Ein 85-seitiges Antragsformular und mehrere Kilogramm Steuerunterlagen sowie Nachweise über Wohn- und Arbeitsverhältnisse in den letzten 5 Monaten - Dietmar Wolke hat mehrere Tage gebraucht, um den Antrag auf ein Bleiberecht in Grossbritannien auszufüllen. Wie dem deutschen Professor, der seit 28 Jahren in William Shakespeares Geburtsstadt Stratford-upon-Avon lebt, geht es Zehntausenden EU-Bürgern, die angesichts des Brexit-Referendums nun um ihren Platz im Vereinigten Königreich kämpfen müssen.

Seit dem Votum der Briten für einen Austritt aus der Europäischen Union (Brexit) im vergangenen Juni ist die Zahl der Anträge von Bürgern aus anderen EU-Staaten auf ein Bleiberecht in die Höhe geschossen: Im letzten Quartal 2016 war sie sechsmal so hoch wie ein Jahr zuvor. 12'800 Anträge aus diesem Zeitraum wurden allerdings zurückgewiesen oder für ungültig erklärt. Das entspricht mehr als 28 Prozent. Gründe sind vor allem die Komplexität des bürokratischen Vorgangs und die hohen Anforderungen an den Antragsteller.

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Detaillierte Auskunft

«Ich musste beweisen, dass ich hier arbeite und dass ich genug Geld verdiene. Das muss auch mein Arbeitgeber bestätigen. Und ich musste Auskunft geben über jede Reise, die ich in den letzen fünf Jahren ausserhalb Grossbritanniens unternommen habe», erklärt Wolke.

Er ist als Professor für Psychologie an der Universität Warwick häufig im europäischen Ausland und in den USA unterwegs, um an Projekten oder Studien mitzuarbeiten. Aus diesem Grund konnte er den britischen Behörden auch nicht seinen Reisepass aushändigen. Stattdessen reichte er eine notariell beglaubigte Kopie ein - und erhielt zunächst eine Absage, weil die Aushändigung des Original-Reisepasses für die Antragstellung unbedingt erforderlich ist.

EU-Bürger werden als Faustpfand behandelt

Politiker verschiedener Lager, darunter auch Brexit-Befürworter, hatten dafür plädiert, EU-Bürgern ein Bleiberecht zuzusichern. Die britische Premierministerin Theresa May, die heute Mittwoch den offiziellen Brexit-Antrag einreicht, hat allerdings jegliche Zugeständnisse gegenüber den drei Millionen EU-Ausländern in Grossbritannien ausgeschlossen, solange keine analoge Regelung für die Briten in der EU vereinbart ist.

«Ich bin sehr enttäuscht. Wir werden als Faustpfand genutzt», sagt Monica Obiols, eine gebürtige Spanierin, die seit 1989 mit ihrem holländischen Partner in Grossbritannien lebt. Ihr Antrag auf Bleiberecht war erfolgreich, allerdings war ihr Name auf der Genehmigung falsch geschrieben. Sie muss nun wieder umgetauscht werden.

Anwälte wittern gutes Geschäft

«Das Verfahren ist einschüchternd», bestätigt Barbara Drozdowicz vom East European Resource Centre in London, das EU-Bürger bei der Antragstellung unterstützt. «Das Hauptproblem ist nicht das Antragsformular, es sind die Nachweise, die erbracht werden müssen. Es kommt auf jedes einzelne Dokument an, jeden Brief, alles. Wer hebt so etwas schon ewig auf?»

Der Vorsitzende des Brexit-Ausschusses im Parlament, Hilary Benn, beklagte, dass das System überfordert sei. Wenn man die bürokratischen Abläufe vor dem Referendum zugrunde lege, würde es 140 Jahre dauern, bis alle Anträge abgearbeitet seien, sagte er.

Und nicht nur die Langwierigkeit des bürokratischen Vorgangs sei problematisch, sagte Drozdowicz. «Allerhand Betrüger wittern hier eine interessante Möglichkeit Geld zu machen.» Manche Anwälte verlangten 2000 Pfund für ihre Dienste bei der Antragsstellung.

«Braindrain» aus dem Vereinigten Königreich deuten sich an

Der Psychologie-Professor Wolke hat in den letzten sechs Monaten zwei Angebote deutscher Universitäten bekommen. In seinen Augen deutet sich hier ein «Braindrain», eine Abwanderung von gut gebildeten Arbeitskräften aus Grossbritannien an. Aktuell seien rund 25 Prozent der Angestellten der britischen Top-Universitäten Bürger aus anderen EU-Staaten.

Der 59-jährige Wolke hat sich aber trotz des Ärgers nicht dafür entschieden, das Land zu verlassen, das zu seiner Heimat geworden ist. Er ist Anhänger von englischen Fussball-Clubs, sein 28-jähriger Sohn vertrat Grossbritannien bei den Triathlon-Weltmeisterschaften 2016. Aber während ihres Kampfes mit der britischen Bürokratie kamen sich Wolke und die Spanierin Oblion oft wie Bürger zweiter Klasse vor. «Wir sind im Scheidungsprozess Grossbritanniens von der EU die hilflosen Kinder, die nichts dafürkönnen», sagte Wolke.

(reuters/ccr)