Der 21-jährige Erich H. sah mich mit grossen Augen hilfesuchend an, schweissnass, nach Atem ringend. Sein baldiger Tod war unausweichlich, alle Strahlenbehandlung und die Chemotherapieversuche hatten wenig genützt, er litt an einer generalisierten Krebserkrankung, die vom Hoden ausgegangen war. Nebenan auf der Intensivstation lag Balthasar M., ein 45-jähriger Kaufmann mit Pumpversagen des Herzens wegen eines grossen Infarkts. Er erhielt die modernste Therapie, Megadosen von kreislaufstützenden Medikamenten. Trotzdem hatten wir wenig Zweifel, dass er noch auf der Intensivstation sterben würde. Zu viel Herzmuskel-gewebe war durch den Infarkt zerstört worden. Das war 1971, ich war frischgebackener klinischer Assistenzarzt an der Medizinischen Klinik des damaligen Kantonsspitals in Zürich.

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Heute ist das anders. Dank der von Einhorn und anderen Onkologen entwickelten Chemotherapie überleben bis 95 Prozent der jungen Männer mit Hodenkrebs, die früher in fast gleich hohem Prozentsatz dem Tod geweiht waren. Einer davon hat inzwischen fünfmal die Tour de France gewonnen. Und dank der von Andreas Grüntzig 1977 erstmals angewandten und seither von vielen weiterentwickelten Herzkathetertechnik mit aufblasbarem Ballon eröffnen heute Kardiologen verstopfte Herzkranzgefässe, retten so den absterbenden Herzmuskel und ermöglichen vielen Patienten danach ein beschwerdefreies und glückliches Leben.

Derlei Beispiele gibt es viele. So durfte ich in über dreieinhalb Jahrzehnten eine fantastische Entwicklung der Medizin erleben, dank der heute viele Krankheiten geheilt oder deren Mühseligkeiten wirkungsvoll gelindert werden. Hüftgelenkprothesen werden eingebaut, ermöglichen beschwerdefreies Leben bis oftmals unsinnigen Sport – und halten trotzdem Jahrzehnte.

Aber dann erlebe ich auch heute noch das Sterben der jungen Mutter mit dem Brustkrebs, bei der alle Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft wurden und die trotzdem innerhalb weniger Monate bis Jahre nach Erstdiagnose stirbt. Und ich bin betroffen vom Siechtum des Jahrgangskollegen mit multipler Sklerose, der nicht mehr arbeiten kann und seine letzten Jahre im Bett verbringen muss.

Wenn ich dann aber am Abend in den medizinischen Journalen blättere, kommt Hoffnung auf. Ich lese von neuen Krebsmitteln mit ganz neuen Angriffspunkten und ersten ermutigenden Resultaten. Oder ich finde Arbeiten über neue Immunmodulatoren, auf dem Chemiereissbrett entwickelte Medikamente zur Behandlung von multipler Sklerose, Asthma oder chronischen Gelenkserkrankungen.

Dann schlage ich die Tageszeitungen auf. Allenthalben Wehgeschrei über Krankenkassenprämien und Meinungen von (noch gesunden) Gesundheitspolitikern, die hinausposaunen, dass wir uns das alles nicht mehr leisten können! Denn diese neuen Verfahren und Medikamente werden teuer sein, dies nicht nur wegen der Raffgier der Industrie, sondern auch, weil ihre Entwicklung tatsächlich pro Substanz mehrere Hundert Millionen Franken kostet. Also: Das können oder wollen wir Gesunden und die Gesundheitspolitiker uns nicht mehr leisten, obschon wir Unsummen für Ferien, Hundefutter und Autos ausgeben.

Allerdings habe ich die Forderung nach Reduktion der Gesundheitskosten noch kaum je von einem Patienten gehört und noch kaum je erlebt, dass ein Patient die Behandlung seiner ernsthaften Krankheit aus Kostengründen abgelehnt hätte. Dies sollte in der allgemeinen Empörung über Gesundheitskosten, die nun rituell zur Herbstzeit wieder aufgeflammt ist, nicht vergessen werden. Ebenso wenig sollte man ausblenden, dass ein einschneidendes Sparen im Gesundheitswesen die Begüterten nicht wirklich trifft, weil diese sich alle Behandlungen weiterhin einkaufen können. So wird eine Zweiklassenmedizin etabliert. Solches darf zumindest bei den Behandlungsmethoden von nachgewiesenem therapeutischem Wert nicht sein. Denn: Wie die reiche Gesellschaft mit den Kranken und wirklich Hilfsbedürftigen umgeht, fällt am Ende auf sie zurück.