Die türkische Regierung hat einen fairen Wahlkampf vor dem Referendum am 16. April versprochen. Die Gegner des Präsidialsystems haben daran nie geglaubt. Ein Blick in den Fernseher reicht, um sich ein Bild davon zu verschaffen, ob der Wahlkampf gerecht verläuft.

Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan verfügt über scheinbar grenzenlose Energie, aber sogar seine Stimmbänder stossen inzwischen an ihre Belastbarkeitsgrenzen. In Ankara drohte seine Stimme kürzlich zu versagen.

Eine Pause gönnte sich Erdogan in seinem Wahlkampf trotzdem nicht - schon am Tag danach trat er wieder auf. Bis zum Referendum ist nicht mehr viel Zeit - und Umfragen lassen es bislang nicht zu, einen klaren Sieger beim Referendum über Erdogans Präsidialsystem vorherzusagen.

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Mit aller Kraft

Die Verfassungsreform würde Erdogan mit grosser Macht ausstatten, das Präsidialsystem würde seine Karriere krönen - weswegen er sich mit aller Kraft dafür einsetzt.

Ein Beispiel aus einem nicht ungewöhnlichen Wahlkampftag: Erst ein Auftritt bei einer Stiftung, dann zwei «Eröffnungszeremonien». Was bei den Veranstaltungen eröffnet wird, ist sekundär: Im Zentrum steht bei jedem von Erdogans Auftritten sein Werben für das Präsidialsystem, gelegentlich gespickt mit Nazi-Vergleichen und harscher Kritik an Europa.

Das Fernsehen trägt kaum zur Chancengleichheit bei

Am selben Abend stand ein eineinhalbstündiger Fernsehauftritt an, bei der Erdogan Fragen von wie immer sehr wohlmeinenden Interviewern beantwortete. Überhaupt zeigt ein Blick ins türkische Fernsehen, wie ungleich der Wahlkampf abläuft. Mit dem Notstandsdekret 687 hat die Regierung der Wahlkommission (YSK) die Möglichkeit genommen, Privatsender zu bestrafen, die Parteien benachteiligen. Wenig erstaunlich, dass das Erdogan und seiner AKP zugute kommt.

Auch das Staatsfernsehen trägt aber kaum zur Chancengleichheit bei, wie nicht zuletzt eine Auswertung zeigt, die die pro-kurdische HDP verbreitete. Das Ergebnis: Zwischen dem 1. und 22. März räumte der staatliche Nachrichtenkanal TRT Haber der Präsidentschaft 1390 Minuten Sendezeit ein, der (nur auf dem Papier noch von Erdogan getrennten) AKP 2723 Minuten.

Die grösste Oppositionspartei CHP verbuchte 216 Minuten, die von ihrem Parteichef Devlet Bahceli auf Erdogan-Kurs gezwungene MHP 48 Minuten. Die HDP - die durch die Inhaftierung ihrer Vorsitzenden, mehrerer Abgeordnete und vieler Mitglieder ohnehin kaum noch wahlkampffähig ist - kam auf eine glatte Null.

«Wir stehen unter grossem Druck»

Eine Lehrerin, die in Istanbul mit der HDP für ein «Nein» beim Referendum kämpft, beklagt, Zivilpolizisten würden Aktivisten an den Ständen fotografieren. Die Frau, die ungenannt bleiben will, befürchtet: «Wenn ein 'Ja' rauskommt, wird die Verfolgung noch zunehmen.»

Ein junger Mann, der mit ihr am Stand gearbeitet habe, sei in der Nacht darauf von Polizisten aus seiner Wohnung geholt worden. Zwar sei unklar, ob das im Zusammenhang mit seinem Engagement gestanden habe. «Aber seitdem habe ich das erste Mal Angst.»

Auch die grösste Oppositionspartei CHP kritisiert, das «Nein»-Lager werde behindert - bis hin zu tätlichen Übergriffen wie dem Beschuss eines Wahlkampfbusses der Partei in Istanbul, bei dem ein junges Parteimitglied verletzt worden sei. Der CHP-Abgeordnete Sezgin Tanrikulu sieht darin eine Folge der polarisierten Stimmung, die von Erdogan befeuert werde. «Wir stehen unter grossem Druck.»

Nicht jeder «Nein»-Wähler ist ein Terrorist

Erdogan und seine Regierung haben Gegner des Präsidialsystems in die Nähe von Terroristen gerückt. Zwar haben sie nicht gesagt, dass jeder, der mit «Nein» stimmt, ein Terrorist ist. Sie haben aber betont, dass alle «Terroristen» mit «Nein» stimmen würden.

Mit Terroristen vermeintlich gemeinsame Sache zu machen, das kann besonders im geltenden Ausnahmezustand gefährlich werden. Verdächtige können bis zu 14 Tage in Polizeigewahrsam gehalten werden.

HRW: Wahlkampf eingeschränkt

Auch Emma Sinclair-Webb von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) sieht den Wahlkampf durch den Ausnahmezustand eingeschränkt. So habe es der Notstand der Regierung erst ermöglicht, oppositionelle Bürgermeister in 82 mehrheitlich kurdischen Gemeinden durch staatliche Zwangsverwalter zu ersetzen. Gewählte politische Vertreter seien damit genau zu dem Zeitpunkt, als sie sich auf die «Nein»-Kampagne vorbereiten wollten, «aus dem Weg geräumt» worden.

Ausserdem seien im Ausnahmezustand die Versammlungsfreiheit eingeschränkt und mehr als 1400 HDP-Funktionäre inhaftiert worden, sagt Sinclair-Webb. Besonders der inhaftierte HDP-Chef Selahattin Demirtas - der scharfzüngigste Kritiker Erdogans - fehlt dem unkoordinierten und in sich zerstrittenen «Nein»-Lager schmerzlich.

Nicht erfüllte Garantien

Die Regierung hatte auch den Gegnern des Präsidialsystems einen fairen Wahlkampf versprochen. «So legitim es ist, 'Ja' zu sagen, so legitim ist es auch, 'Nein' zu sagen», hatte Vize-Ministerpräsident Numan Kurtulmus nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu Ende Januar betont. «Wir garantieren, dass jeder unter gleichen und freien Bedingungen Wahlkampf betreiben kann.»

Ein türkischer Wahlexperte, der nicht namentlich genannt werden möchte, sieht diese Garantie nicht erfüllt. Die «Ja»-Seite missbrauche Staatsressourcen wie beispielsweise Flugzeuge für ihren Wahlkampf.

Ihr stünden ausserdem grosse Geldbeträge zur Verfügung, während die Gegenseite so gut wie mittellos sei. Der Experte kommt zu dem Schluss: «Alles an diesem Wahlkampf ist unfair.»

(sda/ccr)

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