Sie sind zu zweit, und sie arbeiten mit sanftem Nachdruck: Tensin und Dolma pressen kleine, mit erhitzten Kräutern gefüllte Baumwollsäckchen kurz und rhythmisch auf Scheitel, die Innenseite der Ellenbogen, Handflächen, Fusssohlen und andere Körperstellen. Dann folgt eine Massage, vierhändig, mit langen, fliessenden Bewegungen und punktgenauem Druck. Das Öl duftet exotisch, der Körper wird warm, der Bauch gurgelt, das Hirn schaltet auf Verlangsamung. Nach einer guten Stunde Wohltat sind Tensin und Dolma fertig. Sie bestäuben ihren Gast mit einer fein gemahlenen Mischung aus Gewürzen und Getreiden und schrubben ihm damit das Öl von den Gliedern.

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Diese antike tibetische Heilmassage soll sämtliche Kreisläufe im Körper anregen. Den Blutkreislauf natürlich, aber auch das lymphatische System, die Verdauung, die Atmung, das Nervensystem. Blockaden werden gelöst, Hindernisse aus dem Weg gestrichen. Nur wenn alles glatt und geschmeidig fliesst, ist Energie vorhanden – das ist das Ziel. Tensin und Dolma haben ihr Handwerk in Dharamsala gelernt, am Institut für Medizin und Astrologie des Dalai Lama. Jetzt arbeiten sie im «Vana Malsi Estate», einem vor knapp zwei Jahren eröffneten Wellness Retreat in den Ausläufern des Himalajas.

Wellness ist ein überstrapazierter Begriff, dessen positiver Gehalt Schaden erlitten hat. Laut dem «Oxford English Dictionary» entstand der Ausdruck als Gegenstück zu Illness bereits im 17.  Jahrhundert, doch die Wellness-Bewegung, so wie wir sie kennen, beginnt in den 1970er Jahren, als die Amerikaner Donald B. Ardell und John Travis neue, ganzheitliche Gesundheitsmodelle entwickelten, die nicht nur auf die Abwesenheit von Krankheiten zielten, sondern auf einen Zustand von physischer, mentaler und sozialer Zufriedenheit. Schnell wird der Begriff zu einem Modewort, anwendbar auf fast alles: Drinks, Duftkerzen, Haarshampoo, Hundefutter.

Keine Kuschelferien

Ganz besonders weit brachte es das Wohlfühl-Prädikat im Tourismusbereich. Wellness-Ferien haben Hochkonjunktur, sie gelten als wichtigster Trend in der Reisebranche und als mächtiger Wirtschaftsfaktor. Dabei macht sich neuerdings ein Richtungswechsel bemerkbar: Echten Spa-Junkies geht es nicht um oft esoterisch angehauchte Kuschelferien mit gelegentlichen Streichelmassagen.

Hotels, die eine Sauna, eine Erlebnisdusche und ein paar Massageliegen als Wellness-Bereich deklarieren und ihre Gäste mit einer 15-minütigen Willkommensmassage empfangen, haben bei Kennern keine Chance. Facials, die in einer Stunde Falten reduzieren sollen, gelten als ebenso lächerlich wie Blütenbäder und Entspannungsmusik. Im Trend liegen vielmehr jene Orte, die Wellness als konzentriertes, tagesfüllendes und durchaus auch mal anstrengendes Arbeiten an sich selbst verstehen. Man möchte die körperliche und psychische Gesundheit verbessern, stabilisieren und stärken, und zwar ohne Medikamente und auf meist angenehme Art.

Pionier der Wellness-Wissenschaft

«It’s an old wine in a new bottle», sagt Prof. Marc Cohen, einer der profiliertesten Gastredner des Global Spa and Wellness Summit, des alljährlichen Treffens der weltweiten Wohlfühlindustrie. «Schon die alten Römer badeten in heissen Quellen, weil sie wussten, es tut ihnen gut.» Marc Cohen gilt als Pionier der Wellness-Wissenschaft: 2002 wurde er Australiens erster Professor für ergänzende Heilmethoden und leitet das Studienfach Wellness an der RMIT University in Melbourne.

Studienfach Wellness? Seit 2008 können Studenten ein drei Semester langes Online-Aufbaustudium absolvieren und mit einem «Master of Wellness»-Diplom abschliessen. Prof. Cohen, der das Programm entwickelte und weltweit erstmals anbot, kann sich nicht über mangelnde Beteiligung beklagen. «Die gute alte Kur ist sexy geworden», glaubt er, «und zu verdanken haben wir das ein paar Freaks, die den Gesundheitsurlaub neu erfunden haben.»

360 US-Dollar pro Kopf

Veer Singh ist einer davon. Der smarte Inder ist der Gründer des «Vana Malsi Estate», einer 50-Millionen-Euro-Anlage mit mehreren wuchtigen Betonbauten in einem dichten Salwald. Die grosszügigen Räume in hellen Naturfarben mit Bambusböden und Sandsteinwänden wirken puristisch, die Gesundheitsküche schmeckt hervorragend, Pool, Wi-Fi, Wein – alles ist vorhanden. Wichtiger als Look und Luxus sind allerdings die 55 Behandlungskabinen für rund 75 unterschiedliche Anwendungen.

Koryphäen der ayurvedischen Heilkunde treffen hier auf tibetische Mediziner und Top-Akupunkteure. Jeder der 50 Wellness-Mitarbeiter ist erfahren, fragt man wahllos irgendwen nach vorherigen Arbeitsstationen, wird garantiert ein bekanntes Spa oder Gesundheitsinstitut genannt. Mit «Vana» wurde ein Ort geschaffen, an dem man sich bewusst dem optimalen eigenen Wohlbefinden nähert. Nichts soll davon ablenken, nichts die Absicht zerstreuen, nichts die Resultate verwässern. Wer hierherkommt, muss völlige Abgeschiedenheit in Kauf nehmen, mindestens fünf Tage bleiben und dafür ab 360 US-Dollar pro Kopf und Tag bezahlen.

Wellness-Fans geben viel mehr Geld aus

In einer Studie des amerikanischen Stanford Research Institute (SRI) wird der Umsatz, den Wellness-Reisen 2013 weltweit generierten, mit 494 Milliarden Dollar beziffert. Das sind 14,6 Prozent des Gesamtumsatzes im Reisegeschäft. Während das Wachstum im weltweiten Tourismus im vergangenen Jahr bei 8,7 Prozent lag, legte der Wellness-Bereich 11,8 Prozent zu. Laut der SRI-Studie entstehen durch Wellness-Reisende weltweit 14,5 Millionen Arbeitsplätze, die wirtschaftlichen Auswirkungen summieren sich auf 1,5 Billionen Dollar. Wird dieser Markt wie prognostiziert weiterhin um gut 10 Prozent pro Jahr wachsen, dann ist 2017 ein Umsatz von 678,5 Milliarden Dollar zu erwarten.

Die Studie lieferte erstmals Orientierungswerte im aufwärts strebenden Segment des Wellness-Tourismus: «Jahrzehntelang wurden Ferien mit Exzessen in Verbindung gebracht. Zu viel Essen, zu viel Trinken, zu wenig Schlaf führten dazu, dass es vielen Reisenden am Ende ihrer Ferien schlechter ging als davor», erklärt Ophelia Yeung, leitende Autorin des Berichts. «Urlauber suchen gezielt nach gesunden Optionen.» Und sie bezahlen dafür: Glaubt man der SRI-Studie, geben Wellness-Fans im Schnitt 59 Prozent mehr Geld aus als normale Touristen.

Spa-Besucher, die mehr wollen

Die Aussicht auf lukrative Geschäfte hat zu einem allgemeinen Spa-Aufrüsten geführt. Hotels schrauben das Budget für entsprechende Anlagen in die Höhe und achten auf fachkundiges Personal. «Spa-Besuche haben eine rasante Entwicklung hinter sich», sagt Susan Harmsworth, die 1993 das Unternehmen ESPA in London gründete und mit rund 490 Spas in 36 Ländern präsent ist.

«Erst waren sie ein Privileg für Wohlhabende, dann wurden sie zu einem besonderen Vergnügen oder einem netten Geschenk für jedermann. Jetzt aber sehen wir Spa-Besucher, die mehr wollen. Sie suchen nicht einfach eine Massage im Urlaub, sondern Fachwissen, resultatorientierte Behandlungsmethoden und die Möglichkeit, zu lernen, wie man richtig isst und gesund bleibt.» ESPA Life nennt sich ihr jüngstes Konzept, das ergänzende alternative Therapien wie Naturheilkunde, Chiropraktik oder Akupunktur bietet und mit ganzheitlich denkenden Gesundheits-Spezialisten arbeitet – zu erleben beispielsweise im glamourösen Hotel Corinthia in London oder im schottischen Gleneagles Hotel.

«Jeder versucht auf den fahrenden Zug aufzuspringen», sagt Anne Biging, Gründerin und Geschäftsführerin von Healing Hotels of the World, «deshalb überprüfen wir ganz genau, ob potenzielle Mitglieder unserer Vereinigung unsere Kriterien wirklich erfüllen.» Zur Healing-Gruppe gehören derzeit weltweit 108 Hotels und Resorts, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, das Leben ihrer Gäste spürbar und langfristig zu verbessern. Dabei geht es auch um eine Bestandsaufnahme und um einen Lernprozess: Wie fühlt sich der Mensch, woran fehlt es, was kann er besser machen, wie kann er gesund bleiben?

Individuelle Lösungen sind ein Muss

«Jeder Mensch ist anders und hat in verschiedenen Lebensphasen unterschiedliche Bedürfnisse», erklärt Wellness-Expertin Anne Biging. «Unsere Bandbreite erlaubt sehr individuelle Lösungen. Klösterliche Strenge und Stille können genauso gut vermittelt werden wie ein charmantes Beach Resort.»

Der Tiroler «Lanserhof» beschäftigt ein Team aus sieben Ärzten und über dreissig Therapeuten. Das Lans Med Concept basiert auf Prävention und Regeneration. Es ist so erfolgreich, dass vor drei Jahren das «Lans Medicum», ein Tageszentrum in Hamburg, eingeweiht wurde und Anfang 2015 ein zweites Gesundheitsresort am Tegernsee eröffnete. Im «Kamalaya» auf der thailändischen Insel Koh Samui gibt es ein spezielles Programm für Menschen, die unter Schlaflosigkeit leiden; im «Lefay» am Gardasee wurde eine Energiefluss-Therapie entwickelt, die die jahrtausendalten Prinzipien der klassischen chinesischen Medizin mit denen der wissenschaftlichen Forschung der westlichen Welt vereint, und in der ultra-schicken «Sha Wellness Clinic» an der spanischen Mittelmeerküste entstand 2008 das weltweit erste makrobiotische Gesundheitsresort.

Das «Sha» wurde ebenfalls von einem Freak gegründet: Der Argentinier Alfredo Bataller Parietti ist überzeugt, ein langjähriges, schweres Leiden dank Makrobiotik geheilt zu haben, und möchte diese Erfahrung anderen weitergeben, bevor sie körperlich so krank werden wie er: «Vorbeugende Gesundheitspflege ist sinnvoll», sagt er. «Wir versuchen sie so angenehm wie möglich zu verpacken, und es scheint, als ob viele Menschen geradezu auf dieses Angebot gewartet hätten.»

Lebendiger Beweis

Als Mitte November 2015 der Global Spa and Wellness Summit des Jahres in Mexico City zu Ende ging, gönnten sich einige der beteiligten Wellness-Profis ein «post summit retreat». Ziel ihrer Reise war die Ranch «La Puerta» in Tecate, an der Grenze zwischen Mexiko und Kalifornien, am Fusse des mächtigen, den Indianern heiligen Bergs Kuchumaa. Das bereits 1940 eröffnete Resort wird von Gesundheitsexperten aus aller Welt als Retreat genutzt und bietet holistische Gesundheitsprogramme sowie biologische Gesundheitsküche.

Die inzwischen über 90-jährige Gründerin Deborah Szekely gilt als Pionierin der Fitness-, Spa- und Wellness-Bewegung. Sie ist noch immer im Resort präsent, hält wöchentliche Lesungen und ist der beste Beweis dafür, wie gut Wellness funktioniert.