Man muss schwindelfrei sein, um Nicolas Géant an seinen Arbeitsplatz zu begleiten. 108 Stufen führen auf das Glas-Stahl-Dach des Grand Palais, eines monumentalen, im Jahr 1900 errichteten Belle-Epoque-Baus, in dessen Hallen gerade eine Turner-Ausstellung zu Ende geht. Ganz oben wartet eine grandiose Aussicht: Eiffelturm, Seine, Invalidendom, Sacré-Cœur, Mansarden, Kirchtürme, Kuppeln – ein Cinemascope-Blick über die Dächer von Paris.
An einer von Mauern und Dachschrägen geschützten Stelle stehen vier Bienenstöcke. In jedem leben zwischen 80 000 und 90 000 britische Buckfast-Bienen, die wegen ihrer unaggressiven Wesensart bei Züchtern besonders beliebt sind. Bis zur Ernte im Juli werden sie schätzungsweise 300 Kilogramm Honig produziert haben. Im Mai beginnt ihre Arbeit. Scharenweise fliegen sie vom Dach des Grand Palais zu den Kastanienbäumen an den Champs-Elysées, den blühenden Linden in den Tuilerien und weiter bis zum Bois de Boulogne, zum Friedhof Père Lachaise und zum Jardin du Luxembourg. «Strecken von drei bis fünf Kilometer schaffen sie problemlos», schätzt Nicolas Géant, der die Bienen betreut. Das Surren der Insekten ist gut zu hören, ihre Flugroute in luftigen 80 Metern Höhe auch von der Strasse aus zu erkennen.
Nicolas Géant war Schüler in Orléans, als er erstmals einen Bienenzucht-Kurs absolvierte, mehr aus Langweile denn aus echtem Interesse. Mit 20 Jahren finanzierte er sein Wirtschaftsstudium mit dem Verkauf seines selbst gemachten Honigs. Danach wurde er Finanzberater bei Ernst & Young, zog nach Paris und nahm ein paar tausend Bienen mit. «Hier entfalteten sie erstmals ihr volles Potenzial», erzählt er, «ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie in der Stadt so produktiv sein würden.»
Wilde Nektar-Mischung. Als das Hobby zeitintensiver und er selbst honigmacherisch immer anspruchsvoller wurde, beschloss der heute 42-Jährige, seinen Job aufzugeben und Vollzeitimker zu werden. Klar, dass es ihm nicht reichte, irgendwo im Stillen einen guten Honig zu produzieren. Um die Öffentlichkeit auf sich und die Stadtbienen aufmerksam zu machen, brauchte er einen mythischen Ort, einen magischen Namen, den man auch in New York oder Tokio erkennen würde. Er stellte sein Projekt im Grand Palais vor und bekam sofort die Erlaubnis, seine Bienenstöcke aufs Dach zu stellen.
Vorsichtig öffnet er einen davon und hebt eine Wabe heraus. Hunderte von Bienen kleben daran, leicht benebelt durch den Rauch, den Nicolas Géant Sekunden zuvor in ihren Bau geblasen hat. Der hellgelbe, flüssige Honig ist deutlich zu sehen. Er schmeckt wie in Kinderträumen: süss, lieblich, zart und leicht blumig. «Die Bienen bringen eine ziemlich wilde Nektar-Mischung von ihren Touren zurück», sagt Géant, «geschmacklich dominiert allerdings meistens das leichte Minze- und Zitronenaroma der Lindenblüten.» Der Miel du Grand Palais kommt in diesem September erstmals in den Handel. Angeboten wird er im Shop des Grand Palais zu einem bislang noch nicht bekannten Preis. «Ich bin sicher, dass er sich gut verkaufen wird», sagt der Imker, «schliesslich ist das ein nettes Souvenir aus Paris.»
Honig ist eben nicht gleich Honig. Nach Olivenöl, Mineralwasser, Salz und Schokolade ist das aus Blütennektar erzeugte Lebensmittel dabei, zum neuen Lifestyle-Produkt für zeitgeistorientierte Gourmets zu werden – je extravaganter und teurer, desto besser. Kein Wunder, entsteht nun ein ganzer Markt rund um den Luxushonig.
Beim Kolonialwarenhändler Schwarzenbach in Zürich etwa stehen über 30 Honigsorten zur Auswahl, viele kosten deutlich über 20 Franken pro Glas. «Die Nachfrage ist in der letzten Zeit sehr gestiegen», sagt Inhaberin Brigitte Heeb-Schwarzenbach, «unsere Kunden suchen mittlerweile gezielt nach extravaganten Sorten wie Koriander-, Kaffeeblüten- oder Mandelblütenhonig.» Dass mehr Honig gekauft wird, lässt sich auch mit einem erhöhten Umweltbewusstsein der Konsumenten erklären: «Immer mehr Menschen schätzen gesunde, reine Naturprodukte. Und bei Honig lässt sich kaum etwas manipulieren», sagt Heeb-Schwarzenbach. Sie weiss, dass der teuerste Honig nicht immer der beste sein muss: «Ein hoher Preis entsteht auch, wenn eine Sorte schwer zu finden ist. Etwa Lavendel. Weil die Blüten der Lavendelfelder sofort abgeerntet werden, finden die Bienen kaum noch Nektar. Das macht den Honig teuer.»
Klar ist auch, dass sich Honig einer klangvollen Provenienz besser und teurer vermarkten lässt als gewöhnlicher Feld- Wald-und-Wiesen-Honig. So ist Nicolas Géant auch nicht der einzige Imker in Paris. Im Jardin du Luxembourg werden seit 1856 Bienen gehalten, es heisst, in Paris habe es damals über 1200 Bienenstöcke gegeben. Inzwischen sind es noch schätzungsweise 300, und einige davon stehen in luftiger Höhe. Bienen leben etwa auf dem Dach des Rathauses von Saint-Denis, auf dem Dach der Eglise réformée de Paris Etoile, auf dem Dach des Centre Pompidou und sogar auf jenem des Louis-Vuitton-Firmensitzes am Pont Neuf. Sie scheinen sich dort wohlzufühlen, jedenfalls produzieren sie mitten in der Stadt deutlich mehr Honig als auf dem Land. In einer guten Saison sind es bis zu 100 Kilogramm Honig pro Stock, während sich Landwirte schon über 15 bis 20 Kilogramm freuen. Das Verbot von Insektiziden in der Metropole, die abwechslungsreiche Vegetation in Parks und Nachbarschaftsgärten sowie die Stadtwärme beflügeln die Produktivität der Bienen.
Lukrative Notlösung. Als Jean Paucton 1982 heimlich eine Bienenwabe auf dem Dach der prächtigen Opéra Garnier deponierte, war das als kurzfristige Notlösung gedacht. Der heute 76-Jährige arbeitete damals als Requisiteur an der Oper, die Bienen sollten eigentlich aufs Land. «Als ich eine Woche später nach ihnen sah, quoll die Wabe vor Honig über», erzählt er. Heute wird der Miel de l’Opéra im berühmten Feinkostladen Fauchon für den Spitzenpreis von 15 Euro pro 125-Gramm-Glas verkauft. Um genügend davon produzieren zu können, stehen mittlerweile fünf hölzerne Bienenkisten auf einer knapp 30 Quadratmeter grossen Dachterrasse, ein Volk von rund 400 000 Tieren produziert jedes Jahr knapp 500 Kilogramm Honig.
Imker Paucton füllt seinen Honig zu Hause von Hand in kleine Gläser ab. «Er schmeckt jedes Jahr ein wenig anders», sagt er, «aber immer dominiert ein intensives, süsses Blütenaroma. Es ist nicht jedermanns Sache, es gibt Menschen die behaupten, mein Honig schmecke nach Kaugummi.» Doch die Liebhaber überwiegen. Bei Fauchon wäre man jedenfalls froh, wenn Paucton etwas mehr von seinem Opern-Honig liefern würde.
Gesuchte Delikatessen. Und nicht nur dort. Bei Dean & DeLuca, einem bei New Yorkern wie bei Touristen beliebten Delikatessenladen am Broadway, gibt es so gut wie alles, was Feinschmeckerherzen höher schlagen lässt: Beluga-Kaviar vom Kaspischen Meer, Wagyu-Rinderfilets aus Japan, Olivenöl aus der Toskana, Ziegenkäse aus Frankreich, Weisswürste aus Bayern. Und Honig. Viel Honig. Ein mannshohes Eisenregal ist ausschliesslich mit Honiggläsern gefüllt. Neben den extravaganten Produkten wie Orangenblütenhonig aus Florida oder Wildbeerenhonig aus den Rocky Mountains steht ein auf den ersten Blick eher unscheinbar wirkendes Glas. «Rare Hawaiian Organic White Honey» ist auf der Etikette zu lesen, 22 US-Dollar steht auf dem Preisschild. Das ist nicht wenig für 226,8 Gramm Honig. «Stimmt», gibt die Verkäuferin zu, die gerade Nachschub liefert, «aber das sind unsere letzten Gläser, wir bekommen erst im September neue, der Honig ist landesweit ausverkauft.»
Er stammt von der Kohala-Küste der Big Island of Hawaii, und die ist alles andere als ein tropisches Paradies. Weniger als 250 Millimeter Regen pro Jahr machen den Boden ungeeignet für jede Form von Landwirtschaft. «Doch dem Kiawe-Baum behagt es hier», erzählt Richard Spiegel, Imker und Gründer der Volcano Island Honey Company, die den Honig produziert, «dieser bohrt seine Wurzeln durch ausgetrocknete Schlammschichten und Lavagestein bis zum Wasser und produziert drei-, viermal jährlich ein strahlend gelbes Blütenmeer.» Spiegel, ein Alt-Hippie mit weissem Bart und hohen Idealen, besteht auf einer biologisch einwandfreien Prozedur: Von Hand werden Honigwaben aus seinen 150 Bienenstöcken ausgewählt, weder Hitze noch chemische Hilfsmittel kommen bei der Verarbeitung zum Einsatz. Das Resultat ist ein geschmeidiger, wie Perlmutt schimmernder Honig, der nach exotischen Früchten duftet und tropisch, frisch und ungewöhnlich schmeckt. Die amerikanische Zeitschrift «National Geographic Traveler Magazine» nennt ihn «some of the best honey in the entire world». Dafür geben Gourmets gerne ein paar Dollar mehr aus. Nicht nur in den USA.
Im Honighäuschen auf dem Münchner Viktualienmarkt etwa wird der so seltene wie herbe und antibakteriell wirkende Manuka-Honig aus Neuseeland für 40 Euro pro 250-Gramm-Glas verkauft, und bei Harrods in London gibt es den angeblich teuersten Honig der Welt: Life Mel Honey, hergestellt in Israel aus den Blüten von Kräutern wie Siberian Ginseng, Echinacea und Uncaria tomentosa. 120 Gramm kosten 42 Pfund – was prominente Fans wie Sienna Miller oder Kylie Minogue nicht daran hindert, jeden Morgen ein paar Löffel davon zu essen.
Imker mit Kalaschnikow. Legenden umranken den Sidr-Honig aus Jemen, auch Allahs Nektar genannt. Er stammt aus dem Wadi Doan in der Hadramaut-Hochebene, in der sich zur Blütezeit des Christusdorns (Sidr) Tausende Nomadenimker niederlassen. Im ganzen 150 Kilometer langen Tal stehen dann unter den stacheligen Bäumen schlichte Stoffzelte und Bienenstöcke, die von einer Armee surrender Bienen umschwärmt werden. Die Imker hüten ihre Waben mit umgehängter Kalaschnikow, und auch wenn es noch keinen Honigkrieg gibt, so doch einen gnadenlosen Wettbewerb.
Verkauft wird der Honig zunächst auf den lokalen Märkten der Umgebung. Händler aus Oman, Bahrain, Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten eilen auf den Souk von El Qatan, einem staubigen Bergkaff, das als Honig-Hochburg der Region gilt. Sie prüfen Farbe, Geschmeidigkeit und Reinheit des Honigs, tunken ihre Finger hinein und kosten den würzigen, leicht bitteren Geschmack. Dabei geht es nicht um den kulinarischen Genuss. Arabische Ärzte halten den Honig für ein universelles Heilmittel, Frauen vertrauen auf seine die Fruchtbarkeit fördernde Wirkung, Männer auf seine aphrodisischen Eigenschaften. Die Mischung aus Seltenheitswert und Aberglauben treibt den Preis in die Höhe: Ein Kilogramm von Allahs Nektar wird in Dubai zu Preisen von bis zu 200 US-Dollar gehandelt. Wohlhabende Eltern beschenken ihre Kinder kurz vor der Hochzeit damit, arabische Scheiche verfüttern ihn ihren Rennkamelen, auch Nicolas Sarkozy bekam bei seinem Staatsbesuch von Jemens Präsident Ali Abdullah Saleh ein Glas davon als Präsent. Ob er ihn je gegessen hat, ist fraglich. Denn der Elysée-Palast wird von Fauchon beliefert. Auf dem Frühstückstisch des Präsidenten steht höchstwahrscheinlich ein Glas Honig aus Paris.