Sie sei völlig verändert zurückgekehrt, sagt der Ire über die Kollegin, die ihm die Kur empfohlen hat. «Sie sieht besser aus, schlanker und jünger.» Zudem sei sie vorher eher missmutig gewesen. «Jetzt ist sie ein fröhlicher Mensch.» Sie komme jetzt regelmässig hierher. Mal für zwei Wochen, mal für eine, mal für drei.
Der etwa sechzigjährige Ire ist gestern angekommen, mit dem Flugzeug von Dublin nach Ljubljana, das rund 100 Kilometer entfernt vom Kurhotel The Original FX Mayr am Wörthersee in Österreich liegt – 500 Autokilometer von der Schweizer Ostgrenze entfernt. Der Ire hat ein eigenes Unternehmen aufgebaut, das inzwischen in 26 Ländern präsent ist. Nun spaziert er im Wald und muss immer wieder husten. Bronchialprobleme, die er hier loswerden will, zusammen mit einigen Kilos zu viel. Insgesamt wirkt er nicht nur atemlos, sondern auch zerknirscht.
Kleinste Krümel vom Teller gabeln
In den ersten Tagen der Kur leiden die meisten Gäste. Schon eine Woche vor Kurbeginn soll nicht nur auf Alkohol, Kaffee und Zucker verzichtet werden, sondern auch auf das Abendessen. Dadurch hat das Verdauungssystem 16 bis 18 Stunden Ruhe pro Tag. Das reicht, um den Prozess der Autophagie auszulösen. Dabei bauen Körperzellen unbrauchbare Bestandteile ab, die sonst die Funktionsweise der Zellen behindern können.
Während der Kur gibt es leicht Verdauliches zu essen: kaum Rohkost und Salat, meist glutenfreie Mahlzeiten. Am Morgen kleine Mengen warmes Porridge, vielleicht ein Rührei, zu Mittag gekochtes Gemüse, vielleicht Fisch dazu oder Fleisch, am Abend dünne Suppe. Oft gibt es glutenfreies, trockenes, mühsam zu kauendes Buchweizenbrot, vom Personal «Kautrainer» genannt. Die Kurgäste sollen lernen, öfter zu kauen, dreissigmal pro Portion im Mund als Faustregel, bis das Essen breiig gekaut ist. Zur Entlastung des Darms und Magens, denn die Hälfte der Verdauung passiere bereits im Mund. Da die Verdauung schon vorher anfange, wenn man ans Essen denkt, sollen Ablenkungen vermieden werden. Im Restaurant sind alle elektronischen Geräte verboten, es wird sogar empfohlen, in Stille zu essen.
Am Tag nach der Anreise finden die ärztlichen Untersuchungen statt. Sie entscheiden darüber, wie viel Nahrung ein Gast erhält. Einige schwerere Patienten, die stark abnehmen wollen, erhalten fast nur Suppe, andere bekommen über 1000 Kalorien pro Tag. Satt wird niemand. Kein Wunder gabeln die Gäste selbst kleinste Krümel vom Teller. Ja, gabeln, denn fürs Vom-Teller-Lecken sind das Hotel und die Gäste doch zu nobel.
Etwa der Hedgefondsmanager aus London, der 2,6 Milliarden Pfund verwaltet, sowie sein Kollege, ein britischer Strafrechtler, der gerne Hollywood-Produzent Harvey Weinstein gegen Vergewaltigungsvorwürfe verteidigen würde. Beide sind etwas füllig, Mitte fünfzig und unanständig höflich: Sie wollen allen die Türe aufstossen, den Vortritt aufdrängen. Beide sind Upperclass, sie reden wie die Queen.
Internationale Klientel wandert und hungert
Auch die nobelsten Gäste müssen während der Kur, die der Österreicher Franz Xaver Mayr vor mehr als hundert Jahren entwickelt hat, viel Zeit auf dem Klo verbringen. Alle trinken am Morgen auf nüchternen Magen einen Teelöffel Bittersalz in einem Glas Wasser aufgelöst. Zwei Stunden später rumpelt der Magen. Alle Gäste erhalten ein Basenpulver, das täglich getrunken wird und die Säure-Basen-Balance verbessern soll, weil wir anscheinend alle viel zu sauer essen. Über die Wirksamkeit des Pulvers sagt ein Hausarzt in der Schweiz: Kann nicht schaden. Zudem gibt es Probiotika, also Mikroorganismen, die die Darmflora bereichern sollen. Sie soll möglichst vielfältig sein und nicht im Übermass einzelne Mikroorganismen enthalten, die die Verdauung aus der Balance bringen. Dazu wird viel Tee getrunken und Nahrungsergänzungen werden geschluckt – Omega 3, Vitamin C, Magnesium, B12, um die häufigsten aufzuzählen. Was genau ein Gast erhält, hängt von Blut- und Urinanalysen ab.
Das Kurhotel beherbergt Wohlhabende aller Weltregionen: Griechen, Schweden, Russen, Deutsche, Türken, Kanadier, Australier. Auch Zwei Saudi-Araberinnen sind da und mindestens eine Amerikanerin. Sie ist Ende vierzig, leitet eine Fahrradproduktions- und -handelsfirma. Sie hat Trump gewählt und musste wegen seiner neuen Zölle ihre Produktion von China in andere Länder verlagern, vor allem nach Taiwan.
Schweizer kuren auch in Österreich: Ein Pärchen, beide Mittfünfziger aus dem Raum Basel, und ein Garagist, Mitte sechzig, mit mehreren Betrieben in der Ostschweiz. Er erzählt, dass die Marge auf dem Verkauf von Kia-Autos noch bei 11 Prozent liege und die Generalimporteure viel Druck auf ihn und seine Kollegen ausübten. Er selbst habe deswegen schon die Automarke gewechselt, die er in seinen Betrieben verkaufe.
Neben der Nahrung wird auch darauf geachtet, dass sich die Muskulatur lockert: Massagen, Shiatsu, Osteopathie. Zudem ist Bewegung wichtig. Es gibt Personal Trainer, ein Frühturnen und Judith. Sie führt mit ihrem Hund die tägliche Wanderung durch. Judith ist schon seit Jahrzehnten für das Kurhotel tätig und kennt viele Geschichten. Sie erzählt vom Russen, der eines Nachts hungrig in die Küche geschlichen sei und den Kühlschrank leergegessen habe. Am nächsten Morgen habe man zuerst das Personal verdächtigt, bis das Zimmermädchen unter dem Bett des Russen Überreste seines nächtlichen Feldzuges gefunden habe. Seither ist die Küche nachts verriegelt.
Kinderbanden in London
Auf der Wanderung kommen die Gäste ins Gespräch. Da ist etwa der Journalist, halb Spanier, halb US-Amerikaner. Er ist Anfang sechzig, hat lange für die «Washington Post» gearbeitet, lebt schon Jahrzehnte in Paris und war zuletzt Politjournalist für einen französischen Fernsehsender. Er war Afrika-Korrespondent, als in Äquatorialguinea noch Masie Ngueme Biyogo an der Macht war, ein Onkel des heutigen Machthabers. Ersterer hat an einem Weihnachtsabend 150 politische Gegner im Fussballstadion von Soldaten in Weihnachtsmann-Kostümen erschiessen lassen. Währenddessen dröhnte aus den Lautsprechern das Lied «Those were the days». «Those were the days, my friend, we thought they’d never end», singt der Hotelbesucher, der die Geschichte der afrikanischen Neuzeit kennt.
Fast die Hälfte der Kundinnen und Kunden des Kurhauses seien wiederkehrende Gäste, schätzt die Schweizer Geschäftsführerin Gabriella Schnitzler. Die 61-Jährige ist seit 2014 für das Kurhaus tätig. Vorher war sie in leitenden Positionen für Marken wie Prada, Louis Vuitton, Estée Lauder, La Prairie und Guerlain tätig. Für Prada leitete sie das Nordeuropa-Geschäft.
Zu den Stammgästen gehört der Chefstratege der weltgrössten Versicherung. «Grüss Gott» ist sein Hallo im Hotelflur. Die Vorbesitzer seines Ferienhauses hätten ihn einst auf die Kur aufmerksam gemacht. Jetzt komme er immer am Jahresanfang für zwei Wochen. Er wolle gut ins Jahr starten, Vorsätze gleich umsetzen. Der Effekt der Kur halte jeweils ein halbes Jahr an – mehr Energie, mehr Ausgeglichenheit.
Die Gespräche unter den Gästen machen die Kur intellektuell spannend. Der britische Strafrechtler erzählt, dass er seinem Teenager-Sohn davon abrät, mit Mädchen allein hinter geschlossene Türen zu gehen. Zugross sei die Gefahr von Vergewaltigungsvorwürfen. Rund 60'000 Anzeigen pro Jahr in Grossbritannien bei gleichzeitig nur 2000 Verurteilungen – so sein Vergleich des Schreckens.
Die Londoner Fraktion ist die stärkste unter den Gästen. Sie erzählen, dass ihre Stadt inzwischen nicht mehr sicher sei. Es gebe Kinderbanden, die ihre wohlhabenden Sprösslinge ausraubten. «Aber unsere Kinder beklauen sie nur, untereinander sind die gewalttätig, erstechen sich gegenseitig», sagt einer.
So vergehen die Tage mit wenig Essen, leichter Bewegung und kurweiligen Gesprächen. Am siebten Tag ist der Ire wieder auf der Wanderung dabei. Er ist hustet nicht mehr, erzählt lustige Geschichten und bleibt noch zwei Wochen.
Dieser Artikel ist im Millionär, dem Magazin der «Handelszeitung», erschienen (März 2020).
THE ORIGINAL FX MAYR
Die Kur ist am besten für Leute geeignet, die abnehmen wollen. Zudem ist die internationale Klientel interessant. Im Sommer soll jeweils auch einige Hollywood-Prominenz vor Ort sein. Einzelzimmer: ab 260 Euro pro Nacht. Dazu die Mayr-Detox-Kur: 2250 Euro mit ärztlichen Untersuchungen und verschiedenen Behandlungen wie etwa Bewegungscheck, Detox-Wickel und Massagen. www.original-mayr.com