Vor mir lagen die letzten zehn Meter vor dem Gipfel des Vinson-Massivs, des mit 4897 Metern höchsten Gipfels der Antarktis. Eine gleissende Sonne am schwarzblauen Abendhimmel vermittelte bei minus 40 Grad Celsius die Illusion von Wärme; wenige Berge ragten aus der antarktischen Wolkenwatte, die sich unendlich in den Horizont ausdehnte.
Seit 15 Jahren redeten und träumten wir von diesem Gipfel, mehrere Versuche scheiterten schon bei der Planung. Es gab keine privaten Flüge ins Herz der Antarktis, und wenn doch, so waren sie unerschwinglich teuer. Aber nun hatte Giles, der beste Pilot der südlichen Halbkugel, uns in seiner DC-3 aufs Inlandeis gebracht. Dort waren wir vor 28 Stunden gestartet, hatten einmal kurz geruht und standen nun am Erlösungspunkt. Auf den Frontzacken der Steigeisen, die Pickelspitze satt im griffigen Eis, machte ich die letzten Bewegungen hin zur Erfüllung meines Traums. Ein überwältigendes Hitzegefühl strömte aus der Tiefe meines Bauches den Rücken hinauf in den Kopf und wieder zurück – und hörte nicht mehr auf. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl, Konzert der Hormone und Mediatoren von Hypophyse bis Gonaden, ein Neurotransmittersturm, Glück in orgiastischer Form, das noch lange währte.
Es wird viel über das Glück geschrieben; Analysen, Ratgeber und Esoterisches sollen zu mehr Freude verhelfen. In unserer Gesellschaft ist es üblicherweise ein kurzes Glück: wenn wir mit dem grösseren Auto als der Nachbar vorfahren, den grösseren Weinkeller, die bessere Kunstsammlung, das schönere Haus oder den höheren Lohn präsentieren können. Ein kurzes Glück, denn es dauert allenfalls so lange, bis der Konkurrent mehr verdient. Glück scheinen auch die Prominenten in den Klatschspalten reichlich zu haben. Aber schauen Sie am nächsten Tag in die Gesichter der Zufriedenen, und Sie sehen ihr verzweifeltes Bemühen um noch mehr und immer mehr.
Die Schweizer sind dabei gemäss Meinungsforschern noch recht glücklich, trotzdem haben wir eine der höchsten Suizidraten und überall die Ausgebrannten, die Süchtigen nach allem Möglichen mit den Spuren dieser Glückssuche im zerfurchten, aufgedunsenen Gesicht. Der Nobelpreisträger Daniel Kahneman hat dies unlängst moniert und das Paradox beschrieben, dass sich die Menge des menschlichen Glücks trotz zunehmendem Wohlstand nicht ändert. «In our concerted efforts to achieve human development – the central task of which is to eliminate extreme poverty – wellbeing has been all but forgotten.» Unsere Anführer interessiert eben das GNP (Gross National Product bzw. Bruttosozialprodukt) und nicht die GNH.
Da ist König Jigme Singye Wangchuck von Bhutan anders. Er empfiehlt seinem Volk auf dem Pfad zur Erzielung der bestmöglichen «Gross National Happiness» (Bruttonationalglück) eine Lehre, die er aus den Fehlern, die der Welt in den letzten 50 Jahren im so genannten Entwicklungsprozess unterlaufen sind, gezogen hat. Er weiss, dass wirkliches Glück nicht von aussen kommt, sondern aus uns selbst. Und so fördert er nachhaltige sozioökonomische Entwicklung, Schutz der Umwelt, Kultur und gute Führung.
Seine Majestät wird darob mancherorts belächelt, auch einige seiner Untertanen möchten weniger Glücks- und mehr Wirtschaftsentwicklung. Aber überlegen wir uns doch, was der stete Anstieg des GNP uns gebracht hat und bringen wird. In 40 oder 50 Jahren wird alles Öl abgefackelt, die Gletscher in Europa werden nur noch auf Postkarten zu sehen sein, und ein guter Teil der Inseln im Pazifik wird unter Wasser stehen. Und Sars, Vogelgrippe und derlei Plagen werden potentere Nachfolger haben.
Das werden wir nicht ändern, selbst wenn wir wollten; zu überwältigend ist auch der Druck der unterprivilegierten Majorität nach etwas mehr. So bleibt uns nur unser eigenes Programm für das kleine und grosse Glück, das wir in uns selbst kreieren. Taminos Zauberflöte und Papagenos Glockenspiel an einem Samstagnachmittag im Radio schaffen ein kleines, stilles Glück. Und dann können wir die eigenen Grenzen mit unserer Leistung etwas verschieben, kleine Glücksstürme kreieren mit einem schnellen Sprint auf den Üetliberg oder auf dem Velo um den Zürichsee.
Wenn wir das steigern, kommen die grossen Glücksstürme gewiss; sie brauchen Zeit, aber irgendwann einmal sind sie da.