Im vergangenen Januar geriet die beschauliche Schweizer Weinszene in Aufregung: David Schildknecht, als Weinkritiker in Robert Parkers einflussreicher Gazette «The Wine Advocate» («TWA») zuständig für die Weine Mitteleuropas, hatte vier Schweizer Weingüter in seine Bestenliste des Jahres 2012 aufgenommen. Nie zuvor war die helvetische Weinerzeugung auf Parkers publizistischem Radar aufgetaucht. Die Aufnahme in den «TWA» wurde von den hiesigen Protagonisten als Adelsschlag empfunden.

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Einer der vier Auserwählten heisst Pierre-Luc Leyvraz aus Chexbres VD. Sein herausragendes Gewächs ist der St-Saphorin Les Blassinges. Der spannungsvolle Wein stammt aus der Chasselas-Traube. Chasselas ist die wichtigste weisse Rebsorte der Schweiz. Banausen keltern daraus banale, langweilige Weine, Könner dagegen filigrane, subtile Tropfen. Das Terroir, auf dem die Trauben wachsen, bestimmt ihren spezifischen Ausdruck – eine Qualität, die nur wenige Rebsorten besitzen.

Der Waadtländer Pierre-Luc Leyvraz gilt als einer der grossen Chasselas-Meister der Romandie. Wie jeder eingefleischte Winzer führt er den Besucher zuerst in den Rebberg. Wir stehen auf einer schmalen Terrasse oberhalb des Dörfchens St-Saphorin. Die Bise peitscht über den Genfersee. Im Windschutz einer Trockensteinmauer zeigt Leyvraz auf die verschiedenen Parzellen, aus denen er die Trauben für den Blassinges gewinnt. Alle liegen innerhalb der Appellation St-Saphorin, die zum Lavaux gehört, das wiederum ein Weltkulturerbe der Unesco ist. Leyvraz pflegt die knorrigen Rebstöcke mit der Akkuratesse eines Ziergärtners. Er kennt jede einzelne der knapp 30 000 Pflanzen, denn den Winterschnitt besorgt er alleine. «So kann ich den Stock besser im Gleichgewicht halten. Dadurch erübrigt sich später im Jahr meistens eine Ertragsregulierung.» Zu tiefe Erträge bekommen dem Chasselas ohnehin schlecht. Die daraus resultierenden höheren Öchslegrade gehen auf Kosten der Mineralität. Und die mineralische Note ist ein Kennzeichen von Leyvraz’ St-Saphorin-Weinen. Sie verleiht ihnen ihre charakteristische Tiefe.

Auch im Alter noch rüstig

Pierre-Luc Leyvraz ist nicht nur ein umsichtiger Winzer – er ist vor allem ein begnadeter Weinmacher. Er legt Wert auf eine wochen-, ja monatelange alkoholische Gärung, die er mittels geschickt eingesetzter Kühlung steuert. Nur so bewahrt er seinem Blassinges die feinfruchtige Aromatik und aussergewöhnliche Frische. Begleitet wird die lange Fermentation von unablässigem Verkosten. Am meisten Zeit beansprucht die Degustation der einzelnen Cuvées vor dem Abfüllen. Dann zählt Leyvraz die Stunden, die er im Keller verbringt, nicht. Seine Aufgabe gleicht nun der Präzisionsarbeit eines Parfümeurs.

Die Summe dieser Anstrengungen führt zu einem einzigartigen Chasselas, der bei allen Jahrgangsunterschieden immer als Blassinges erkennbar bleibt. Zudem altert der Wein phänomenal. Die 2006er und 2007er wirken noch höchst lebendig, selbst der 1996er ist noch rüstig. Bezüglich seines Reifepotenzials ist Leyvraz’ Wein etwa mit dem Pinot noir von Martha und Daniel Gantenbein aus Fläsch GR durchaus vergleichbar.

In der Bündner Herrschaft entkorkt Daniel Gantenbein regelmässig ältere Gewächse seines berühmten Weins. Mit Vorliebe im grosszügigen, hellen Obergeschoss des 2006 gebauten Kellers, über dessen herausragende Architektur des Büros Bearth & Deplazes so viel geschrieben wurde, dass fast vergessen ging, was ihre Funktion ist: den Rahmen für die Erzeugung von grossartigen Weinen zu schaffen. Vor drei Jahren wurden die Pinot-noir-Jahrgänge 1995 bis 2008 degustiert. Bis auf den etwas angeschlagenen 1998er zeigten sich alle Weine in beneidenswerter Form.

Martha und Daniel Gantenbein starteten 1982 in einem Bauernkeller im alten Dorfteil von Fläsch mit einem süffigen, landweinartigen Blauburgunder. Bald gab sich das ehrgeizige Paar damit nicht mehr zufrieden. Reisen in die grossen Weingebiete der Welt und Freundschaften mit erstklassigen Winzern bestärkte es darin. Die guten Burgunder setzten die Messlatte für ihren Pinot noir.

Stars ohne Allüren

Der erste Schritt zur Qualitätssteigerung bestand in der Ertragsbegrenzung auf 500 Gramm Trauben pro Quadratmeter. Die Bündner Kollegen hielten die beiden für verrückt, staunten aber, als sie erkannten, dass hier das Potenzial des fabelhaften Jahrgangs 1990 nicht wie bei andern Winzern verschenkt wurde, sondern dass die Gantenbeins daraus ihren ersten richtig guten, dichten Wein kelterten. Der zweite Schritt war die Umstellung auf Barriques. Ab 1995 wurde der Pinot noir ausschliesslich in neuen Eichenfässchen ausgebaut. Der dritte Schritt brachte die langsame Umstellung auf kleinbeerige Burgunderklone auf schwachwüchsiger Unterlage in einer hohen Stockdichte, was die Belastung des einzelnen Stocks reduziert und die Reben in grössere Konkurrenz zueinander stellt. Parallel dazu wurde die Kellerarbeit sukzessive verfeinert.

Obwohl die beiden international inzwischen den besten Ruf aller Schweizer Winzer besitzen, hat sie der Erfolg nicht verdorben. Starallüren sind keine festzustellen. Höchstens eine gewisse Distanziertheit, die mehr aus einem Bedürfnis nach Selbstschutz als aus dem Temperament oder dem Charakter des symbiotisch agierenden Paars resultiert. Hat man diese Distanz einmal überwunden, erlebt man eine unkomplizierte Zugänglichkeit. In Anlehnung an Max Frisch möchte man dann kalauern: «Mein Wein sei Gantenbein.»

Die dritte Schweizer Hauptsorte neben Chasselas und Pinot noir ist der Merlot. Um ihn kennen zu lernen, muss man ins Tessin reisen – zu Anna Barbara von der Crone und Paolo Visini nach Barbengo ins Luganese. Die beiden sind die Ticinesi in Schildknechts Auswahl. Wie Martha und Daniel Gantenbein teilen sich Anna Barbara und Paolo partnerschaftlich alle Arbeiten der Weinerzeugung. Und wie die Gantenbeins bauten sie 2006. Der schmale, elegante Kubus aus Sichtbeton und Kastanienholz bietet einen wunderbaren Ort zum Leben und Arbeiten. Ein guter Geist liegt über der Landschaft, die doch nur wenige Kilometer vom Lärm und von der Hässlichkeit der Grancia-Ebene entfernt ist.

Die Arbeitsphilosophie des Paares, das sich nach dem frühen Tod von Anna Barbaras Mann Ueli Kopp gefunden hat, passt perfekt zusammen: Von der Crones durch das Agronomiestudium analytisch geprägte Sichtweise, bereichert durch die Geduld und das Organisationstalent einer vierfach erprobten Mutter, wird durch Visinis Risikofreude, seine Beobachtungsgabe und sein Kommunikationstalent trefflich ergänzt.

Charakteristische Duos

Die zwei erzeugen nicht weniger als sechs verschiedene Merlots. Sie räumen ein, dass sie lange diskutiert hätten, ob nicht eine Reduktion auf einen Erst- und einen Zweitwein sinnvoll wäre. «Die Terroirunterschiede sind aber doch beträchtlich», sagt von der Crone. «Und das ist im Geschmack spürbar», ergänzt Visini. Deshalb hielt man an der Differenzierung fest. Die Weine spielen denn auch bravourös mit dem jeweiligen Ausdruck des Rebbergs.

Es sind drei Paare, die stetig an Gewicht, Intensität und Lagerpotenzial gewinnen: die fruchtigen, heiteren Vigoria und Scalin sowie die ernsteren, aber immer noch fruchtig-würzigen Gota und Tinello. Lagenbedingt immer blumiger, weicher jeweils der erstgenannte Wein, tanninbetonter und viriler der zweite. Zuvorderst steht aber das Paradepaar Balin und Scala. Beide werden lange vergoren und 18 Monate in zur Hälfte neuen Barriques ausgebaut. Zwei noble, finessenreiche Spitzenweine – wiederum vollmundiger, floraler und weicher der Balin; strenger, straffer, mineralischer der Scala. Allesamt sind Duos, die auf höchstem Niveau von einem Winzerpaar handwerklich gefertigt werden, das sich schicksalhaft gefunden hat.