Torgau, Rosenheim, Delbrück, Barth - die Liste der für Wahlkampfauftritte von Bundeskanzlerin Angela Merkel besuchten Orte unterscheidet sich 2017 erheblich von der früherer Kampagnen. Der Grund dafür ist nicht nur, dass die Union ihre vergleichsweise grössere Anhängerschaft in kleineren Kommunen mobilisieren will. Merkel hat die Entwicklung der ländlichen Gebiete auch zu einem zentralen Wahlkampfthema gemacht.

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Auch im SPD-Wahlprogramm finden sich die Begriffe «ländlicher Raum» und «ländliche Regionen» gleich 20 Mal. Und das Bundeskabinett hat nicht ohne Grund kurz vor der Wahl noch einen Fortschrittsbericht für die Entwicklung strukturschwacher Gebiete in Deutschland verabschiedet.

Spätestens seit den Wahlen in den USA und Grossbritannien beherrscht eine Sorge die Volksparteien: Der Unmut von Menschen, die sich fern der Metropolen von der Politik und der Entwicklung des Landes abgehängt fühlen, könnte für ein politisches Abdriften sorgen. «Die Politik hat die ländlichen Räume jahrelang vernachlässigt und Entwicklungsimpulse eher zugunsten der Ballungszentren geschaffen», sagt der Präsident des Deutschen Landeskreistages, Reinhard Sager, zu Reuters.

Wachsende Kluft Stadt-Land?

«Wir wissen, dass die Situation der Menschen in Deutschland völlig unterschiedlich zwischen München und anderen Regionen ist», betonte auch Merkel etwa in ihrer Wahlkampfrede in Delbrück. In den Grossstädten könnten manche Menschen ihre Mieten nicht mehr zahlen, es fehlten Wohnungen. In den ländlichen Gebieten wie in ihrem Wahlkreis in Vorpommern dagegen sorgten sich Bürger um den öffentlichen Nahverkehr, die ärztliche Versorgung oder den Zugang zum Internet. «Dabei schreibt das Grundgesetz die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in ganz Deutschland vor», sagte die CDU-Chefin.

Dies erscheint wie ein Paradigmenwechsel in der Debatte. Denn seit der deutschen Einheit wurde zunächst vor allem über die Angleichung der Lebensverhältnisse in den alten und neuen Bundesländern diskutiert. Angesichts der zunehmend schwierigen Lage in finanzschwachen Kommunen etwa in Nordrhein-Westfalen kippte die Diskussion über die Zukunft des Solidaritätsbeitrages dann aber zur Frage, ob man nicht auch verstärkt strukturschwache Gebiete im Westen fördern müsse. Doch nun dominiert das Gefälle zwischen Stadt und Land die Debatte der Wahlkämpfer.

Städte und Landkreise fordern mehr und andere Hilfe

«Wegzukommen von der Förderung nach Himmelsrichtungen Ost und West hin zur Förderung nach dem Kriterium der Strukturschwäche, ist richtig», sagte auch Helmut Dedy, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages am Mittwoch. Er fordert von Bund und Ländern ein gesamtdeutsches Regionalfördersystem. Ansätze dazu gab es in der grossen Koalition - wobei Union und SPD jeweils die Verantwortung für sich reklamieren.

Mehr Geld zahlt der Bund den Kommunen mittlerweile für Flüchtlinge und auch für die Sanierung von Schulen, die eigentlich kommunale Angelegenheit ist. Zum anderen aber muss wegen der Digitalisierung neu gedacht werden. Denn abgelegene Dörfer in Deutschland sind zwar mit Strom, Wasseranschluss und Strassen ausgestattet. Aber sowohl Merkel als auch SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz haben mehrfach davor gewarnt, dass die ländlichen Räume keine Entwicklungschancen haben, wenn sie keine Breitband-Anbindung erhalten. Die Opposition attackiert die Regierung, hierfür in den vergangenen vier Jahren viel zu wenig getan zu haben.

Investitionen sollen demografischen Wandel entgegenwirken

Dabei gerät die Regierung von zwei Seiten unter Druck. Denn der Subventionsbericht der Bundesregierung vermeldete einen Anstieg an Subventionen - eben weil der Bund verstärkt etwa den Breitbandausbau in Gebieten finanziert, die von den Telekom-Unternehmen mangels Rentabilität links liegen gelassen werden. Merkel mahnte, der Begriff «Subvention» sei irreführend. Wie der Präsident des Landkreistages fordert sie Lockerungen des EU-Beihilferechts für solche Gebiete. «Die Schaffung eines Bundesministeriums für die ländliche Entwicklung könnte einen wesentlichen Beitrag zur Bündelung verschiedener Zuständigkeiten leisten», fordert Sager zudem.

Die verstärkte Investitionen in ländliche Räume sollen dabei auch einem Phänomen entgegenwirken, das besonders im Osten sichtbar wird: Der demografische Wandel, fehlende Jobs und schlechte Versorgung sorgen für Abwanderung und Veralterung ohnehin dünn besiedelter Gebiete. Merkels eigener Wahlkreis in Vorpommern wurde wegen sinkender Bevölkerungszahlen für die Wahl 2017 neu zugeschnitten und vergrössert.

Schockwellen aus den USA und Grossbritannien

Auch wenn die Wahlkämpfer dies nicht so deutlich sagen: Die Entdeckung der Regionen erklärt sich mit dem Schrecken über Wahlergebnisse in den USA und Grossbritannien. Dort stimmten vor allem Wähler in strukturschwachen Gebieten für US-Präsident Donald Trump und für den Brexit. Zugleich ist das Misstrauen gegenüber klassischen Medien grösser, weil diese oft in den Ballungszentren sitzen.

Diese Sorge gibt es auch in Deutschland angesichts des Erstarkens der rechtspopulistischen AfD. «Wir haben nicht immer auf alles ausreichend geachtet, hätten den Menschen mehr zuhören sollen», räumte Merkel bei ihrem Auftritt im vorpommerschen Wolgast am 8. September selbstkritisch ein. «Aber ein bisschen können wir auch lernen und aufnehmen.»

Dass automatisch die AfD von der wachsenden Kluft zwischen Stadt und Land profitieren könnte, bezweifelt der Chef des Forschungsinstituts Insa, Hermann Binkert, allerdings. Er verweist darauf, dass die AfD auch in einer Stadt wie Pforzheim stark sei - und in der Hauptstadt Berlin. Dort liegt die AfD laut einer neuen Infratest-dimap-Umfrage für die «Berliner Morgenpost» derzeit bei zwölf Prozent - zwei Prozent über dem von dem Institut erhobenen Bundesschnitt.

(reuters/ccr)