Eine schwere Erkrankung kommt immer zur Unzeit, aber diese ganz besonders. Nichts braucht Hillary Clinton derzeit weniger. Präsidentschaftskandidaten haben stark zu sein, unermüdlich, übermenschlich und von titanischer Kraft. Schwäche mag der Amerikaner eh nicht so gern - und nun die Diagnose einer Lungenentzündung, knapp zwei Monate vor der Wahl. Was bedeutet das für den Wahlkampf?

Donald Trump reagierte geschickt, für seine Verhältnisse mit bemerkenswertem Grossmut. Via Fox News sandte er der Konkurrentin am Montag sanfte Genesungswünsche. Er hoffe, dass sie bald wieder auf dem Damm sei.

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Ein riesiger Selbstgänger

Diese Zurückhaltung dürfte die Handschrift seiner neuen Berater tragen. Clinton ernsthaft erkrankt? Das ist im fiebrigen Wahlkampf ein so riesiger Selbstgänger, Trump kann das einfach in seinem Sinne laufen lassen. Sein Öl braucht dieses Feuer nicht.

In einem Nebensatz sagte Trump, er glaube nicht, dass die Demokraten die geschwächte Kandidatin zurückzögen. Und wenn doch, er sei für alles bereit. Noch am Sonntag hatte in sozialen Netzwerken die Diskussion begonnen, was denn sei, wenn Clinton nicht mehr könne?

Enthebung existiert nicht

Es gibt derzeit keine Anzeichen dafür, dass dieser Gedanke ernsthaft zu Ende gedacht werden muss. Wenn aber doch: Eine Entscheidung über einen Rückzug liegt ganz allein bei Clinton. Eine Art Enthebung existiert in den Regeln der Partei nicht.

Zöge sie zurück, würde das National Committee der Partei einen neuen Kandidaten bestimmen. Das ist rechtlich eindeutig, hat es in der US-Geschichte aber noch nie gegeben. Nie hat ein nominierter Kandidat vor der Wahl verzichtet.

In politischen Spekulationszirkeln ist Joe Biden Nummer-Eins-Gerücht als Ersatzmann Clintons. Der amtierende Vizepräsident quält sich dem Vernehmen nach eh jeden Morgen mit der Frage, warum um alles in der Welt er seinen Hut nicht doch vor Monaten in den Ring geworfen hat.

Zu spät reagiert

Am verheerenden Echo auf ihre Erkrankung ist Clinton auch ein bisschen selber schuld. Schlimm genug, dass Videobilder einer wegsackenden Kandidatin, die nicht mehr selber gehen kann, sofort um die Welt rasten. Der Umgang mit der Erkrankung nährte dann so ziemlich alle Vorwürfe in Sachen Intransparenz, Geheimniskrämerei und Misstrauen, die Clinton eh schon so schwer zu schaffen machen.

Ihre Kampagne brauchte zu lange, um überhaupt zu reagieren. Niemand wusste, wo Clinton ist. Medienanfragen gingen ins Leere. Stunden dauerte es, bis es Neues zum Zustand der möglichen nächsten US-Präsidentin gab. Dann die Mitteilung ihrer Ärztin: Schon seit Freitag sei Clinton erkrankt.

Warum wurde das erst jetzt mitgeteilt, erst unter grösstem Druck? Clintons Werte in Sachen Vertrauen und Ehrlichkeit waren schon vorher historisch niedrig.

Gerüchteküche brodelt

Trump und die Republikaner streuen seit Wochen, Clinton sei in Wirklichkeit zu krank für das Weisse Haus. Sie raunen über Folgen eines Blutgerinnsels, das 2012 in Folge einer Gehirnerschütterung Clintons entstand.

Sie weiden sich an jedem Husten, der die Kandidatin seit dem Spätsommer im Wahlkampf schüttelt, und den ihr Team mit einer allergischen Reaktion erklärt, die mit Antibiotika behandelt werde. Clinton schlafe zu viel, warum denn wohl, donnerte der vulkanische Trump, herrenwitzelte über mangelndes Stehvermögen.

In amerikanischen Supermärkten begegnet einem die Postille «National Enquirer» an jeder Kasse, auf dem Titel das leichenblass zurechtgebastelte Foto einer vermeintlich vom Tode gezeichneten Clinton. Das erklärt, auf welch fruchtbarem Boden dieses Gesundheitsthema in den USA verfängt. Der Titel: «Hillary: Noch sechs Monate zu leben.»

Kein guter Lauf

Clinton hat keinen guten Lauf. Dass sie vor wenigen Tagen mal eben die Hälfte aller Trump-Unterstützer in einen «Korb der Erbärmlichen» steckte, voller Rassisten und Sexisten, war ein schwerer Fehler.

Trump konnte diese Vorlage gar nicht liegenlassen. Bekümmert gab er, der sich sonst für keine Beleidigung zu schade ist, bei Fox News zu Protokoll: «Ich hätte so etwas nicht für möglich gehalten. Der grösste Fehler der ganzen Saison. Man ist Präsident aller Amerikaner, nicht einer bestimmten Gruppe oder Anzahl!»

Gesundheitsakten offenlegen

Clinton und Trump sehen sich nun aufgefordert, ihre kompletten Gesundheitsakten offenzulegen. Krankheit ist etwas sehr intimes, aber Präsidentschaftskandidaten sind keine privaten Personen.

Dass Trump bisher nur eine obskure Fünf-Minuten-Diagnose veröffentlichte («Gesündester Präsident aller Zeiten!») wird als Folklore abgetan. Clinton aber wird mit anderer Elle gemessen. Nicht nur «Politico» und die «New York Times» sehen Doppelmoral am Werk.

Dass vielleicht jeder schon mal krank zur Arbeit gegangen ist und zu spät gemerkt hat, dass das keine gute Idee war, spielt in all der mitleidlosen Aufregung eh keine Rolle.

Clinton führt derzeit in den Umfragen, bei weitem auch und vor allem nach Zahl der Wahlmänner. Man wird rasch sehen können, ob sich ihre Erkrankung in Zahlen niederschlägt. Oder ob auch dieses Thema nur kurze Höchstkonjunktur hat - und dann wieder verschwindet.

(sda/ccr)