Das erste Halbjahr liegt hinter uns, und bevor auch die Letzten in die Ferien verschwinden, sei an dieser Stelle eine persönliche Halbjahres-Bilanz gestattet – in sieben Akten. Vorweg eine Warnung an Miesepeter, Dauerpessimisten und Apokalyptiker: Sie fällt für die Schweiz erstaunlich positiv aus – und das liegt nicht nur an der Vorferienfreude.
1. Festung Schweiz
Die Erosion geht weiter: Nach Frankreich und Italien schritt der Niedergang der traditionellen Parteienlandschaft auch in Deutschland und Grossbritannien im ersten Halbjahr unerbittlich voran – die Mehrheitsparteien zerbröseln, die Ränder werden gestärkt. Doch in der Schweiz lautet die drängendste Frage vor den Parlamentswahlen im Oktober nur: Wer gewinnt oder verliert zwei Prozent? Keine neuen Parteien, keine Auflösungserscheinungen, keine radikalen Verführer. Der Grund könnte sein: Wir leisten uns über die direkte Demokratie unsere Radikalität im Kleinen. Viele Abstimmungen sind extrem und gerade für die Wirtschaft toxisch (vom bedingungslosen Grundeinkommen bis zur Konzernverantwortung-Initiative). Doch sie werden praktisch immer abgeschmettert – und bilden damit ein gut funktionierendes Frust-Ventil. Das gute Grosse bleibt: Die Schweiz ist eine Festung der Stabilität in einem extrem zittrigen Europa – mehr denn je.
2. Grosse Big 3
Und die Stabilität zeigt sich eben auch bei den Firmen. Nein, wir haben keine Apples, Googles oder Tencents. Aber wer sich allein die Performance unserer Big 3 in diesem ersten Halbjahr anschaut, kann nur sagen: So what? Unsere Elefanten tanzen. Nestlé hat an der Börse allein um fast 30 Prozent zugelegt, auch Novartis und Roche stiegen ordentlich. Natürlich profitieren die Weltkonzerne auch davon, dass die Tiefzinsen Aktien alternativlos machen und die schöne Dividende bei wenig Kursrisiko ihre Papiere zu einem perfekten Bond-Ersatz mutieren lassen. Doch sie bauen ihre Weltmarktführung eben auch konstant aus. Nur die Banken sind ein Fall von Phantomschmerz. Sie fühlen sich noch immer gross – sind es aber schon lange nicht mehr.
3. Jordan und die Ohnmacht
Ein Mann verkörpert die Stabilität wie kaum jemand anderes in diesem Land: Nationalbank-Chef Thomas Jordan. Der einstige Wasserballer aus Biel ist ohne Zweifel der mächtigste Mann der Schweizer Wirtschaft – aber gleichzeitig eben auch der ohnmächtigste. Seine Negativzinsen schmerzen Sparer und Banken, gleichzeitig bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich an der EZB zu orientieren. Das Schöne daran: Selbst die SVP kritisiert diesen zwangsläufigen autonomen Nachvollzug nicht – aus Respekt vor der Institution und der Kompetenz des Währungshüters. Die Verrohung des Umgangs, die in so vielen Ländern zu beobachten ist und durch Social-Media-Hetzer befeuert wird, findet bei uns deutlich weniger stark statt. Auch die Ränder stützen das Gemeinwohl.
4. Keine Skandale
Fast langweilig aus Journalisten-Sicht: Es war ein beinahe skandalfreies erstes Halbjahr. Letztes Jahr hatten wir noch das Vincenz-Drama und die Ruoff-Kapitulation, dieses Jahr muss das dilettantische Vorgehen des Bundesanwalts Lauber noch als grösster Skandal durchgehen. Symbolisch für einen unerbittlichen Trend: Compliance rules. Denn wenn der Bundesanwalt darüber stolpert, dass er die Meldepflichten bei Treffen mit Verfahrensbeteiligten nicht einhält, zeigt das vor allem eines: Die Vorschriften gelten für alle. Zu viel der Kontrollsucht? Vielleicht. Aber in diesen verunsicherten Zeiten eben auch eine Stärke.
5. Abgekoppelte Börse
Die Frage angesichts der unerwarteten Börsenbonanza bleibt allerdings: Führt die Börse ein Eigenleben? Laut gängiger Interpretation handelt sie ja Zukunftserwartungen. Doch die sind derzeit gar nicht mehr so gut, wie die Hausse glauben machen müsste. Die Frühzykliker melden Auftragsrückgänge, der US-Boom läuft auf den Steroiden des Vorwahljahres, China meldet immer schwächere Zahlen. Dass sich die Börse angesichts des Tiefzins-Anlagenotstands längst von der Realwirtschaft abgekoppelt hat, darf als gesichert gelten. Die grosse Frage ist nur: Wie lang hält dieser Ausnahmezustand? Dass niemand die Antwort kennt, erklärt die gigantische Börsen-Volatilität des ersten Halbjahres. Sie wird bleiben.
6. Personalwechsel: Böse Börse
Im Umkehrschluss heisst das: Wer sich bei Personalentscheiden von der Börse leiten lässt, liegt falsch. Das zeigt das Beispiel des spektakulärsten Abgangs des ersten Halbjahres. Bei ABB war der langjährige Chef Ulrich Spiesshofer bei den Analysten so angezählt, dass der Verwaltungsrat nicht mehr an eine Kurs-Gesundung durch ihn glaubte. Doch was hat sich unter dem bestens beleumundeten Peter Voser an der Kursfront geändert? Nichts. Eben.
7. Europa-Frage mit frischer Wucht
Und zu guter Letzt: Auch für das zweite Halbjahr gilt das Primat der Politik. Das Brexit-Chaos steuert seinem Klimax Ende Oktober entgegen, die neue EU-Kommission wird hart bleiben, und auch die Schweiz dürfte die Europa-Frage mit frischer Wucht erfassen. Es ist ja interessant, wie kritisch sich die Mitteparteien und die SP gegenüber dem EU-Rahmenabkommen zeigen, um der SVP kein Wahlkampfthema zu bieten. Doch was ist nach den Wahlen Ende Oktober? Mich würde nicht wundern, wenn dann doch die Einsicht in die normative Kraft des Faktischen obsiegt, und am Ende des zurecht schwierigen Prozesses das Abkommen – trotz aller berechtigter Einwände – durchgeht. Schliesslich waren die Schweizer immer schon pragmatisch.