Als Jensen Huang, Chef des Grafikchipherstellers Nvidia, die Bühne im MGM-Hotel in Las Vegas betritt, zeigt er die vielleicht wichtigste Innovation der Autowelt seit 20 Jahren: den «Drive Xavier», eine Art Supercomputer für selbstfahrende Wagen. Jensen präsentiert keine Roadmap und keinen Prototypen, er hält das fertige Produkt in die Kameras. Eine serienreife Platine mit Chips, nicht grösser als ein Aktenkoffer.
Die kalifornische Chipschmiede investierte in den vergangenen Jahren zwei Milliarden Dollar in die Entwicklung von Xavier – und katapultiert sich mit dem System ins Zentrum der Revolution in der Automobilbranche. Der einstige Spiele-Hardwarehersteller ist der erste Zulieferer, der ein komplettes System aus Computerchips und Software zur Steuerung eines selbstfahrenden Autos serienreif hat. Die ersten Xavier-Computer will Nvidia bereits im ersten Quartal 2018 ausliefern.
Nividia ist ein begehrter Partner
Wenig später tritt Volkswagen-Markenchef Herbert Diess zu Huang auf die Bühne und gratuliert ihm zur Entwicklung von Xavier. Volkswagen und Audi sind die ersten Hersteller, die ihre Autos künftig von Nvidias Supercomputer, verbaut im Kofferraum, steuern lassen. Auch der Zulieferer ZF, der Fahrdienst Uber und viele weitere Autohersteller kündigen in Las Vegas die Zusammenarbeit mit Nvidia an.
Dass Nvidia und Volkswagen die Xavier-Plattform in Las Vegas auf der Elektronikmesse CES und nicht eine Woche später auf der Automesse NAIAS in Detroit zeigen, ist kein Zufall. Die wichtigsten Innovationen der Automobilbranche sind nicht mehr neue Motoren oder Modelle – sondern Chips, Sensoren und Computer.
Elektronik wird immer wichtiger
Die neuen Stars der Autobranche heissen Nvidia, Intel Mobileye oder Harman. Der klassische Zulieferer Delphi hat sich sogar aufgespalten und umbenannt, um das neue Geschäft mit den Auto-Computern unter dem Namen Aptiv an die Börse zu bringen. «Die Wertschöpfung in der gesamten Branche verschiebt sich massiv, weg von mechanischen Komponenten und hin zur Elektronik», sagt Aptiv-Chef Kevin Clark in Las Vegas.
«Klassische Autos haben für jede Funktion ein Steuergerät von unterschiedlichen Zulieferern – die dynamische Fahrzeugsteuerung mit ESP kommt von einem Zulieferer, das Hifi-System vom nächsten, die Assistenzsysteme von einem dritten», erklärt Danny Shapiro, Nvidias Senior Director Automotive. «Die Aufgabe der Autohersteller war immer die Integration aller Komponenten in ein fertiges Fahrzeug, doch diese vertikale Wertschöpfungskette ändert sich grade radikal: Ab sofort werden immer mehr dieser Funktionen in Software-Apps ausgeführt, die auf einem einzigen Supercomputer im Autolaufen.»
Beliebte Apps fürs Auto
Wer den liefern kann, der hat die Chance, zum Apple oder Microsoft der Autobranche aufzusteigen. Die Chip-Riesen Intel und Samsung erkannten wie Nvidia diese Möglichkeit und kauften 2017 mit Mobileye und Harman zwei Marktführer im Bereich Autoelektronik. Sie alle suchen nun Partner unter den klassischen Autoherstellern, um ihre Supercomputer auf vier Räder zu bringen.
Wie sehr die klassischen Hersteller diese Revolution Nvidia, Intel und Co überlassen, wird eine Woche später deutlich, 3300 Kilometer von Las Vegas entfernt: In Detroit, auf der Automesse NAIAS, wirkt alles, wie es früher einmal war. Wie zu der Zeit, als selbstfahrende Autos nichts waren als kühne Fantasien und sich die Menschen auch weniger Gedanken über Klimaschutz machten. Ein Star der Messe in diesem Jahr ist der Silverado, den die Marke Chevrolet gerade auf den Markt gebracht hat. Ein Pick-up, mehr als fünf Meter lang, voll beladen rund sechs Tonnen schwer. Nur wenige Schritte davon entfernt zeigt Ford den F-150, das meistverkaufte Auto Amerikas. Er ist sogar noch ein wenig grösser als der Chevy, noch bulliger.
Detroit setzt auf Altbewährtes
Der Hype, der derzeit um elektrische, selbstfahrende, vernetzte Pkw herrscht, spielt bei der NAIAS keine allzu grosse Rolle. In der alten Autostadt Detroit ist mehr Gegenwart als Zukunft zu betrachten. All die glamourösen Ankündigungen grosser Firmen, kleiner Start-ups und visionärer Unternehmer wie Jensen Huang täuschen über die Realität auf AmerikasStrassen hinweg: Pick-ups dominieren das Bild – noch immer.
Die Autowelt, so scheint es, ist zweigeteilt. In Detroit, die Dicken und Durstigen. All die Berge aus Blech, blank poliert und angestrahlt. In Las Vegas hingegen zählt nicht die Leistung des Motors, sondern die Rechenpower der eingebauten Computer. Ob es tatsächlich zum grossen Showdown zwischen Autoherstellern und Tech-Firmen kommt und wer dann den Kampf gewinnen würde, das kann heute natürlich niemand sagen. Aber es gibt Hinweise, dass die traditionellen Unternehmen unter Druck geraten.
Autobauer bleiben Messe fern
So scheint die Messe von Detroit im Niedergang begriffen, sie gilt als protzig, als Show für alte weisse Männer. Die CES, Treffpunkt smarter Unternehmer, betrachten viele in der Autoindustrie inzwischen als die wichtigere Veranstaltung. Viele Autobauer sind gar nicht erst nach Detroit gekommen. Mazda, Porsche, Jaguar, Landrover, Mini, Aston Martin, Bentley, Ferrari, Maserati, McLaren, Lamborghini, Rolls-Royce und Tesla. Auch viele Autozulieferer, die auf der CES waren, fehlten auf der NAIAS.
Das Unternehmen Continental etwa, das in Las Vegas Sensoren für Fingerabdrücke und Gesichtserkennung vorstellte. Die Firma Visteon, die ein neuartiges Head-Up-Display gebaut hat. Die alte und die neue Welt des Autofahrens, so scheint es, finden noch nicht richtig zueinander. Die Zweiteilung könnte ein Symbol dafür sein, wie die Autowelt der Zukunft aussieht: Die Fahrzeuge von Daimler, Volkswagen, Ford könnten bald nicht mehr sein als eine Hülle für die Technologie aus dem Silicon Valley.
Autokonzerne wollen Steuer in der Hand behalten
Verlieren die Autobauer in naher Zukunft die Kontrolle über diese Technologie, die ihre Fahrzeuge steuert, dann könnten sie zu ausführenden Partnern von Firmen wie Nvidia oder Google werden – ähnlich wie Foxconn, die chinesische Firma, die für Apple die iPhones baut.
Das wollen die Autohersteller aber unbedingt verhindern. In einem Hinterzimmer der Messehalle in Detroit sitzt Dieter Zetsche, er trägt ein dunkles Jackett, die Krawatte hat er abgelegt. «Wir werden darauf achten, dass wir von den Tech-Firmen keine Blackbox hingestellt bekommen», sagt der Daimler-Chef. «Wir wollen die Technologie verstehen, mitentwickeln und kontrollieren.» Für Daimler sei es daher wichtig, nicht parallel zu den Tech-Firmen zu arbeiten, sondern gemeinsam, in Partnerschaften.
Dieser Artikel erschien zuerst bei der «Welt» unter dem Titel: «Dieser Supercomputer verändert den Automobilbau».