Hopkinton ist ein gemütliches kleines Städtchen 40 Kilometer westlich von Boston. Sanfte Hügel, grüne Wiesen und Wälder, hier zeigt sich New England von seiner Postkartenseite.
Einmal im Jahr, immer am Patriot’s Day am 19. April, richten sich die Augen der Weltöffentlichkeit auf das wohlhabende Vorstädtchen: Dann starten von hier aus 20 000 Menschen – eineinhalbmal mehr, als Hopkinton Einwohner hat – zum Boston Marathon, dem ältesten und renommiertesten Langstreckenlauf der Welt. Kaum ist der Tross abgezogen, fallen die 13 000 Einwohner wieder in ihren friedlichen Alltagstrott.
Wenn man es nicht wüsste, würde man nie glauben, dass Hopkinton der Schauplatz des wohl dramatischsten Turnarounds der IT-Geschichte ist. Hier, in einer zwischen die Hügel verteilten Ansammlung von dreistöckigen Flachbauten, verbirgt sich EMC. Das Unternehmen baut Storage-Systeme, jene kleiderschrankgrossen Hightechgeräte, auf denen Konzerne ihre Kunden- und Firmendaten ablegen. EMC, das war in den neunziger Jahren das erfolgreichste Unternehmen der Welt: Um gigantische 82 000 Prozent stieg der Aktienkurs in jener Zeit, mehr als bei jedem anderen Börsenhighflyer. 8,9 Milliarden Dollar setzten die 24 500 Mitarbeiter im Jahr 2000 um, und das mangels Konkurrenz bei extrem hohen Margen. Die Verkündung der Quartalszahlen in einem grossen Zelt auf dem EMC-Gelände wurde für die Mitarbeiter regelmässig zur Siegesparty: «Es herrschte ein unglaublicher Optimismus», erinnert sich Greg Eden, der damals im Marketing arbeitete. «Wir glaubten, wir könnten nicht verlieren, nichts und niemand könne uns stoppen.» Für 2001 peilte man gar zwölf Milliarden Dollar Umsatz und 30 000 Mitarbeiter an.
Je steiler der Aufstieg, desto tiefer der Fall: Als nach der Jahrtausendwende die New Economy zusammenbrach, verlor EMC 40 Prozent ihres Umsatzes. Aus 1,8 Milliarden Dollar Gewinn wurden 500 Millionen Verlust. EMC musste ein Drittel der Mitarbeiter auf die Strasse stellen. «Wir sind Overachievers in beide Richtungen, nach oben und nach unten», sagt David Goulden, bei EMC zuständig für Business-Development.
Heute ist das Unternehmen wieder so stark wie damals: EMC macht 8,23 Milliarden Dollar Umsatz, verbucht dabei 871 Millionen Gewinn, erwirtschaftet 52 Prozent Bruttomarge, sitzt mit 7,4 Milliarden Dollar auf mehr Cashreserven als je zuvor. Das Unternehmen ist das Lehrbuchbeispiel eines Turnaorunds. Mit dem ursprünglichen Konzern freilich hat die EMC von heute nur noch wenig zu tun.
Hinter dem Totalumbau steht Joe Tucci, der den CEO-Posten im Januar 2001 übernahm, nur ein paar Monate vor dem Absturz. «Schlechtes Timing», kommentiert er diese Tatsache kurz und trocken, und die Art, wie er es sagt, verrät einiges über seinen Managementstil: Nicht den Showman spielen, sondern die Ärmel hochkrempeln. Sich auf das Wichtigste konzentrieren. Und vor allem: Nicht jammern, denn es hätte alles noch viel schlimmer kommen können.
Dabei legte Tucci (57) einen Fehlstart hin, der dem Unternehmen fast das Genick gebrochen hätte. EMC war verwöhnt: Die boomenden Internet- und Telekomfirmen platzierten jahrelang Milliardenaufträge bei EMC; die Einführung des Euro, die Angst vor dem Jahr-2000-Problem und allgemein die starke Wirtschaft heizten die Nachfrage zusätzlich an. «Alles Gute, was uns passieren konnte, ist uns passiert», erinnert sich Tucci. Als der Markt im ersten Quartal 2001 kollabierte und die anderen Hightechunternehmen bereits in grossem Ausmass Stellen abbauten, rekrutierte Tucci noch Hunderte neue Mitarbeiter. «Wir waren so optimistisch, dass wir der Wahrheit nicht ins Gesicht geschaut haben.»
Erst im zweiten Halbjahr 2001 trat Tucci auf die Bremse und passte die Kosten an die gesunkenen Umsätze und Margen an. Er lies EMC von 24 500 auf 17 000 Angestellte schrumpfen, schränkte Geschäftsreisen ein, reduzierte die Bürofläche. Die guten Mitarbeiter konnte Tucci weitgehend halten – wo hätten sie in dieser tiefsten aller Branchenkrisen auch hingehen sollen?
In der Schweiz baute EMC 30 seiner 180 Mitarbeiter ab. «Die Reorganisation war weniger dramatisch, weil es hier keine grosse Marketingorganisation und wenig administrative Stellen gab», sagt Sandrine Haas, damals wie heute Schweizer PR-Chefin. Doch die Länderverantwortlichen mussten Kompetenzen abgeben. Stattdessen rauschten US-Manager, intern «B 52» genannt, über die Niederlassungen, um die Kosten und Strukturen kleinzukriegen. Tucci besetzte die Schlüsselpositionen neu mit Industrieveteranen, hauptsächlich alten Vertrauten aus seiner Zeit bei Wang, dem einstigen Pionier der Textverarbeitungssysteme.
Bei diesem Technologiesaurier, den Tucci in den neunziger Jahren aus dem Gläubigerschutz heraus- und in die Arme der holländischen Getronics hineingeführt hatte, holte er sich das Rüstzeug für den Turnaround. «Dort habe ich gelernt, dass eine Sanierung noch unter viel schwierigeren Voraussetzungen möglich ist», sagt er. «Und ich habe gelernt, keine Angst vor einschneidenden Massnahmen zu haben.» Anders als Wang hatte EMC in der Krise noch Geld auf der hohen Kante, stolze vier Milliarden Dollar. EMC war Marktführer und konnte davon ausgehen, dass der Speicherplatzbedarf für Information auch in Zukunft steigen würde. Diese positiven Aspekte hämmerte Tucci seinen Mitarbeitern in den schwersten Stunden immer wieder ein. «In einer Krise muss man kommunizieren, kommunizieren, kommunizieren. Und wenn man denkt, man hat genug kommuniziert, fängt man wieder von vorne an», beschreibt er seine Lehren.
Phase zwei des Turnarounds begann im Jahr 2002. «Kein Unternehmen hat sich je grossgespart», sagt Tucci. Um EMC wieder zur alten Stärke zurückfinden zu lassen, verpasste er dem Unternehmen ein komplett neues Businessmodell. Bis anhin hatte EMC versucht, mit einer einzigen Produktlinie alle Bedürfnisse abzudecken. Doch gerade für kleinere Unternehmen war der Preis von einer viertel Million Dollar für so ein System abschreckend. Und just als EMC in die Krise schlitterte, kam die Konkurrenz mit günstigeren Angeboten. Tucci setzte alles auf eine Karte und plünderte die Cash-Reserven, die das Unternehmen zu seinen goldenen Zeiten angehäuft hatte. Damit finanzierte er die Entwicklung neuer Produktreihen. Nun war EMC sich auch nicht mehr zu schade, Speichersysteme für 9000 Dollar anzubieten. Das erschloss dem Unternehmen völlig neue Märkte und verlangte nach neuen Vertriebswegen. Statt wie bis anhin alles selbst zu verkaufen, entschloss man sich, mit Partnern zusammenzugehen. So wickelt der PC-Bauer Dell heute zehn Prozent der EMC-Umsätze ab. «Dell kennt die KMU besser, als wir das je könnten», sagt Chuck Hollis, bei EMC zuständig für die Marketingstrategie.
Vor allem aber musste EMC seine Kultur neu definieren. Der jahrelange Erfolg und die fehlende Konkurrenz hatten die Verkaufsmannschaft gegenüber dem Kunden arrogant auftreten lassen. «Wir haben hart daran gearbeitet, das abzustellen», sagt Tucci. Wie? «Die Leute feuern», sagt er trocken. «Es ist erstaunlich, aber sobald man ein paar der Anführer öffentlich hinrichtet, sagen die anderen: Eigentlich war das ja gar nicht meine Art.» Dennoch bezeichnet Tucci die Anstrengungen, die neue Unternehmenskultur in die Köpfe der Mitarbeiter zu bekommen, heute als den schwierigsten Teil des Turnarounds.
Im Jahr 2003 schaltete EMC wieder in den Wachstumsmodus, die dritte Phase des Sanierungsplanes. Organisch half die wieder anziehende Nachfrage. Vor allem baute Tucci durch Akquisitionen den Software- und Servicebereich aus und stellte so den einstigen reinen Hardwarehersteller auf mehrere Pfeiler: 1,3 beziehungsweise 1,5 Milliarden Dollar gab EMC für die Softwarehersteller Legato Systems und Documentum aus, ein Jahr später 625 Millionen für VMWare, die von Ed Bugnion mitgegründet wurde (siehe Nebenartikel «VMWare: Der Schweizer Software-Millionär»). Zwei weitere, kleinere Akquisitionen rundeten das Portfolio ab. Heute kommen noch 47 Prozent des Umsatzes aus dem Hardwarebereich.
Als einen der vier Musketiere des Internets bezeichneten die Investment-Banker von Merrill Lynch EMC in ihren ersten Glanzzeiten, zusammen mit dem Routerhersteller Cisco, dem Serverproduzenten Sun Microsystems und dem Datenbankspezialisten Oracle. Sie alle hatten mit dem Ende der New Economy schwer zu kämpfen. «Cisco wurde durcheinander geschüttelt, konnte sich aber halten», sagt Analyst Steve Milunovich. «Sun fiel vom Pferd und wurde niedergetrampelt. Oracle fiel auch herunter und versucht, wieder aufzuspringen. EMC hat das schon geschafft.»
Nur der Aktienkurs ist weit entfernt von den damaligen Höchstständen, als EMC an der Börse mit 240 Milliarden Dollar bewertet wurde. «Die Investoren hatten den Verstand verloren. Das war lächerlich!», sagt Tucci rückblickend. Gegenüber dem Höchststand im Herbst 2000 hatte die Aktie zwischenzeitlich 95 Prozent ihres Wertes verloren. Seither sitzen die langjährigen Mitarbeiter auf wertlosen Optionen. Deren Ausübungspreis hat Tucci trotzdem nicht angepasst. «Die Aktionäre können ihre Aktien auch nicht repricen», sagt er. Doch wer zum Tiefststand vor zweieinhalb Jahren eingestiegen ist, darf sich heute über Kursgewinne von 325 Prozent freuen.
Kein Wunder, denn das Unternehmen hat in den letzten zehn Quartalen in Folge die Erwartungen erfüllt oder übertroffen. Geholfen hat dabei vor allem die neue amerikanische Überwachungs- und Regulierungswut: Ob Homeland Security Act, Sarbanes-Oxley oder die verschärften Dokumentationsvorschriften im Pharmabereich – immer mehr Daten für immer längere Zeit wollen die amerikanischen Ministerien und müssen die amerikanischen Unternehmen speichern. «Information lifecycle management», also die Fähigkeit, wichtige Daten schnell abrufbar zu halten, während weniger aktuelle Daten sicher, aber kostengünstiger woanders abgespeichert werden, gewinnt an Bedeutung. Insgesamt steigt das weltweit abgelegte Datenvolumen jährlich um 70 Prozent. Abzüglich des Preisverfalls dürfte ein Marktwachstum von sieben bis acht Prozent übrig bleiben, schätzt Tucci, das ist doppelt so viel wie beim restlichen IT-Markt. EMC, mit 14 Prozent Marktanteil nach HP (24 Prozent) und IBM (21 Prozent) der drittgrösste Storage-Anbieter, wird nach Analystenschätzungen dieses Jahr um 20 Prozent wachsen. Für das erste Quartal des laufenden Jahres hat EMC diese Prognose genau getroffen.
Heute zählt die Firma im friedlichen Hopkinton bereits wieder 22 700 Mitarbeiter und stellt in Scharen neue ein. Gerade erst hat die Softwareabteilung neue, grössere Gebäude an der Westküste bezogen. «Es herrscht wieder das gleiche optimistische Gefühl wie damals», sagt Greg Eden. «Aber diesmal mit mehr Realitätssinn.»