Unermüdlich hat Recep Tayyip Erdogan in den Wochen vor dem Referendum für sein Präsidialsystem geworben. Bei dutzenden Auftritten in den Metropolen und der Provinz hat sich der 63-Jährige die Kehle wund geschrien, bis selbst dem erprobten Wahlkämpfer die Stimme versagte.
Doch der Einsatz hat sich für Erdogan gelohnt – wenn auch ein strahlender Sieg anders aussieht. Nicht nur fiel das Ergebnis äusserst knapp aus, sondern die Opposition fordert auch bereits eine Neuauszählung.
Viele Gesichter
Der Vollblutpolitiker mit dem Gestus eines Volkstribuns versteht es wie kein Zweiter in der Türkei, die Massen zu mobilisieren. In seine Reden mischt der fromme Muslim Koranverse und nationalistische Gedichte, um dann wieder zur Sprache des Istanbuler Arbeiterviertels Kasimpasa zu wechseln, in dem er aufgewachsen ist.
Doch mit seinem Wahlkampf hat Erdogan die Gesellschaft polarisiert. Seine Gegner ging er in seinen Reden hart an und zögerte im Wahlkampf auch nicht, die Nein-Wähler als Unterstützer des Terrorismus und als Landesverräter zu diffamieren.
Auf Konfrontationskurs
Im Streit um Auftritte türkischer Minister beschimpfte er Deutschland und die Niederlanden als Nazis. Europa nannte der Politiker, der einst die Türkei zum EU-Beitrittskandidaten gemacht hatte, einen «verrottenden Kontinent».
Nach dem Referendum wolle er das Verhältnis zur EU grundlegend zur Debatte stellen, kündigte er an – auch wenn sich die Türkei eine Abkehr von Europa kaum leisten kann. In seiner ersten Rede am Sonntagabend kündigte er an, die Wiedereinführung der Todesstrafe auf die Agenda zu setzen und ein zweites Referendum abzuhalten, wenn das Parlament nicht zustimmt. Versöhnliche Töne sehen anders aus.
Zwischen Verehrung und Ablehnung
Zwar hat Erdogan das Referendum laut Staatsmedien mit 51,3 Prozent gewonnen, doch bedeutet dies auch, dass fast die Hälfte der Türken eine weitere Stärkung seiner Macht ablehnen. Nach 15 Jahren an der Macht spaltet er mehr denn je die Geister: Während dem «Reis» (Chef) bei seinen Anhängern eine Verehrung zuteil wird, die nur mit dem Personenkult um Mustafa Kemal Atatürk vergleichbar ist, stösst er bei Gegner auf Ablehnung.
Der Politiker, der als Bürgermeister von Istanbul 1994 erstmals die nationale Bühne betrat, hat das Land tiefgreifend verändert: In seiner Amtszeit hat sich das Bruttoinlandprodukt verdreifacht und das Leben der Türken spürbar verbessert. Das Gesundheitssystem ist auf Vordermann gebracht worden und die Infrastruktur hat Erdogan mit dem Bau von Strassen, Brücken und Tunnels modernisiert.
Den konservativen Muslimen hat er einen Platz in der Öffentlichkeit zurückgegeben, die lange von den säkularen Eliten beherrscht war. Mit der Entmachtung des Militärs hat er die Demokratie gestärkt und erstmals Friedensgespräche mit den Kurdenrebellen aufgenommen.
Absicherung der Macht
Doch reagierte er zunehmend autoritär auf Kritik, schränkte die Meinungsfreiheit ein und liess 2013 Proteste gewaltsam niederschlagen. Nicht zuletzt der gescheiterte Militärputsch vom 15. Juli hat gezeigt, wie gross der Widerstand gegen Erdogan ist.
Auch deshalb war es Erdogan so wichtig, seine Macht durch das Präsidialsystem abzusichern. Manche hoffen nun, dass er auf Versöhnung setzt. Viele Gegner befürchten aber, dass er seine neue Macht eher nutzt, um endgültig allen Widerspruch in der Türkei zum Verstummen zu bringen.
(sda/jfr)