biedermann ist Verwaltungsräten und Managern in der Schweiz ein Begriff, seit dieser «Brandstifter» im kollegial geprägten Schweizer System regelmässig die Podien an den General- versammlungen erklimmt und dezidiert die Aktionärsrechte einfordert. «Wir sind Treuhänder für die Versicherten der Pensionskassen», sagt Dominique Biedermann. «Wir wollen, dass man in den Unternehmen zumindest die Kontrollmechanismen beachtet. Wir müssen dazu alle Rechte gebrauchen, die wir als Aktionäre besitzen.»
Dominique Biedermann ist in seinem Plädoyer nicht zu bremsen. Das klassische Dreieck der Unternehmenskontrolle mit den Eckpunkten Verwaltungsrat, Management und Aktionäre sieht er in der Schweiz noch nicht genügend umgesetzt. «Pensionskassen sind langfristige Anleger. Manager und Verwaltungsräte hingegen besetzen während einer zeitlich beschränkten Dauer ihre Plätze.» Ergo: Dem Aktionär sollte hierzulande per Gesetz mehr Macht zuteil werden.
Dominique Biedermann unterstreicht dies mit einem einfachen Rechenbeispiel anhand von Nestlé: Mit Aktien im Nennwert von einer Million Franken oder mehr im Rücken hat ein Aktionär theoretisch das Recht, anlässlich der Generalversammlung einen Diskussionspunkt auf die Traktandenliste setzen zu lassen. In der Schweiz entspricht dies der gängigen Praxis. Nur dumm, dass ein Nennwert von einer Million Franken im Fall von Nestlé momentan einen Börsenwert von etwa 320 Millionen Franken repräsentiert. Angenommen, dass eine grosse inländische Pensionskasse mit einem Anlagevermögen von zehn Milliarden Franken der normalen Asset-Allokation folgt, zwölf Prozent in Schweizer Aktien anlegt und dabei den Swiss Performance Index (SPI) abbildet, weisen die Nestlé-Titel in ihrem Portefeuille keine 200 Millionen Franken Marktwert auf. Biedermanns Beispiel beweist also: Die Aktionärslimite ist zu hoch angelegt.
1996 hat Biedermann, seinerzeit noch Chef der Pensionskasse des Kantons Genf, den Kampf für die Aktionärsrechte in der Schweiz aufgenommen. Im Zeitalter des «treuhänderischen Kapitalismus» sieht er sich als Vertreter einer Bewegung, die in den frühen achtziger Jahren mit dem aufkommenden Einfluss der grossen Anlagefonds und Pensionskassen (zum Beispiel Calpers) in den USA ihren Anfang genommen hatte.
Heute sind rund zwei Drittel der Aktien amerikanischer Firmen im Besitz von institutionellen Anlegern. In der Schweiz schätzt Biedermann den Anteil der Institutionellen an den im Swiss Market Index (SMI) vertretenen Unternehmen auf knapp fünfzig Prozent. Dennoch, kritisiert Biedermann, würde in unserem Land noch immer den Mechanismen eines überholten «Managerkapitalismus» nachgelebt. Die Zeit für gesetzliche Veränderungen ist nach Auffassung Biedermanns «überreif». Zentrale Kapitel der hiesigen Börsenrichtlinien, beispielsweise bezüglich Offenlegungspflicht und Transparenz, sähe er am liebsten in einem revidierten Obligationenrecht verankert.
Auch gewisse Empfehlungen des Swiss Code wie etwa das Vorhandensein eines Audit Committee in jedem Verwaltungsrat möchte Biedermann als Obligatorien festgeschrieben wissen. So würden Vergehen erst zu wirklichen Vergehen, sagt er. Vieles, was auf dem Schweizer Finanzplatz heute noch als Gentleman-Delikt durchgehe, müsse in einer modernen und fairen Zivilgesellschaft einklag- und strafbar werden.
Entlang den Schweizer Empfehlungen und den scharfen US-Vorschriften hat Biedermanns Ethos kürzlich bereits zum zweiten Mal eine Corporate-Governance-Studie erstellt, welche die UBS auf der Spitzenposition, Unternehmen wie Lindt & Sprüngli oder Swatch hingegegen am unteren Ende der Rangliste unternehmerischen Wohlverhaltens platziert. Die Studie kondensiert einige Best-Practice-Ansätze, etwa die Forderung, dass ein Mandatsträger lediglich in drei, maximal vier verschiedenen Verwaltungsräten von börsenkotierten Firmen Einsitz nehmen sollte. Zu arbeitsintensiv seien die Pflichten eines Verwaltungsrats in letzter Zeit geworden, als dass es für mehr reichen würde, glaubt nicht nur Dominique Biedermann.
Fallbeispiel: Die Vontobel-Gruppe dreht das Rad zurück
Als im Dezember 2004 publik wurde, dass Urs Widmer an der kommenden Generalversammlung zum VR-Präsidenten der Zürcher Bank Vontobel gekürt werden soll, dürfte mancher Kleinaktionär die Faust im Sack gemacht haben. Nachvollziehbar, denn die Berufung des 63-jährigen Juristen trägt die Handschrift des Familienpatriarchen Hans Vontobel. Der Kandidat für den Posten des Oberaufsehers lässt sich nur mit Fantasie als wirklich «unabhängig» bezeichnen. Widmer ist mit der tonangebenden Eigentümerfamilie und deren Kapitalinteressen bestens vertraut und übernimmt nun per Ende April 2005 das Präsidium der Vontobel Holding als Wunschkandidat.
Zweieinhalb Jahre lang präsidierte er zudem das Aufsichtsgremium der Vontrust Holding und sass als Freund und Berater von Hans Vontobel auch in der gleichnamigen Stiftung ein – beides Vehikel, in denen substanzielle Teile des Aktienbesitzes der Familie Vontobel gelagert sind. Diese beiden Mandate hat Urs Widmer angesichts seiner bevorstehenden Wahl zum VR-Präsidenten der Vontobel Holding Anfang März niedergelegt. Zu gross wären die Konflikte zwischen Familien- und Bankinteressen geworden.
In einem Spannungsverhältnis zum Postulat der Gewaltentrennung steht Widmers berufliches Vorleben. Gerade was die Unabhängigkeit der Buchprüfer betrifft. Bis vor zweieinhalb Jahren amtete der designierte Vontobel-Präsident als Chef der Revisions- und Beratungsfirma ATAG Ernst & Young, derjenigen Gesellschaft, welche die Jahresabschlüsse der Vontobel-Gruppe traditionellerweise zu testieren pflegt. Auch wenn zwischen beiden Jobs eine zeitliche Distanz besteht und Urs Widmer persönlich nie als Revisor für Ernst & Young tätig war, ist eine gewisse Befangenheit wohl nicht ganz von der Hand zu weisen. Deshalb sollen an der kommenden Generalversammlung der Vontobel Holding drei zusätzliche familienunabhängige Verwaltungsräte gewählt werden. Fest steht bereits Pierin Vinzenz, GL-Vorsitzender der Raiffeisen-Gruppe.
Das wäre ein Schritt in die richtige Richtung: Zwanzig Jahre nach ihrer Umwandlung in eine Aktiengesellschaft vermag die Zürcher Bankengruppe ihrem eigenen Anspruch, eine echte Publikumsgesellschaft zu sein, noch immer nicht zu genügen.
Andreas Bürge ist Managing Partner und Leiter der Schweizer Niederlassung der Consultingfirma Roland Berger. Im vergangenen Sommer stand vor ihrem Firmensitz an der Neumünsterallee 12 in Zürich ein grosses Festzelt. Die renommierte Beratungsagentur hatte zu ihrem Jahrestreffen geladen. Man parlierte auf einer Bühne über Corporate Social Responsibility (CSR), die kleine oder – wie man es nimmt – grosse Schwester der Corporate Governance. Andreas Bürge äusserte sich damals ähnlich optimistisch wie jetzt im getäferten Sitzungsraum im Erdgeschoss der herrschaftlichen Immobilie: «Corporate Governance hat in den vergangenen zwei Jahren in den Schweizer Unternehmen eine völlig neue Qualität gewonnen. Das ist für den gesamten Markt begrüssenswert.»
In den drei Jahren seit Enron und Swissair ist in der Schweiz eine nachgelagerte Industrie für Corporate-Governance-Dienstleistungen entstanden. Keine Woche ohne Seminar, Kolloquium oder Brainstorming zu diesem Thema. Längst haben findige Berater das lukrative Feld für sich abgesteckt. Das nahe liegende Argument, er und seine Kollegen von der Agentur Roland Berger hätten sich schlicht ein neues Geschäftsfeld erschlossen und schöpften nun kräftig bei den Unternehmern ab, lässt Andreas Bürge so nicht gelten. «Auf dem Kapitalmarkt wie auch bei Verwaltungsräten und Managern herrscht heute eine erhöhte Sensibilität für die Anliegen der Corporate Governance», erklärt Bürge. «Und darüber hinaus für Corporate Responsibility.» Der Markt bestimme die Trends in dieser Thematik, argumentiert er.
Corporate Responsibilty? In der Fachliteratur findet man diesen dehnbaren Terminus, der so viel bedeutet wie unternehmerische Verantwortung, auch unter dem Stichwort «Triple Bottom Line». Drei gleichberechtigte Ebenen sind definiert: Auf der ersten stehen die Finanzen, auf den beiden anderen Soziales und Ökologie. Nicht von der Hand zu weisen bleibt der Verdacht, da schliesse sich eine hochprofitable Beraterindustrie zur unheiligen Allianz mit den Non-Governmental Organizations (NGO) und anderen Pressure-Groups zusammen – mit dem Ziel, die derzeitige Konfusion zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen.
Die selbst am World Economic Forum 2003 in Davos thematisierte Corporate Social Responsibility scheint in der Tat die weiche Einfallflanke jener Spielart von Corporate Governance zu sein, die in Richtung Umverteilung von privaten Vermögenswerten führen kann. Thomas Held von Avenir Suisse wird in seinen Vorträgen nicht müde, wortreich davor zu warnen. Und der akademische Mitstreiter von Martin Ebner und mehrfache BZ-Verwaltungsrat Kurt Schiltknecht beschreibt in seinem neuesten, gescheiten Buch dieselbe Gefahr.
Andreas Bürge winkt ab und gibt, zumindest was die Berater angeht, Entwarnung: «Keine Angst, wir entwickeln uns nicht zum verlängerten Arm der NGO.» Wenn es um Soziales oder Ökologie gehe, sei er «für alle Selbstregulierungen zu haben», sagt Bürge.
Verbindliche Vorschriften oder gar Gesetze lehnt er hingegen ab: «Ich bin weit davon entfernt, mir einen Swiss Codex II oder einen erweiterten Sarbanes-Oxley Act zu wünschen. Ich würde sogar dringend davon abraten.» Auf die Frage nach dem Warum hat der Consultant eine nur schwer von der Hand zu weisende Erklärung parat: Wenn Corporate Governance von den Marktteilnehmern als etwas Formelles, von Technokraten Diktiertes aufgefasst werde, verkomme sie in den Etagen der Verwaltungsräte unweigerlich zum blossen «box ticking», zum mechanistischen Ausfüllen und Abhaken von Corporate-Governance-Formularen. Wenn das geschehen würde, wäre die ganze Übung für die Katz, warnt Andreas Bürge, steht auf und verabschiedet sich. Klienten warten.
So unterschiedlich die Meinungen im Einzelnen auch ausfallen: In der Wirtschaftswelt herrscht Einigkeit darüber, dass man die Corporate-Governance-Debatte auch zu weit treiben kann. Einige Hardliner fordern sogar einen sofortigen Diskussionsabbruch und stützen sich dabei aufs immer gleiche, nur schwer zu widerlegende Argument: Zwischen Good Corporate Governance und dem Erfolg einer Aktiengesellschaft an der Börse existiert keine eindeutige Korrelation. Alle bislang veröffentlichen Studien lassen den verlässlichen Rückschluss vermissen, dass das Vorhandensein der als notwendig erachteten «checks and balances» automatisch zu einer besseren Unternehmensperformance führt. Beispiele aus der Praxis scheinen im Gegenteil nahe zu legen, dass durchaus auch alternative Wege zum Erfolg führen.
Fallbeispiel: Lindt & Sprüngli tickt anders
Wenn es in der Schweiz eine börsenkotierte Firma gibt, welche die unterstellte Kausalität zwischen lehrbuchmässiger Unternehmenskontrolle und wirtschaftlichem Erfolg auf den Kopf zu stellen scheint, so ist es Lindt & Sprüngli. Die Machtballung an der Spitze des Kilchberger Schokolodeimperiums sucht ihresgleichen und widerspricht in offenkundiger Art und Weise den Prinzipien der Good Corporate Governance.
Als Direktionsvorsitzender, Delegierter und Präsident des Verwaltungsrats firmiert bei Lindt & Sprüngli ein und derselbe: Ernst Tanner. Einen Lead Director oder genügend unabhängige Verwaltungsratsmitglieder, welche die Machtfülle des 58-jährigen Konzernlenkers austarieren könnten, sucht man vergeblich. Selbst in der hauseigenen Pensionskasse – mit über 20 Prozent grösster Aktionär des Schokoladenkonzerns – führt Tanner das Zepter.
All dies mit durchschlagendem Erfolg: Unter der Ägide des einflussreichen Maître chocolatier konnte Lindt & Sprüngli den Umsatz in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppeln, während sich die Börsenbewertung des Unternehmens im gleichen Zeitraum nahezu verachtfacht hat. Auch 2004 blieb die Erfolgsserie ungebrochen: Mit einer Jahresperformance von 60 Prozent haben die von Ernst Tanner gepflegten Schokoladen-Aktien sämtliche im SMI enthaltenen Titel kursmässig überflügelt. Ganz nach dem Motto: Kontrolle und gerechte Machtverteilung sind zwar durchaus begrüssenswert, am Ende des Tages entscheidet allerdings eben doch die Performance.
Im Raum Wotan an der Hegibachstrasse 47 in Zürich sitzt Thomas Pletscher, Geschäftsleitungsmitglied von Economiesuisse, dem Schweizer Spitzenverband der Unternehmer. Der Wirtschaftsfunktionär hat im sechsköpfigen Arbeitsausschuss für den Swiss Code of Best Practice mitgearbeitet und gilt neben dem Basler Aktienrechtler Peter Böckli als der Vordenker in Corporate-Governance-Fragen. In London, Brüssel, Berlin, Paris und Washington sitzen seine ständigen Diskussionspartner. Mitten im Gespräch muss Pletscher unterbrechen, um sich am Telefon mit einem Kollegen aus den Vereinigten Staaten zu besprechen.
Wofür steht Thomas Pletscher ein, wenn es um Good Corporate Governance geht? Ganz klar für Empfehlungen und nicht für ein vom Gesetzgeber verhängtes Diktat. Die hängige bundesrätliche Transparenzvorlage hält er für verfehlt. Gefahr für die Wirtschaft ortet Pletscher vorab in zusätzlichen Publikationsvorschriften auf dem Kapitalmarkt, beispielsweise was die Forderung nach einer Reform der wenig praxistauglichen SWX-Regeln betrifft, und weniger bei strukturellen Anpassungen auf Verwaltungsratsebene, wie sie vom Swiss Code empfohlen werden. «Wenn man meint, dass man Unternehmenserfolg herbeiregulieren könne, und darüber vergisst, dass Misserfolge zur Marktwirtschaft gehören, haben wir in der Schweiz ein echtes Wachstumsproblem», sagt Thomas Pletscher.
Der Economiesuisse-Vertreter redet sich in Schwung: «Wenn man keine Risiken mehr eingeht, weil dies in der Öffentlichkeit nicht akzeptiert wird, dann können wir unseren Verband den Verband der Unterlasser statt der Unternehmer nennen. Dann nützen alle Impulsprogramme des Bundesrates nichts.» Das unternehmerische Risiko müsse von der Allgemeinheit akzeptiert werden und sich auch in entsprechenden Regulierungen widerspiegeln, wirbt Thomas Pletscher für den Standpunkt der Unternehmer. «Selbstverständlich muss man den Umfang des Risikos minimieren. Wer in der Wirtschaft allerdings immer auf Nummer sicher gehen will und jedes Risiko hundertmal abwägt, lässt alle Chancen vorbeiziehen», erklärt der Spitzenlobbyist.
Im Klartext: Die Schweiz verfügt heute mit dem Swiss Code über eine Soft-Law-Lösung, die sowohl vom härteren EU- als auch vom OECD-Recht abweicht und im Vergleich zum Sarbanes-Oxley Act ein Weichspüler ist. Dies nicht zuletzt wegen Meinungsmachern wie Pletscher. Wer wie er am eidgenössischen Sonderfall festhalten will, argumentiert damit, dass eine rechtliche Durchsetzbarkeit von Corporate-Governance-Richtlinien letztlich kontraproduktive Wirkungen zeitige. Bei einer zunehmenden Regeldichte würden die in der Privatwirtschaft unvermeidlichen und weiterhin eintretenden Unfälle an Brisanz gewinnen, warnen namhafte Buchprüfer und Finanzexperten. «Man muss die justiziable Limite tief setzen, damit eine Sicherheitsmarge bleibt», verdeutlicht Pletscher noch einmal seinen Standpunkt. Der Verbandsfunktionär lächelt fein und sagt: «Man kann doch nicht eine Vision den Juristen überlassen!» Und nach einer kleinen Kunstpause: «Ich bin selber Jurist.»
Im November 2004 ist der Zwischenbericht über den Stand der Corporate Governance in der Schweiz erschienen. Pletscher hat ihn mitgeschrieben. Vor allem der letzte Satz dieses Marschhalts ist bemerkenswert: Darin ruft die Arbeitsgruppe die Aktionäre zu mehr Selbstverantwortung und Aktivität auf. Das klingt gut. Tatsache ist jedoch, dass sich die Mehrzahl der institutionellen Investoren in diesem Land kaum um den langfristigen Geschäftsgang der Unternehmen scheren, in deren Aktien sie ihr Geld investiert haben.
Das unheimliche Anwachsen der so genannten «Dispostimmen» ist in diesem Zusammenhang ein grosses Problem. Sie machen inzwischen je nach SMI-Titel zwischen 15 und 60 Prozent der ausstehenden Namenaktien aus. Mit anderen Worten gelangt bei vielen Unternehmen in der Schweiz die Mehrheit der Namenaktien gar nie zur Eintragung. Man muss sich das einmal vorstellen: Die Kontrolle wird von den Stimmberechtigten auf Eis gelegt, und zwar mutwillig.
Wie der forcierte Alpenschutz, das Bankgeheimnis und die Referendumsdrohung sind auch die Dispostimmen ein typisch schweizerisches Phänomen. Ihre Nachteile sind offensichtlich: Mögliche Interessenkonflikte zwischen Eigentümern, Management und Verwaltungsrat werden gar nie ersichtlich. Trotz Offenlegungspflichten an der Schweizer Börse, trotz der angekündigten Transparenzvorlage des Bundesrates, trotz Swiss Code of Best Practice, trotz allen Diskussionen über vor- und nachgelagerte Serviceerbringer, trotz teuren Seminarien und abendfüllenden Kolloquien: Eine Änderung der Dispostimmen-Praxis ist nicht in Sicht. Jede Bemühung, Good Corporate Governance zu erreichen, wird dadurch bis auf weiteres unterlaufen.
Gemäss einer Umfrage des Swiss Banking Institute haben 71 Prozent der Aktionäre im Jahr 2003 an keiner Generalversammlung teilgenommen; lediglich jeder Zehnte war hingegen an mehr als einer GV anwesend. Als Hauptgrund machten 70 Prozent der Befragten ganz offen «Desinteresse» geltend. 64 Prozent begründeten ihr Fernbleiben zudem mit «Zeitmangel». Noch nicht einmal das, was bei den schlecht besuchten Generalversammlungen an Beschlüssen herauskommt, scheint die Shareholder hierzulande sonderlich stark zu bewegen. Mehr als die Hälfte der Firmeneigentümer überliess 2003 deshalb ihrer Depotbank die Entscheidung bei der Stimmabgabe.
Bei so viel Desinteresse ist es schon tröstlich, dass sich die Experten in den von uns besuchten und angerufenen Laboratorien der Corporate Governance in einem Punkt zumindest einig sind: Sämtliche Verordnungen, Gebote und Verbote werden nichts ausrichten können, wenn einflussreiche Marktteilnehmer – zuallererst natürlich die Herren Verwaltungsräte und Manager – sich dazu entschliessen sollten, illegal tätig zu sein. Die Zahl der potenziellen Gesetzesbrecher lässt sich übrigens grob abschätzen und liegt (bitte erschrecken Sie nicht!) gerade auch in den Teppichetagen gefährlich hoch. Ancillo Canepa rechnet vor: «Achtzig Prozent der Verwaltungsräte und Manager sind integer. Zehn Prozent sind labil. Zehn Prozent sind schwarze Schafe.»
Man könnte es mithin auch so formulieren wie ein Mitglied der Arbeitsgruppe zum Swiss Code of Best Practice for Corporate Governance, das sich während einer langfädigen Sitzung entnervt von seinem Platz erhob und in den Raum schleuderte: «So, jetzt hören wir doch auf und vergessen diesen ganzen Gugus. Was am Ende zählt, ist doch nur der Charakter des einzelnen Managers.» Der lässt sich durch keine Verordnung ersetzen.
Literatur
– Peter Böckli: Corporate Governance auf Holzwegen. In: NZZ Fokus Nr. 10/2001.
– Economiesuisse: Swiss Code of Best Practice for Corporate Governance. Zürich 2002.
– Ethos, Schweizerische Anlagestiftung für nachhaltige Entwicklung: Corporate Governance der Schweizer Unternehmen 2004.
– Karl Hofstetter: Corporate Governance in der Schweiz. Zürich 2002.
– Konrad Hummler: Keimfreie Schweine. Ein Beitrag zu Corporate Governance. In: Anlagekommentar Nr. 233/2005 der Bank Wegelin & Co.
– Kurt Schiltknecht: Corporate Governance. Das subtile Spiel um Geld und Macht. Verlag NZZ, Zürich 2004.