Überbordet in einer Stadt der Verkehr, verkümmert das soziale Leben auf Strassen und Plätzen, wie Nicole Surchat Vial sagt. Deshalb sorgt die Stadtarchitektin von Freiburg für verbesserte Begegnungsorte und mehr Lebensqualität im öffentlichen Raum.
Freiburg von der Verkehrslawine befreien: Jahrzehntelang schien diese Aufgabe unlösbar. Zwar bietet die pittoreske Stadt mit ihrem imposanten historischen Kern und der gotischen Kathedrale aus vielen Blickwinkeln prächtige Postkartensujets.
Um den Altstadtkern herum schlängelt sich die Saane, die sich im Lauf der Jahrhunderte tief in den Sandstein gefressen hat. Dieser Graben ist im kollektiven Bewusstsein als «Röstigraben» abgespeichert; die vielen Brücken, die den Fluss überspannen, sind jedoch Zeichen dafür, dass man in Freiburg/Fribourg die Mehrsprachigkeit primär als Bereicherung versteht, nicht als Bedrohung.
25'000 Autos täglich
Doch wurde die Postkartenidylle von anderer Seite her torpediert: vom motorisierten Verkehr. 25'000 Autos umbrandeten täglich die Kathedrale und bescherten dem Quartier Abgase und Lärm. Wollten Touristen ein Foto knipsen vom 74 Meter hohen Turm und dafür ein paar Schritte rückwärtsgehen, riskierten sie, von einem Auto oder Lastwagen umgefahren zu werden.
Und die Bevölkerung musste ohnmächtig mitansehen, wie die Fassade des Wahrzeichens schwarz und bröcklig wurde aufgrund der schlechten Luft. Aber es gab (scheinbar) keinen Ausweg: Autos, Lastwagen, Busse zwängten sich durchs Nadelöhr, weil dieses die einzige Verbindung darstellte von der Altstadt zum Aussenquartier Schönberg und in den Sensebezirk.
Karten neu gemischt
«Mit dem Bau der Poyabrücke haben wir jetzt die Karten völlig neu gemischt», sagt Nicole Surchat Vial, die Stadtarchitektin von Freiburg. Die Brücke ist jenes Jahrhundertbauwerk, das endlich eine grossräumige Umfahrung des Stadtzentrums ermöglicht. Stadt und Kanton Freiburg haben es mit Bundeshilfe für den stolzen Betrag von 210 Millionen Franken erstellt und im Oktober 2014 eingeweiht.
Weil der Bau gut 20 Prozent teurer wurde als budgetiert, machte sich damals Ärger breit. Doch das ist passé; heute freuen sich Behörden und Bevölkerung darüber, dass nur noch 5000 Fahrzeuge pro Tag um die Kathedrale kreisen. Ausserdem hat die Stadt ein weiteres Postkartensujet dazu gewonnen; die an eine historische Hängebrücke erinnernde Konstruktion mit einer Spannweite von 196 Metern bedeutet Schweizer Rekord und ist eine weit herum beachtete Sehenswürdigkeit.
Gewollte Ruhe
Wir sitzen im Büro der Stadtarchitektin an der Joseph-Piller-Strasse, einem nüchternen Zweckbau aus den Siebzigerjahren. Durchs halb geöffnete Fenster hört man Vögel pfeifen, Kinder rufen und nur ab und zu einen Automotor brummen. Die Ruhe ist gewollt, denn just vor dem städtischen Bauamt entstand gleichzeitig mit der Eröffnung der Poyabrücke eine Begegnungszone, die vom Kollegium St. Michael über die Kantonsbibliothek bis fast zur Universität reicht.
Die 56-jährig Architektin ETH mit Doktortitel in Stadtplanung trat ihr Amt exakt zur selben Zeit an, als das erste Fahrzeug über die Poyabrücke rollte. Ein historischer Moment für die Freiburgerinnen und Freiburger, hatten die Behörden doch bereits 1959 erste Pläne für einen neuen Übergang über die Saane geschmiedet; das Vorhaben scheiterte aber immer wieder an der Finanzierung oder an Einsprachen.
Brücke und Begegnungszone waren also bereits geplant und weitgehend realisiert, als Surchat Vial bei der Stadtplanung das Zepter übernahm. «Eine Brücke bauen reicht nicht; man muss mit flankierenden Massnahmen verhindern, dass sich der Verkehr in die Quartiere verlagert», bestätigt sie die Richtigkeit der Planung ihres Vorgängers Thierry Bruttin, der heute Kantonsarchitekt ist.
Co-Habitation erreichen
Doch die Mutter zweier Kinder, die nach Stationen in Lausanne, Rolle und Genf seit 2014 in Freiburg wohnt, will noch einen Schritt weitergehen. Ihre Vision ist es, in dieser Stadt, die in den letzten zehn Jahren um 10'000 Personen auf 40'000 Einwohner gewachsen ist, «eine gute Co-Habitation zu erreichen».
Sei Freiburg in der Vergangenheit stark auf den motorisierten Verkehr fixiert gewesen, müsse man sich jetzt wieder um «einen gesunden Mix» bemühen. In der sehr dynamischen Stadt brauche es zwar eine gute Verkehrserschliessung; in der Region sei viel Wohnraum entstanden, man habe Arbeitsplätze geschaffen und werde nun auch die Infrastruktur ausbauen. Doch das genüge nicht, zusätzlich verbessert werden müsse «das Wohl der Menschen, die sich im öffentlichen Raum aufhalten». Surchat Vial will den Fokus deshalb noch stärker auf die Strassen und Plätze Freiburgs legen.
«Innovative Idee»
Ein Beispiel: Die Square des Places, eine weitere, 2010 erstellte Begegnungszone, erhielt 2011 den «Flaneur d’Or» in der Kategorie «Fussgängerfreundliche Infrastrukturen auf Kantonsstrassen». In ihrer Würdigung hält die Jury von Fussverkehr Schweiz fest, es handle sich um eine «innovative Idee».
Es sei «mutig, auf einer stark befahrenen Strasse eine Begegnungszone quasi als Querungshilfe und Verbindungstück zwischen zwei Fussgängerzonen einzurichten». Die Autofahrer würden durch die Pflästerung und durch andere bauliche Massnahmen animiert, die Geschwindigkeit zu drosseln. Den querenden Passanten werde der Vortritt gewährt, und trotz des hohen Verkehrsaufkommens von täglich 9'000 Fahrzeugen entstünden keine Rückstaus.
Natur im Innern der Stadt
Nicole Surchat Vial will sich aber nicht auf diesen Lorbeeren ausruhen. Die Architektin möchte den städtischen Raum weiter verdichten, jedoch nicht auf Kosten der Bedürfnisse der Bewohner oder der Entfaltung der Natur. Skeptisch steht sie zum Beispiel der Aussage gegenüber, man sei in Freiburg doch so schnell irgendwo draussen im Grünen. Sicher verfüge die Stadt über gute Naherholungsgebiete, doch gehe dabei oft vergessen, dass die Menschen auch in ihrem Alltag im Innern der Stadt Natur bräuchten.
Dies sei in vielfacher Hinsicht wichtig: Das Grün in der Stadt diene der Erholung sowie als Treffpunkt; es sei für Aktivitäten und Bewegung nötig, erhöhe die Biodiversität und verbessere das Mikroklima. Zum Beispiel will die Stadtarchitektin die Saane und ihre Uferzonen, die in Freiburg bisher ein Schattendasein fristen, aufwerten und zugänglicher machen und damit wieder vermehrt ins Bewusstsein der Bevölkerung rücken. «Wir wollen verdichten, aber in Harmonie mit der Landschaft», betont Nicole Surchat Vial.
Zustimmung und Skepsis
Solche Überlegungen fallen in der Freiburger Bevölkerung immer mehr auf fruchtbaren Boden, obwohl die Region nicht gerade als «grün» gilt und der motorisierte Individualverkehr nach wie vor eine zentrale Bedeutung einnimmt. Dennoch: Am 24. September 2006 hatte das Stimmvolk dem Kredit von 58 Millionen Franken für die Poyabrücke mit 81 Prozent Ja-Stimmen deutlich zugestimmt. Für Surchat Vial «ein klares Zeichen, dass man auf dem richtigen Weg ist».
Trotz der Zustimmung zum Poyaprojekt hat es die Stadtarchitektin oft schwer, weitere flankierende Massnahmen in die Praxis umzusetzen. Hier befürchten Detailhändler, die Kunden würden ausbleiben, könnten sie nicht mehr direkt vor dem Geschäft parken; dort regt sich Skepsis, wenn eine bislang dem Verkehr vorbehaltene Strasse plötzlich mit Begrünung und Bistrot belebt werden soll.
Das Thema «Parkplätze» polarisiert
Vor allem das Thema «Parkplätze» polarisiert, wie etwa die Debatte um den Richtplan für die historische Altstadt zeigt, die sich das Parlament Ende 2013 geliefert hatte. Die überarbeitete Version des 2010 präsentierten Plans musste auf viele Einwände Rücksicht nehmen; als beste Lösung entpuppte sich letztlich die Vergrösserung des bestehenden Parkhauses Grenette direkt neben der Kathedrale.
Nun gilt in Freiburg wie in vielen anderen Städten: Keine Parkplätze aufheben, die Gesamtzahl muss konstant bleiben. Wird oberirdisch ein Platz durch eine Begegnungszone oder durch Stadtgrün ersetzt, muss der Platz in einer Tiefgarage kompensiert werden.
So soll neben der Kathedrale ein neues Parking mit 200 Plätzen für Anwohner und Kundschaft entstehen, was es ermöglicht, die oberirdischen Plätze auf dem Liebfrauen- und dem Ulmenplatz zu streichen. Das ist Nicole Surchat Vial ein grosses Anliegen: «Da sitzt man zum Beispiel im schönen Bistrot Les Arcades neben Kastanienbäumen auf der Terrasse und hat als Aussicht nichts als parkierte Autos vor der Nase. Das ist genau das Gegenteil von Lebensqualität im öffentlichen Raum.»
Nützliches und Erfreuliches verbinden
Das Quartier solle nun also ein neues Parking erhalten, für Pendler entstünden ausserhalb der Stadt zusätzliche Abstellflächen. Das grosse Plus dieser Lösung, die die Stadt nochmals rund 28 Millionen Franken kosten dürfte, sieht die Stadtarchitektin in der Verbindung des Nützlichen mit dem Erfreulichen. Das unterirdische Parking bringt die Autos weg von den Plätzen der Altstadt, auf dem Dach der Tiefgarage aber könnte ein neuer, parkähnlicher öffentlicher Raum entstehen, der einen wunderbaren Weitblick auf Wälder und Fluss bieten würde.
Nun dreht sich die Debatte wieder ums Geld, wie bereits im Fall der Poyabrücke. Allein der Studienkredit für den geplanten Platz bei der Kathedrale mit Pflästerung, einem Lift in die Unterstadt und weiteren öffentlichen Nutzungen beträgt 2,5 Millionen Franken, was im Freiburger Parlament umstritten ist. Denn das Projekt, dem die Lokalpresse «venezianisches Flair» zuschreibt, gilt Kritikern als «zu luxuriös».
Architektin Nicole Surchat Vial bezeichnet diese Kosten als «relativ». Auf der einen Seite seien die Massnahmen teuer, auf der anderen Seite erhalte man mehr Raum für soziale Begegnungen, mehr Sicherheit auf den Schulwegen, eine Steigerung der Biodiversität, ein besseres Klima in der Stadt und so fort. «Wir erhöhen also die Lebensqualität nachhaltig, was unter dem Strich einen unbezahlbaren Mehrwert für alle darstellt.»
(sda/ccr)