Wir hetzten mit heissen Waden und ausgedörrtem Rachen durch das Eis- und Steinschlaginferno einer grossen Wand am Ama Dablam, einem der schönsten Berge der Welt. Wir brüllten uns gegenseitig an, noch schneller zu klettern, denn wir hatten Angst davor, erschlagen zu werden. Nur unter schützenden Felsüberhängen gönnten wir uns minutenlange Pausen. Die Nacht zuvor am Wandfuss hatte ich nur wenige Minuten geschlafen und geträumt, in einem riesigen Trichter zu stehen, in den alle Eisbrocken des Himalaja hineinstürzten. Auch Reinhold sah am frühen Morgen nicht sehr ausgeruht aus. Als ich ihn darauf ansprach, sagte er, er habe keine Minute geschlafen. Freiwillig wären wir nie in diese Wand eingestiegen.
Da hingen aber 1000 Meter über dem Wandfuss Peter Hillary und seine zwei Gefährten, offensichtlich verletzt. Wir hatten beobachtet, wie sie am Vortag von einer Eislawine getroffen worden waren, sie brauchten unsere Hilfe. Die Luft war erfüllt vom Pfeifen und Sirren herabstürzender Steine und vom dumpfen Knall der Einschläge, manchmal auch vom Schwefelgeruch, wenn Stein auf Stein traf.
Um elf Uhr morgens hatten wir die halbe Wand durchklettert und erreichten Geoff, Peter und Murph. Sie hatten Knochenbrüche, andere Verletzungen und starke Schmerzen. Wir seilten sie Stück um Stück die tausend Meter ab, ausser Angst existierte kein Gefühl mehr, nur das möglichst schnelle Niedergleiten zählte. Um fünf Uhr abends erreichten wir den Fuss der Wand und liessen den Wahnsinn hinter uns. Selten habe ich mich so wohl gefühlt.
Manchmal pressiert es mit der Hilfe, und daraus resultieren die Adrenalintrips. So zum Beispiel, wenn Kameraden von einer Lawine verschüttet werden und die Wahrscheinlichkeit des Überlebens vom Tempo der erfolgreichen Rettung abhängt. Oder wenn der Reanimationsalarm ausgelöst wird und Mitarbeiter, die sonst in Zeitlupe leben, plötzlich Spurtfähigkeit zeigen. Manche sind geradezu süchtig danach, zu helfen und zu retten. Wie alles Suchtverhalten ist aber auch dieses unterschiedlich ausgeprägt, und das kam mir heute Morgen einmal mehr zum Bewusstsein: Ein Patient aus Zug mit einem frischen Herzinfarkt lag, 35 Minuten nachdem er ins Spital eingetreten war, auf dem Röntgentisch unserer Herzspezialisten. Sie öffneten mit ihren Kathetern das verschlossene Blutgefäss, ein guter Teil der Vorderwand des Herzens wurde gerettet. Dies, weil alle Beteiligten süchtig danach waren, das Beste zu machen, und zwar so schnell wie möglich. Leider sind nicht alle Verantwortlichen so süchtig, und das führt zum Beispiel dazu, dass Patienten aus der Stadt und der näheren Umgebung oft später ins Spital kommen als jene aus der Innerschweiz. Gleichgültigkeit, Kompetenzabwägungen und Finanzierungsfragen verzögern und schaden eben. Auch bei Hirnschlagpatienten dauert es noch viel zu lange, bis sie im Spital sind. Wertvolle Stunden gehen verloren, in denen Hirnfunktion gerettet werden könnte.
Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden ist etwas vom wenigen, was mich nach wie vor zur Weissglut treibt. Ärzte und Pflegefachfrauen, die Schmerzen eines Patienten ungenügend wahrnehmen und behandeln, sind dabei glücklicherweise eine «vanishing species». Andererseits aber hat die Gruppe von Gesundheitspolitikern und Ökonomen Zuwachs, die meinen, ein Hüftgelenksersatz erst zwei Jahre nach Beginn der Schmerzen – wie im günstigen Gesundheitssystem von Britannien – sei auch okay, weil dies weniger koste. In der medizinischen Forschung jedoch sind die motivierten Schnellen am Werk. Sars wurde enträtselt, die Vogelgrippe wird beherrscht werden, und die Erfolge im Kampf gegen den Krebs nehmen zu.
In solch feiner Gesellschaft ist es unverständlich, dass die Medizinische Fakultät der Universität Zürich ihre Positionen im Schneckentempo besetzt. Und wirklich langsam geht es bei der Gerechtigkeit zu. Warum denn dauern Verfahren in der Juristerei so lange? Ist wirklich nur die Komplexität der Materie schuld, dass die Wahrheitssuche im Fall Voser wohl noch Jahre dahindümpeln wird? Und ist es erträglich, dass alle möglichen Massenmörder frei herumlaufen und ihre Rente beziehen oder in vornehmen Resorts ihre späten Jahre geniessen?
Da könnte von Bergsteigern doch noch einiges gelernt werden.