Etwas Beklemmendes hat es schon, jetzt über die Arbeit von Sergio Marchionne zu schreiben. Der langjährige Konzernchef von Fiat Chrysler ist am Mittwoch überraschend gestorben.
Sicher, bei der Unternehmensgruppe FCA (Fiat Chrysler Automobiles) war er bereits am Wochenende ersetzt worden, die Nachfolger sind ernannt; eigentlich die passende Zeit, um Bilanz zu ziehen. Doch Marchionne ging nicht freiwillig, er lag nach einer Operation schwer krank im Zürcher Unispital. Alle Meldungen liessen das Schlimmste befürchten.
Der Sanierer
Dennoch ist die Frage jedoch berechtigt: Was bleibt von dem schillernden Manager Sergio Marchionne, vor allem seinen 14 Jahren an der Spitze von Fiat? Unbestritten sind seine erfolgreichen Sanierungen in der Schweiz: die erste bei Alusuisse-Lonza, bei der er 1997 seine CEO-Karriere startete, die zweite ab 2002 beim Genfer Warenprüfkonzern SGS.
Ein Mitglied der Fiat-Eignerfamilie, Umberto Agnelli, war dort dank eines 15-prozentigen SGS-Aktienpakets der Familienholding Exor im Verwaltungsrat. So einen konnten sie in Italien brauchen: einen, der nicht nur ständig den Shareholder Value zu seiner wichtigsten Messlatte erklärte, sondern dann auch lieferte. So wurde Marchionne, ein bis dahin zwar erfolgreicher, aber bei global eher unterklassigen Unternehmen beschäftigter Sanierer, schon im Folgejahr zu Italiens Autoikone Fiat gelotst; zunächst ins Board, 2004 übernahm er den CEO-Sessel. Von da an ging es rund in Turin.
Irrwitzige Prognosen
Marchionne legte sich mit der verwöhnten Belegschaft und damit den Gewerkschaften an, sparte Führungsebenen ein und scharte eine Truppe arbeitswilliger Jungmanager um sich, genannt die Marchionne-Boys, die den 80-Stunden-Wochen des Chefs mit seinen sechs Mobiltelefonen standhalten konnten. Vor allem aber setzte der Italo-Kanadier rigoros den Rotstift an. Investitionen in moderne Technologien, neue Fahrzeuge – sorry, kein Geld da. Der Chef hungerte den Autobauer regelrecht aus.
Dennoch verkündete er immer wieder irrwitzig hohe Verkaufsprognosen, etwa für die Sportmarke Alfa Romeo, die er nicht nur immer wieder verfehlte; Alfas Absatz sank sogar noch weiter. Dann warb er mit der Prophezeiung, nur Autobauer mit einem Ausstoss von mindestens fünf Millionen Autos jährlich würden überleben, um Käufer für die Fiat-Gruppe – doch weil bis heute keiner Interesse zeigt, ist er in die Gegenrichtung umgeschwenkt: Er setzte auf Nischenmarken wie Jeep, Maserati oder eben Alfa Romeo, die Volumenmarke Fiat siecht vor sich hin, Lancia ist längst tot.
Sehr spät erst hat sich der Konzern Richtung E-Mobilität bewegt. Von den französischen Herstellern, einst in einer ähnlichen Krise wie die Italiener, sieht Fiat heute nicht einmal mehr die Rücklichter. Sie sind enteilt.
Allerdings sagte Sergio Marchionne früh einem Analysten in seiner typisch schonungslosen Art: «Ich bin nicht hier, um Autos zu bauen, ich bin hier, um Geld zu machen.» Und was er virtuos beherrscht, ist Portfoliomanagement. Sein Husarenstück war die Übernahme von 51 Prozent an Chrysler 2014 für nur 900 Millionen Euro, heute spielt Chrysler mehr als acht Zehntel des Konzerngewinns ein.
Entschuldet und hochprofitabel gemacht
Schon Ende 2013 hatte Marchionne den Lastwagen- und Landmaschinenbauer CNH, bei dem Fiat die Nutzfahrzeugsparte (darunter Iveco) untergestellt hatte, an die Börse gebracht. Im Herbst 2015 liess er auch Edelsporttochter Ferrari an der Börse listen und mittels immer neuer «Equity Stories» (Mehr Merchandising! Ferrari baut ein SUV!) den Kurs befeuern. Aktuell bereitet sich der konzerneigene Zulieferer Magneti Marelli mit acht Milliarden Euro Umsatz auf ein IPO vor.
Marchionne hat einen verkrusteten, verschlafenen Autobauer geweckt und vor sich hergepeitscht, entschuldet, hochprofitabel gemacht und den Aktienwert vervielfacht – was übrigens, gemäss einem Fiat-Verwaltungsrat, wohl sein eigentlicher Job war: das Vermögen der Agnellis, in deren Familienholding er als Vizepräsident sitzt, langfristig abzusichern. Der Erfolg erstreckte sich auch auf seine eigene Schatulle. Inzwischen hatte er weit über eine halbe Milliarde Franken angehäuft. «Als Value Creator» solle man sich an ihn erinnern, beschied er einmal einem Analysten auf die Frage, ob er als Retter der italienischen Autoindustrie in die Geschichte eingehen wolle. Emotionen dieser Art waren ihm fremd.
Beliebt und verehrt
Dass der FCA-Konzern heute finanziell so gut dasteht, ist auch Marchionnes gutem Draht zur Finanzcommunity zu verdanken – die Aktie stieg, der Konzern kam günstig an Geld. Marchionne konnte Investoren für sich einnehmen, hatte regelrechte Fans unter den Auto-Analysten der Finanzhäuser. Sie liebten seine direkten, unverblümten Statements in den vierteljährlichen Telefonkonferenzen. Rief er abends höchstselbst auf dem Handy an, um sie für irgendeine Einschätzung in ihren Berichten zusammenzufalten, waren sie noch stolz darauf. Und immer war er für eine lässige Zigarettenpause oder einen lockeren Spruch gut – Marchionne sprach Finance. Er war einer der ihren.
Max Warburton von Bernstein Research schreibt, er wolle sich nun eine 500 PS starke Alfa Romeo Giulia kaufen, um Marchionne zu ehren. Lässt sich sein Standing besser beschreiben?
Auf Manley wartet grosses Herausforderung
Das grösste Fragezeichen steht trotz Marchionnes Erfolge hinter der Zukunft des Konzerns. Denn sein Nachfolger an der Spitze, der bisherige Jeep-Chef Mike Manley, ist kein Magier des Finanzmarktes, sondern Ingenieur. Will er den Aktienwert nicht gefährden, muss Fiat nun im Kerngeschäft liefern, das Marchionne vernachlässigte: gute Autos bauen. Bei Alfa und Maserati sind die Produktpaletten dünn, auch Erfolgsmarke Jeep muss weiter zulegen, wenn die Ziele für 2022 erreicht werden sollen, die Marchionne am Investorentag Anfang Juni noch selbst ausgegeben hat: doppelter Betriebsgewinn, sieben Prozent jährliche Umsatzsteigerung.
Vor allem müsste Manley den Absatz ankurbeln: Marchionne prognostizierte für Jeep 50 Prozent mehr Verkäufe als heute, Maserati müsste sich verdoppeln, Alfa Romeo um über 150 Prozent wachsen. Zusätzlich muss Manley in der Elektromobilität riesige Rückstände aufholen.
Verglichen damit, hat Louis Camilleri einen einfachen Job: Der schwerreiche Konsumgüterprofi, der mehrfach mit Ex-Supermodel Naomi Campbell gesehen wurde, ersetzt Marchionne als Ferrari-Chef. Operativ brummt die Sportwagenschmiede gewohnt hochtourig, gefährlich werden könnten ihm allenfalls die lange erwarteten Rücksetzer der astronomisch hohen Börsenbewertung von Ferrari.
Bleibt Fiat bei den Agnellis?
Vor diesem Hintergrund fragen sich Beobachter, wie lange (und ob überhaupt) die neuen Bosse Marchionnes Ziele und Prognosen für 2022 übernehmen werden – oder ob sie diese zügig zu den Akten legen. Ungeklärt ist auch der Umgang der Agnelli-Familie mit ihren Unternehmensbeteiligungen; der Abgang von Marchionne bedeutet für sie den Verlust ihres Vermögensverwalters. Selbst Clan-Chef John Elkann schien bisher keine Ambitionen zu haben, sich stärker operativ zu engagieren.
Wirklich sicher scheint bislang nur eines: Mit Marchionnes Abtritt ist die Autobranche, die Welt der Corporates überhaupt, um einen hochbegabten, flamboyanten und inspirierenden Manager ärmer.