BILANZ: Im Süden von Mumbai nimmt Sandoz eine neue Generikafabrik mit einer Kapazität von einer Milliarde Tabletten pro Jahr in Betrieb. Was spricht für den Produktionsstandort Indien?

Erwin Schillinger: Indien ist ein Land, das über ein profundes pharmazeutisches Produktions-Know-how verfügt. Indische Chemiker sind ausserordentlich fähig. Die kopieren Ihnen alles.

Woher rührt diese Begabung?

Vielleicht hat es mit der indischen Mentalität und der Fähigkeit zum abstrakten Denken zu tun. Im Zusammensetzen von Molekülen sind Inder überdurchschnittlich erfolgreich. Irgendwie scheinen sie sich das besonders gut vorstellen zu können.

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Wäre es unter solchen Voraussetzungen nicht angezeigt, auch in die Grundlagenforschung einzusteigen?

Ciba-Geigy unterhielt in Indien seinerzeit ein Pharmaforschungszentrum, das aber nie etwas Bahnbrechendes gebracht hat. Forschung ist nur dort machbar, wo die Umgebung stimmt. In Indien ist das gegenwärtig noch nicht der Fall, weshalb Spitzenforscher sich kaum dazu bewegen lassen, auf dem Subkontinent zu leben und zu arbeiten. Was Sie in Indien haben, ist das chemische Engineering. Darin sind die Inder gut. Bei der medizinischen High-End-Forschung, etwa auf dem Gebiet der Gentechnologie, ist das Land allerdings noch meilenweit von dem weg, was wir brauchen.

Welche Rolle spielt der Patentschutz, der seit Anfang 2005 nun auch in Indien zu greifen beginnt?

Langfristig wird die neue Gesetzesgrundlage die Situation sicher verbessern, aber nicht sofort. Gewöhnlich melden wir Patente in einem sehr frühen Stadium an, das heisst vor Beginn der klinischen Studien. Die ersten Medikamente, für die wir mit einem echten Patentschutz rechnen können, werden somit frühestens in sieben oder acht Jahren auf den indischen Markt kommen.

Und das Antikrebsmittel Glivec, für welches Novartis schon heute eine präferenzielle Behandlung geniesst?

Offiziell ist Novartis exklusiv berechtigt, Glivec in Indien zu vermarkten. Indische Generikafirmen kopieren es aber de facto nach wie vor und gehen auch gerichtlich gegen diesen präferenziellen Status vor.

Was bei Behandlungskosten von über 20 000 Franken pro Jahr auch kein Wunder ist. Warum geben Sie Glivec in Indien nicht günstiger ab?

Auf dem freien Markt, das heisst für Inder, die es bezahlen können, ist der Preis der gleiche wie in der Schweiz. Daneben unterhält Novartis ein spezielles Hilfsprogramm für bedürftige Patienten. Diesen wird Glivec zu Selbstkosten, teilweise sogar kostenlos abgegeben. Im vergangenen Jahr bezogen 2700 Inder das Medikament gratis oder verbilligt; Vollzahler gab es weniger als 100.

Warum pocht Novartis auf ein exklusives Vermarktungsrecht, wenn sich die meisten Inder die Antikrebspille ohnehin nicht leisten können?

Glivec ist ein wichtiger Testfall. Ein anderes Spitzenprodukt von Novartis, Diovan gegen Bluthochdruck, wurde schon kopiert, bevor wir überhaupt in Erwägung zogen, dieses auf den indischen Markt zu bringen. Das Gleiche geschah mit dem Potenzmittel Viagra: Bevor Pfizer überhaupt daran dachte, waren schon drei Kopien auf dem indischen Markt. Der Preis war von Beginn weg so tief, dass Pfizer von einer Lancierung absah.

Werden die grossen Pharmakonzerne ihre klinischen Studien in absehbarer Zukunft in Indien durchführen?

«Made in India» verfügt derzeit noch nicht über das nötige Qualitäts-Standing, um weltweit anerkannt zu werden. Nicht zuletzt handelt es sich dabei auch um ein psychologisches Problem. Bei der FDA würde man jedenfalls staunen, wenn wir auf einmal mit einer gross angelegten und in Indien durchgeführten Patientenstudie daherkämen.

Patientenstudien lässt Novartis aber schon jetzt von indischen Statistikern auswerten. Was wird als Nächstes ausgelagert?

Wir verfolgen keine Going-India-Strategie, bei der wir sagen: «Alles, was wir neu oder zusätzlich benötigen, bauen wir in Indien auf.»

Immerhin hat bereits jeder dritte IT-Spezialist, der bei Novartis auf der Payroll steht, seinen Arbeitsplatz auf dem Subkontinent.

In spezifischen Bereichen wie der Software- und Applikations-Entwicklung wird Indien in Zukunft weiter an Bedeutung gewinnen. Man kann es sich heute gar nicht mehr leisten, Indien im IT-Bereich ausser Acht zu lassen.