Die Corona-Krise ist auch die Zeit des Fernwehs. Das Auswärtige Amt rät von allen touristischen Reisen ab und der Urlaub scheint zumindest für das Jahr 2020 plötzlich in weite Ferne gerückt. Statt nach Mallorca oder auf die Seychellen zu reisen, ist möglichst viel zu Hause sein angesagt und ein weitgehendes Kontaktverbot.

«Heimweh» ist zum seltenen Phänomen geworden, «Fernweh» zu einem häufigen, denn nach dem, was man nicht darf - zurzeit also rumfahren oder richtig reisen - stellt sich oft ein gesteigertes Bedürfnis ein.

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In sozialen Netzwerken erinnern sich zurzeit viele oft bildstark an frühere Reisen oder beschreiben ihre Wehmut und Sehnsüchte. Kochbücher erfreuen sich grosser Beliebtheit, auch Reisebücher laufen.

Steffen Rübke, Geschäftsführer für Marketing und Vertrieb bei Mairdumont, dem Verlagshaus von Reiseführer-Marken wie «Marco Polo» oder «Lonely Planet», glaubt nicht, dass die Reiselust der Deutschen dauerhaft leidet. Vielen gehe es jetzt darum, die nächste Reise zumindest zu planen. «Ein bisschen Kopfkino brauchen wir jetzt alle.»

Die Germanistin Irmtraud Hnilica von der Fern-Universität Hagen hat sich intensiv beschäftigt mit dem «Fernweh». Die Mitautorin des Buchs «Fernweh nach der Romantik. Begriff - Diskurs - Phänomen» sagt: "Fernweh und Heimweh sind beide ein Leiden am Hier und Jetzt. Beide Phänomene sind eng verwandt; Fernweh ist gar nicht so sehr das Gegenteil von Heimweh, sondern vielmehr dessen Variante mit umgekehrtem Vorzeichen. 1916 spricht Waldemar Bonsels, den wir als den Autor von «Biene Maja» kennen, von einem «Heimweh nach der Fremde». Fernweh ist, so gesehen, eine Form von Heimweh. In der Fremde, so glauben wir, sind wir mehr zu Hause und mehr bei uns als daheim."

Der Begriff «Fernweh» taucht laut Hnilica im Deutschen erst recht spät auf. 1822 sprach der Dichter und Naturforscher Johann Wolfgang von Goethe demnach von einem "Fluchtgefühl", von einer «Sehnsucht ins Weite statt ins Enge», die er «umgekehrtes Heimweh» nannte. Aus diesem «umgekehrten Heimweh» wurde dann beim Gartenarchitekten und Reiseschriftsteller Hermann Fürst von Pückler-Muskau 1835 das Fernweh.

In anderen Sprachen ist das Wort in dieser Art unbekannt. «Ins Englische und Französische wird Fernweh kurioserweise häufig mit einem anderen deutschen Begriff übersetzt, nämlich mit Wanderlust». Das kommt etwa auch dem italienischen «voglia di viaggiare» nahe. All diese Varianten nehmen aber eine Akzentverschiebung gegenüber dem Fernweh vor, indem sie den Aspekt des «Wehs», des Schmerzes und der Qual, durch den der Lust und des Wunsches ersetzen."

Irmtraud Hnilica, die am Hagener Institut für Neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft arbeitet, hat gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen Fernweh als mediale Gefühlskommunikation untersucht. «Dabei hat sich Fernweh als semantisch offenes und deshalb hochgradig anschlussfähiges Diskursphänomen erwiesen.» Es gehe dabei um weit mehr als Urlaubsreisen, auch wenn sich die Tourismusbranche diffuse Fernweh-Energien natürlich zunutze mache.

Auf die Frage, ob Deutsche in der aktuellen Krise mehr zum Fernweh neigen, sagt die Literaturwissenschaftlerin: «Dass die Einschränkungen der Reisefreiheit unser Fernweh triggern, scheint ein naheliegender Gedanke. Bei vielen Menschen dürfte in der jetzigen Ausnahmesituation aber eher ein Wunsch nach Rückkehr zur Normalität vorherrschen. Gewiss leiden wir in der Krise akut am Hier und Jetzt. Das Hier steht dabei aber weniger zur Disposition, zumal das Virus ja den Globus überzieht und in Paris oder New York nichts besser wäre als in Mannheim oder Bielefeld.» Es gehe deshalb vor allem um eine Überwindung des Jetzt: «Unsere Sehnsucht richtet sich nicht auf den anderen Ort, sondern auf die andere Zeit - nach Corona und, in Tagträumen und Erinnerungen, auch auf die Zeit davor.»

In den sozialen Medien trende deshalb der Hashtag #NachCorona. «Das zeigt: Die schönste imaginäre Exkursion ist jetzt wohl die Zeitreise.»

(sda/tdr)