«Blühten in Zürich früher die Linden, setzte die Stadt ein Inserat ins 'Tagblatt'. Darin stand, die Bevölkerung dürfe die Blüten jetzt ernten und könne dafür bei der Verwaltung gratis Hochstammleitern ausleihen.» Maurice Maggi schmunzelt, wie er diese Geschichte erzählt; es stammt aus seiner Jugendzeit, Anfang der sechziger Jahre wird es gewesen sein. Die Eltern des 1955 Geborenen wanderten später mit den Kindern nach Rom aus, wo Maggi einen Teil seiner Schulzeit verbrachte. 1972 zurück in Zürich, machte er eine Lehre als Landschaftsgärtner und bildete sich autodidaktisch zum Koch und zum Pionier des Urban Gardening weiter.
Maggi sitzt in einem Gartencafé auf dem Idaplatz in Zürich, in dessen Nähe er seit vielen Jahren in einer Altbauwohnung lebt. Das Beispiel mit den Lindenblüten zum Selberpflücken bringt für ihn auf den Punkt, wie Mensch und Natur in einer Stadt harmonieren müssten. Wer vom Baum erntet, der neben seinem Haus wächst, entwickle einen anderen, sorgfältigeren Umgang zu dieser Pflanze und einen neuen Blick auf die Stadtnatur. «Je grüner eine Stadt ist und je mehr wir dieses Grün auch nutzen können, desto mehr Lebensqualität bietet sie uns.»
Urban Gardening ist Trend
Urban Gardening ist in den letzten Jahren zum Trend geworden. Von Amsterdam über Berlin bis Stockholm stellen Stadtbewohner Holzkisten auf Strassen und Plätze, füllen sie mit Erde und lassen darin Beeren und Gemüse, Kräuter und Obst spriessen.
Es gibt Städte - Zürich gehört dazu - die auch die gesteigerte Form pflegen, das Urban Farming: Auf Stadtgebiet oder im Umland pachten Aktivisten ganze Äcker oder Dachterrassen und pflanzen darauf an, was sie selbst brauchen und was sie über Gemüse-Abos, in Bio-Läden oder auf dem Wochenmarkt verkaufen können. Hochbeete gehören von Basel bis Genf bereits zum Stadtbild; sie stehen in Wohnsiedlungen, zieren brachliegende Grundstücke und sind beim Altersheim genauso anzutreffen wie beim Jugendhaus. Kein Zweifel: Die Schweizer Städte sind grüner geworden.
Der Wegbereiter
Dass es dafür Pioniere gebraucht hat, geht oft vergessen. Maurice Maggi ist so ein Wegbereiter, ohne den Zürich heute nicht so grün wäre. Das hat auch damit zu tun, dass Maggi gern über den eigenen Gartenhag schaut. Inspirieren lässt sich der 61-Jährige etwa von New York. Anfang der 1990er-Jahre reiste er erstmals in die pulsierende Stadt, um dort für längere Zeit als Küchenchef zu arbeiten. Er lernte die Green-Guerilla-Bewegung kennen, die dort schon seit den 1970er-Jahren aktiv ist.
Maggi selbst hatte in den frühen Achtzigerjahren sein Markenzeichen entwickelt: das Guerillagardening in Form von Blumen-Graffiti. Statt mit Spraydose rückt er nachts mit Pflanzensamen aus und sät heimlich Blumen aus. Vor allem Malven haben es ihm angetan; die «Rose der Bauerngärten» blüht von Juni bis zum ersten Frost, ist anspruchslos und robust, hat eine breite Farbpallette von schneeweiss bis dunkelviolett.
«Sie blüht auf Augenhöhe und wirkt wegen ihrer Dichte beruhigend auf den Verkehr», ist der gelernte Landschaftsgärtner überzeugt. Stünden Malven an den Rändern einer Kreuzung, führte dies zu einer harmonischen Brechung der Strassenlinien und zu einer sanften, unbewussten Entschleunigung.
Miteinander im urbanen Umfeld
Neben der begrünten Stadt ist das gute Miteinander im urbanen Umfeld ein weiteres Anliegen des Guerillagärtners. Der öffentliche Raum werde immer wichtiger, weil sich die Stadt gegen innen verdichte. Beanspruchten heute Stadtbewohner rund 40 Quadratmeter Wohnraum pro Kopf, sollten es eines Tages noch halb so viel sein. Das führe dazu, dass sich die Menschen mehr draussen auf Strassen und Plätzen aufhielten.
Diesen Räumen müsse man Sorge tragen: «Es müsste strikt das Recht des Schwächeren gelten. Zuerst kommt die Natur, dann der Fussgänger, dann das Velo, dann am Schluss das Auto. Leider gilt bei uns nach wie vor das Recht des Stärkeren; das Auto dominiert alles.»
Ideen aus New York
Dass es auch anders geht, wurde dem Zürcher kürzlich in New York bewusst. Mit Glanz in den Augen berichtet Maggi von seinem letzten Aufenthalt im Big Apple. Zu Weihnachten 2014 erfüllte er sich einen lang gehegten Traum und fuhr mit dem Atlantikdampfer «Queen Mary 2» an die Ostküste. «Es war ein erhebendes Gefühl, mit dem Schiff an der Freiheitsstatue vorbei zu gleiten und in den Hafen einzulaufen wie früher die Auswanderer.»
Von New York brachte er aber nicht nur schöne Erinnerungen mit, sondern auch viele Ideen. «Bis 2030 will die Stadt die grünste Metropole der Welt werden», berichtet Maggi - und redet sich ins Feuer, so dass die Gäste am Nachbartisch hellhörig werden und sich am Gespräch beteiligen. New York habe ein umfassendes Programm lanciert und in den letzten Jahren eine Million Bäume gesetzt. «Eine Million neue Bäume - das muss man sich einmal vorstellen», sagt Maggi kopfschüttelnd.
Verpflanzte Bäume
Er selbst hat es kürzlich in Zürich mit vier Stück versucht - und ist gescheitert. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion hatte er an einer zentralen Strasse vier Obstbäume in Beete gepflanzt, die das städtische Gartenamt für Zierbäume vorbereitet hatte. Die Bäumchen standen bei einem Restaurant und wurden von Anwohnern, Kindern und Passanten sofort ins Herz geschlossen. Sie gossen die ungewohnte Fauna und freuten sich darauf, im Herbst die Früchte zu ernten. Doch es kam nicht soweit: Grün Stadt Zürich grub die Bäume wieder aus und versetze sie an einen anderen Ort.
Dort würde es den Bäumen bessergehen, war die Begründung; am alten Ort hätten sie unter dem Streusalz und der Sonneneinwirkung gelitten und mit den herabhängenden Ästen Passanten behindern können. Maggi hält diese Argumente für vorgeschoben: «Die Bäume wären dort genau richtig gewesen, weil sie den Menschen vor Ort etwas gebracht hätten.»
Messbarer Einfluss aufs Klima
Dann kommt er wieder auf New York zu sprechen: Dort habe man nicht nur Bäume gepflanzt, sondern auch Velowege ausgebaut sowie Parks, Dachgärten und Stadtfarmen errichtet. Das sei nicht bloss schön fürs Auge, sondern habe einen messbaren Einfluss aufs Klima. Tatsächlich konnte New York seinen Footprint an Kohlendioxid innerhalb von sechs Jahren um 19 Prozent reduzieren (bezogen auf 2005). Bis 2030 will die City diesen Ausstoss um 30 Prozent, bis 2050 sogar um 80 Prozent senken.
«Wie in New York sollten die Quartiere auch in Zürich und anderen Städten autonomer werden und sich weitgehend selbst versorgen», sagt Maggi. Wo jedes Quartier die eigenen Parks pflege, das eigene Gemüse anbaue und auch Arbeit, Kultur und Bildung ihren Platz hätten, schrumpfe die Mobilität von selbst auf ein Minimum. Dies erhöhe die Lebensqualität enorm und sorge erst noch für stärkere soziale Bindungen. Das Beispiel mit den Bäumen in der Stadt, von denen man Lindenblüten oder Äpfel pflückt, sind für Maggi wegweisend: «Die Menschen haben dann einen direkten Bezug zur Natur und zu den Nachbarn, weil man die Pflanzen nur gemeinsam pflegen kann.»
Die Stadt als Nahrungsquelle
Dass es Maurice Maggi ernst ist mit der Behauptung, die Stadtnatur sei nicht bloss Zierde, sondern tatsächlich eine Nahrungsquelle, beweist sein Buch «Essbare Stadt». Das 320 Seiten dicke Werk ist 2014 im at-Verlag erschienen und versammelt 70 vegetarische Rezepte mit Pflanzen aus der Stadt von Ahorn, Bärlauch, Berberitze bis Mistel, Spitzwegerich, Weissdorn.
Zu jeder Jahreszeit, also auch im Winter, zieht Maggi los und entdeckt vor der Haustür Wildpflanzen, die er sammelt und in seiner Küche verwertet. Ein Beispiel: Kaum wird es Frühling, zupft er jungen Löwenzahn, macht daraus Salat mit einer Sauce aus hausgemachtem Waldmeisteressig und serviert diesen mit Huflattichblinis und Bärlauch-Brunnenkresse-Pesto.
Mit Bedacht
Was abenteuerlich tönt, ist bei Maurice Maggi ein überlegter, ritualisierter Ablauf. Maggi sammelt nicht einfach blindlings drauflos, was die Stadtnatur hergibt, sondern geht mit Bedacht ans Werk. Er nimmt nur das mit, was er kennt, und von jeder Art nur so viel, wie er braucht.
Er lässt immer genug Pflanzen stehen, damit auch andere Sammler noch etwas davon haben und genug Samen übrig bleiben fürs langfristige Überleben der Art. Er rupft nicht einfach aus, sondern schneidet mit dem Messer ab; so erholt sich die Wildpflanze besser. Er sammelt nicht in Schutzgebieten und lässt geschützte Arten stehen. Er nimmt nicht von überall, sondern meidet Orte mit starken Umwelteinflüssen wie Hundewege, befahrene Strassen, nach Urin riechende Ecken.
Wer so vorgehe und die Ernte zuhause wasche, könne das Stadtgrün bedenkenlos geniessen. Mehr noch: «Wildpflanzen sind unbehandelt und unverfälscht frisch - es gibt sie ja nur dann, wenn sie wachsen.» Die Natur sei so raffiniert, dass die saisonalen heimischen Arten genau jene Stoffe enthielten, die für unseren Körper in der entsprechenden Jahreszeit besonders bekömmlich seien. Im Sommer seien dies wasserhaltige Früchte, Gemüse und Beeren, im Herbst lagerfähige Wurzeln und Obstsorten.
Florale Graffitis
Dass man ihn als Guerillagärtner bezeichnet, stört Maurice Maggi nicht. Jedoch versteht er seine Kunst als ein leises, sanftes Mittel, um Prozesse in Gang zu bringen. Im Gegensatz zu Guerilla-Aktionen, die auf Gewalt setzen, brauchen seine Initiativen vor allem eines: Geduld. So wie in der Natur nichts von heute auf morgen gedeihe, benötige auch eine Stadt als Organismus Zeit, bis sich etwas verändere. Zuerst müsse in den Köpfen der Bewohner ein Umdenken einsetzen, dann würden auch die Behörden allmählich umschwenken - und irgendwann seien die neuen Ideen salonfähig.
Maggi sieht dies exemplarisch bei seinen floralen Graffitis: Viele Jahre lang habe Grün Stadt Zürich seine heimlich gepflanzten Blumen entfernt. Das habe sich inzwischen grundlegend geändert, die städtischen Angestellten liessen Maggis Malven stehen und freuten sich sogar darüber. Mehr noch: «Heute macht Schweiz Tourismus Werbung mit Zürichs Malven.»
Weiter in Richtung New York
Zürich werde sich weiter in Richtung New York entwickeln, ist Maggi überzeugt. Das gelte für die Idee, Obstbäume in der Stadt zu haben, wie auch für andere Projekte, die Maggi noch im Kopf herumschwirren. Zum Beispiel gebe es in Zürich mehr als vier Hektaren versiegelter Trottoirflächen. Würde man davon überall einen Streifen von 10 Zentimetern begrünen, erhielte man zusätzliches Grün von der Grösse eines Parks wie der Josefwiese.
Auch das Überdachen von Gehwegen mit Stadtgrün wäre eine Möglichkeit - Maggi kann diesen Sommer einen entsprechenden Pilotversuch starten. Und zu guter Letzt träumt der Blumenrebell davon, dass in Zürich eines Tages «auch alle Hausfassaden von oben bis unten begrünt sind».
(sda/ccr)