Wenn Sergio Marchionne sich von einem seiner 18-Stunden-Tage erholen will, setzt er sich in seinen Maserati Quattroporte und drückt aufs Gaspedal. Vom Fiat-Hauptquartier in Turin heim nach Walchwil am Zugersee schafft er es mitunter in knapp dreieinhalb Stunden. Weil er sich in Italien nicht an die Geschwindigkeitslimite halten muss. Als Fiat-Chef steht ihm eine Polizeieskorte zu, die ihn bis zur Grenze begleitet und ihn beschützt, was immer er auch macht. Manchmal schafft es die Eskorte kaum, mit seinem Tempo mitzuhalten. Die Möglichkeiten, ein Wochenende in seinem Wahldomizil am Zugersee zu verbringen, sind für den geschiedenen Vater zweier Söhne allerdings spärlich. Seit 2009 ist der Italo-Kanadier Chef von zwei Grossunternehmen – nebst Fiat steht er auch dem amerikanischen Autokonzern Chrysler als CEO vor.
Rund zwei Wochen pro Monat verbringt der 58-Jährige in den USA, allerdings kaum an einem Stück, pendelt er doch konstant hin und her, schläft zwei oder drei Stunden im Flugzeug, um in Turin oder am Chrysler-Sitz in Auburn Hills, Michigan, seinen Arbeitstag früh mit einem seiner unzähligen Espressi zu beginnen. «Ich brauche nicht viel Schlaf», sagt Marchionne. Für das 45-minütige Gespräch mit der BILANZ ruft er aus Detroit an. Es ist Freitagvormittag. Am Wochenende muss er zu den Chrysler-Produktionsstätten in Mexiko, am Dienstagmorgen reist er in die Schweiz. Um am Puls des Geschehens zu bleiben, besitzt er sechs Smartphones, die er in einem kleinen Reiserucksack mit sich führt. Wo sonst Platz für den Rasierschaum wäre, hat er seine drei Blackberrys und drei Mobiltelefone verstaut. Je nachdem, welches klingelt, weiss er, aus welcher Ecke nach ihm gefragt wird. Er ist zusätzlich Präsident des Schweizer Warenprüfkonzerns SGS sowie Verwaltungsrat des US-Tabakkonzerns Philip Morris.
Der Unvorhersehbare
Er hat drei Telefonnummern – eine schweizerische, eine italienische und eine amerikanische –, damit er immer den besten Empfang hat. Der Technik-Freak will stets die neuesten Ausführungen und Anwendungen der Smartphones und bringt damit seine IT-Leute mitunter zur Verzweiflung. Eine Tasche für seine Mobiltelefone braucht er nicht zuletzt deshalb, weil er sonst keinen Stauraum hat. Tragen die meisten Manager Anzug, so tritt Marchionne im Pullover auf – da bleiben nur die Hosentaschen. Den kleinen Rucksack hängt er sich über die Schulter – so hat er seine Hände frei. Der schwarze Pullover ist sein Markenzeichen – bewusst eingesetztes Symbol der Unkonventionalität, verbunden mit einer Message: Ich bin anders als andere Manager. Besser. Es reflektiere seine Grundüberzeugungen, sagt Marchionne: «Man darf sich nicht von Formalitäten einengen lassen. Man muss ausgetrampelte Pfade verlassen. Man darf nicht vorhersehbar sein.» Dies sei für ihn einer der wichtigsten Grundsätze für den Erfolg im Geschäftsleben: «Wer vorhersehbar ist, wird von der Konkurrenz schneller eingeholt.» Er stapelt rund drei Dutzend schwarzer Pullover an jedem seiner Wohnsitze in Turin, Walchwil und Michigan. Dasselbe gilt für seine schwarzen Bundfaltenjeans. So kann er mit einem Minimum an Gepäck reisen. Die Pullover kauft er übers Internet.
Er hat überall, wo er lebt, die gleichen Kleider, bis hin zu den Socken. Erstaunlich ist, welch physische Präsenz Marchionne ausstrahlt. Zu spüren war dies jüngst am Genfer Auto-Salon, als er – belagert von Journalisten und Schaulustigen – auf die Präsentation der neuen Fahrzeuge aus seinem Autoreich wartete, auf die Enthüllung des neuen Ferrari FF. Absolut relaxed, trotz der um ihn herrschenden Hektik, selbstbewusst, mit festem Blick und einem leichten Lächeln um die Mundwinkel vermittelte er den Eindruck eines Menschen, der vollkommen in sich ruht. Neben ihm wirkte der junge John Elkann, Präsident von Fiat und Enkel von Firmenlegende Gianni Agnelli, schon fast zappelig.
Marchionne ist ein Star, und er weiss es. Die Sanierung von Fiat, der er seit 2004 als Konzernchef vorsteht, hat ihn in den Management-Olymp befördert. Den Konzern, der am Boden lag und zuletzt sogar Anteile an der Tochtergesellschaft Ferrari den Banken verpfänden musste, damit er die Lohnzahlungen an die 170 000 Arbeiter im Fiat-Konglomerat garantieren konnte, hat Marchionne wieder in die Gewinnzone geführt. Eine Rückkehr zu schwarzen Zahlen hat er für dieses Jahr auch bei Chrysler versprochen. Es käme einer Sensation gleich – noch 2009 musste Chrysler Insolvenz beantragen und wurde vom amerikanischen Staat mit Milliarden gestützt. Die Schweizer SGS, die er als CEO sanierte und nun als Präsident beaufsichtigt, hat er zur Börsenperle gemacht. «Wette nie gegen Sergio Marchionne», lautete schon vor Jahren unter vielen Börsenanalysten die Regel, wenn es um die Wirkung des Managers auf die Märkte ging. Heute gilt Marchionne als der globalste Manager der Welt – und als der, der sich am meisten zutraut. Beim transatlantischen Schulterschluss mit einem amerikanischen Autobauer haben sich andere Europäer wie Daimler blutige Nasen geholt.
Internationale Medien reissen sich um ihn – fast alle Anfragen lehnt er ab. Was macht ihn als Manager so einzigartig? Was ist das Geheimnis des Sergio Marchionne? Da ist zunächst die ungewöhnlich lange Dauer seiner Ausbildung, die jedes Klischee einer dynamischen Karriere Lügen straft. Geboren 1952 im italienischen Abruzzenstädtchen Chieti als Sohn eines Carabiniere, wanderte der 14-Jährige mit seinen Eltern nach Kanada aus.
Lange Ausbildung
Erst mit 31 Jahren beendete er sein Studium und wendete sich einer Tätigkeit in der Wirtschaft zu. Manch ein Vater würde den Sohn wohl als ewigen Studenten abtun und wäre voller Sorgen um dessen Zukunft. So war es auch bei Marchionne: «Mein Vater dachte, ich würde Taxifahrer. Das war technisch das Einzige, wozu ich fähig war.» Mit 31 Jahren betrat ein nicht mehr ganz junger Mann die Arbeitswelt, dafür einer mit ungewöhnlich breit angelegter Ausbildung. Marchionne hatte zunächst Philosophie studiert, machte einen MBA, absolvierte ein Jusstudium. Die Zulassungsprüfung zum Anwalt machte er erst mit 35 Jahren. Er bildete sich zudem on the job als Wirtschaftsprüfer weiter. Das Ergebnis der langen Ausbildung ist ein Mensch mit einem äusserst breiten Horizont, Philosoph und Buchhalter in einem, ein Accountant, Zahlenmensch und Erbsenzähler, doch auch ein Kulturmensch, der mit der Philosophie eines Ludwig Wittgenstein vertraut ist. Einmal im Berufsleben, ging es Schlag auf Schlag: Nach Jobs als Controller und Entwicklungschef verschiedener kanadischer Firmen wurde er mit 40 Jahren Finanzchef der Verpackungsfirma Lawson Mardon. Diese Firma kam 1994 in den Besitz des Schweizer Industriekonzerns Alusuisse. Marchionne war einer der wenigen Kanadier, die übernommen wurden. Drei Jahre später war er CEO.
Ohne das breite Fundament seiner Ausbildung ist die Karriere von Sergio Marchionne nicht zu erklären. Auch heute noch, in seinem täglichen Managerleben, spielen diese gegensätzlichen Elemente eine Rolle. Seine Prinzipien der Firmenführung muten mitunter philosophisch an, doch gleichzeitig kann keiner dem Wirtschaftsprüfer in Bezug auf Zahlen etwas vormachen. In Meetings agiere er grandios, erzählen viele, die mit ihm zu tun haben. Etwa Alessandro Baldi, heute Group Controller von Fiat, der mit Marchionne schon zu Alusuisse-Zeiten zusammenarbeitete: «Manchmal wird in einer Runde ein Problem lange hin und her diskutiert. Dann kommt er, und eine Lösung ist da.» Marchionne überrasche ihn nach all den Jahren immer noch. «Sergio ist ein Mann der Details», sagt Peter Kalantzis, der ebenfalls schon bei Alusuisse mit ihm zusammengearbeitet hat und heute mit ihm im Verwaltungsrat von SGS sitzt. Es gibt Manager, denen man ein ausgeprägtes Bauchgefühl nachsagt, etwa dem verstorbenen Uhrenpatron Nicolas Hayek. Marchionne sei nicht dieser Managertypus, so Kalantzis: «Das Bauchgefühl wird bei ihm morphologisch erarbeitet. Fast mathematisch, mit einer enorm disziplinierten Logik.» So spalte Marchionne ein Problem in seine einzelnen Komponenten auf, baue Schritt für Schritt an der Lösung. Dies allerdings in einem ungeheuren Tempo.
Agnelli-Erbe John Elkann kommt zu einer ähnlichen Einschätzung: «Sergio Marchionne ist äusserst rational in seinen Analysen und Beurteilungen. Und er lässt sich nicht ablenken. Er zieht seine Linie strikt durch», sagt der Fiat-Präsident im Gespräch mit BILANZ. Der 34-Jährige, der nach dem Tod seines Grossvaters Gianni Agnelli vor einigen Jahren zum neuen Clanchef und Vertreter der Familienbeteiligungen ernannt wurde, hält grosse Stücke auf seinen CEO. «Wir haben eine sehr enge Beziehung, die sich über die letzten acht Jahre entwickelt und intensiviert hat. Wir sind fast täglich in Kontakt, persönlich, per Telefon, E-Mail oder SMS.» Ihn verbinde mit Marchionne eine Beziehung, die auf grossem Vertrauen und gegenseitigem Respekt basiere. «Ich habe vieles von ihm lernen können. Etwa die Notwendigkeit, den Problemen auf den Grund zu gehen. Simple Lösungen für komplexe Probleme zu finden. Sich den Problemen zu stellen, sie nicht hinauszuschieben.» Dies sei wichtig, denn «Verschleppung ist die tödlichste Form der Leugnung», so Elkann. Schonungslose Offenheit, gepaart mit Tempo, ist in der Tat das entscheidende Merkmal des Marchionne-Stils. Ein eindrückliches Beispiel dieser Grundhaltung lieferte er bei der Sanierung von Fiat. Als er 2004 zum CEO berufen wurde, lag der Konzern am Boden. Zuletzt verlor Fiat zwei Millionen Euro pro Tag.
Hilferuf aus Turin
Die Fiat-Gründerfamilie befand sich in Auflösung. Der grosse Gianni Agnelli, Lebemann und unangefochtener Leader des industriellen Italien, starb 2003 an Prostatakrebs. Ein Nachfolger fehlte. Der designierte Erbe Giovanni, Sohn von Giannis Bruder Umberto, starb mit 33 an Krebs. Enkel John Elkann, Sohn von Giannis Tochter Margherita, war noch zu jung, um das Zepter zu übernehmen. So sprang Umberto Agnelli, bereits im Rentneralter, in die Bresche. Er brachte einen Mann mit, der ihn andernorts beeindruckt hatte. Die Agnelli-Familie ist seit vielen Jahren Grossaktionärin von SGS. Dort hatte ein ehemaliger Alusuisse-Manager namens Sergio Marchionne als CEO nach 2002 einen Turnaround wie aus dem Bilderbuch hingelegt – und den Börsenwert der Firma tüchtig gesteigert. Umberto Agnelli holte Marchionne 2003 in den Verwaltungsrat von Fiat. Als Umberto 2004 starb, bat die Familie Marchionne um die Übernahme des Chefpostens beim Autokonzern. Der Job galt als aussichtslos, ja als Karrierekiller. Vier CEO in nur zwei Jahren waren verschlissen worden. Marchionne überlegte nicht lange: «Die Agnellis sind die Agnellis. Wenn diese Familie dich fragt, dann macht man das.»
Schonungslos legte er den Besitzern die Dramatik der Situation dar – und machte sich unverzüglich an die Arbeit. Er brach die verkrusteten Strukturen auf, schaffte mehrere Hierarchieebenen ab und übertrug jungen Führungskräften Verantwortung. Zusätzlich forcierte er die Modernisierung der Modellpalette und verbesserte die Produktionsabläufe. Der wiederbelebte Fiat Cinquecento etwa wurde Kult und Verkaufsschlager. Bereits 2006 erzielte Fiat wieder einen Gewinn. Was bezeichnet Marchionne selber als seine grösste Stärke als Manager? Er überlegt lange und sagt dann: «Die Auswahl und die Förderung von Leaderfiguren im Unternehmen. Ein Firmenchef hat zwei wichtige Aufgaben: den Wandel zu führen – und Leute zu führen.» Er setze bevorzugt auf junge Leute, «die sind noch nicht korrumpiert von den traditionellen Betriebsabläufen». Anders als viele Manager, für die Leadership nur eine Worthülse ist, setzte Marchionne seine Grundsätze auch schonungslos um. Etwa mit seiner Neun-Box-Matrix. Dies ist ein intern ebenso berühmtes wie berüchtigtes Beurteilungssystem. Die eine Achse steht für Leadership, die andere für Performance. Es gibt je drei Boxen nach rechts und nach oben. In der Box neun sei nicht einmal er selber, sagt Marchionne.
Marcel Rohner, Ex-Chef der Schweizer Grossbank UBS, soll von ihm nur eine Fünf bekommen habe, erzählen Insider. Wenig später räumte er seinen Posten. Marchionne war von 2007 bis 2010 Vizepräsident der UBS und als Lead Independent Director der starke Mann der Bank. In einem Interview mit BILANZ vom Herbst 2008 äusserte sich Marchionne auch öffentlich kritisch zur Führung der UBS, was für Aufsehen sorgte. Es war nicht das erste Mal. Unangenehme Entscheide nicht unter den Tisch zu wischen – das unterscheidet ihn von vielen Chefs und macht ihn so effektiv. Ein Beispiel dafür war auch, wie er 2004 als Verwaltungsratspräsident der von Alusuisse abgespaltenen Lonza deren damaligen CEO Markus Gemünd in den Senkel stellte.
Wenn die derzeitige Führung von Lonza versage, «dann gibt es eine neue, die es kann», durfte Gemünd aus der «SonntagsZeitung» vernehmen. Kurz darauf wurde er geschasst. «Ich habe nur gesagt, ich sei nicht zufrieden mit dem Management», erklärte er damals. «Mir wurde diese Frage gestellt. Hätte ich die Antwort verweigern oder lügen sollen? Ich lüge nicht.» Er sei nicht brutal: «Wenn man Ehrlichkeit und absolute Klarheit bei bestimmten Themen mit Rücksichtslosigkeit verwechselt, hat man ein Problem.» So hart er rüberkommt, so gross ist andererseits seine Gabe als Motivator. Für den indischen Automobilmogul Ratan Tata, der auch als Verwaltungsrat von Fiat wirkt, ist die herausragendste Fähigkeit von Marchionne gar «seine Fähigkeit, Leute zu inspirieren». Bei Fiat gab es eine Gruppe junger Führungskräfte, die er förderte: die «Marchionne-Boys». Von denen hiess es, sie gingen für ihren Chef durch dick und dünn. Nicht alle hatten den langen Atem: Fiat-Marketingchef Luca De Meo, der als Kronprinz galt, wechselte 2009 zu VW. Bohrende Fragen. Zu den wichtigsten Führungstools von Marchionne gehören die «Operations Councils», Meetings im überschaubaren Kreis von 20 bis 25 Leuten. In langen Sitzungen, oft übers Wochenende, trommelt Marchionne Entscheidungsträger aus verschiedenen Sparten zusammen.
Die Meetings dauern lange, doch weil alles in Anwesenheit aller besprochen wird, sind auch alle informiert. Wer an diesen Meetings teilnimmt, ist gut vorbereitet. Marchionne ist dafür bekannt, hart nachzufragen, «nicht aggressiv, aber ziemlich bohrend», weiss Kollege Kalantzis. Diese Councils sind für Marchionne auch Plattform für die Identifikation neuer Talente. Bei Fiat hat er Organigramme eingeführt, auf denen anhand der Kennzeichnung mit verschiedenen Farben auf einen Blick ersichtlich ist, wer für einen baldigen Aufstieg vorgesehen oder aber aus dem Rennen ist. Er setze auf flache Hierarchien. «Ich gebe meinen Mitarbeitern einen grossen Spielraum. Aber ich nehme sie andererseits auch für ihre Entscheide direkt in die Verantwortung», sagt Marchionne. Raum für Entschuldigungen gebe es nicht. Er selber wusste während seiner Karriere die Weichen im entscheidenden Moment richtig zu stellen. Der grösste Karriereschub war seine Berufung zum CEO von Alusuisse. Er bekam den Job auch deshalb, weil er die designierte Chefin Dominique Damon ausstach. Im Machtkampf agierte Marchionne wenig zimperlich. Marchionne habe etwas Machiavellistisches, werfen ihm Kritiker vor.
Er hat ein gutes Gespür für Konstellationen der Macht. Das zeigt sich in seinem betont zurückhaltenden Tonfall gegenüber der Besitzerfamilie Agnelli. Die Familie selber gibt an, die Freiheit, die Marchionne als Manager geniesse, sei richtig: «Ich unterstütze seinen Kurs und verfolge die gleichen Ziele», meint Elkann. «Die Autoindustrie ist im Wandel. Organisationen müssen sich an diese Veränderungen anpassen. Schnelles Adaptieren gehört zu den Stärken von Marchionne.» Ohne sich um Konventionen zu scheren, macht sich Marchionne auch an das Aufbrechen verkrusteter Strukturen im Fiat-Stammland Italien. Er provozierte mit der Bemerkung, dass Fiat in Italien nicht einen Euro verdiene. Mit den Gewerkschaften lag er monatelang im Streit. Wenig zu seiner Beliebtheit beigetragen hat auch, dass er ungeniert über einen möglichen Wechsel des Firmensitzes in die USA plauderte, sollte es einmal zur Verschmelzung von Fiat und Chrysler kommen. Er musste beim Parlament in Rom antraben, um sich zu erklären – und zog dafür sogar eine Krawatte an. «Ich provoziere nicht um der Provokation willen. Ich will Fiat global konkurrenzfähig machen», betont er. Dafür brauche es eine Modernisierung des Industriesystems. «Das ist wichtig, damit wir in Italien weiter investieren können.» Dass Fiat in der Krise von 2008 keinerlei Staatshilfe bekam, gebe seinen Anliegen ein hohes Mass an Legitimität, glaubt er.
Substanz statt Form
Sein Management by Pullover, unkonventionell und provozierend zugleich, wird so für ihn zum Werkzeug, um den Wandel zu bewirken. Für ihn mag das aufgehen, doch ist es auch für die Agnellis, die traditionelle Familie mit ihren alten Wurzeln, ein akzeptabler Stil? «Wichtig ist die Substanz, nicht die Form», sagt Elkann. «Und etwas will ich betonen: Sergio Marchionne hat einen sehr hohen Respekt vor Regeln, Institutionen und Menschen.» Seinen ungewöhnlichen Management-stil setzt Marchionne auch bei Chrysler ein. Sein Büro bezog er nicht auf der Teppichetage hoch oben im Turm des Firmensitzes, sondern unten in der Nähe der Entwicklungsabteilung. Das kam gut an. Einen Lohn als CEO bezog er von Chrysler für das Jahr 2010 nicht, nur Aktien für seine Rolle als Verwaltungsrat in Höhe von 600 000 Dollar. Bei Fiat gab es für 2010 3,5 Millionen Euro. Wenig im Vergleich mit anderen Managern, vor allem angesichts der Arbeitsbelastung. Viel Geld gibt er aus für schnelle Autos. Die Boliden bezahlt der Autoboss aus eigener Tasche. Er besitzt mehrere Ferrari, der Maserati Quattroporte ist sein Firmenwagen. In der Schweiz, wo es schnell mal eine Busse gibt, kurvt er vornehmlich mit einem Jeep Grand Cherokee herum. Einen Ferrari 599 GTB im Wert von 320 000 Franken fuhr er 2007 auf der Autobahn A1 bei Gunzgen zu Schrott. Eines der wichtigsten Kriterien beim Kauf seiner Wohnung in Walchwil 2006 war eine Garage, in der fünf bis sechs Autos Platz finden.
Seine Familie lebt schon seit längerem in der Nähe von Montreux. Von seiner langjährigen Ehefrau Orie hat er sich letztes Jahr scheiden lassen. Er hat zwei Söhne, einer ist im Teenageralter, der ältere studiert. Sie wuchsen im Kanton Zug auf und besuchten die Internationale Schule. Mit dem Chrysler-Job ist Marchionnes verfügbare Zeit weiter geschrumpft. Auch bei Chrysler gibt es jetzt regelmässig Wochenend-Meetings. Für ihn kein Thema – die Arbeit sei bei ihm im Leben stets im Vordergrund gestanden. Der Gesundheit ist sein enormer Arbeitseinsatz kaum zuträglich. Ein Umstand, der sogar börsenrelevant ist. Was ist, wenn er ausfallen sollte? Bei dieser Frage reden alle um den heissen Brei herum. Fiat-Präsident Elkann weist auf die «vielen talentierten Personen» bei Fiat hin. Für die meisten Beobachter ist aber klar: Es gibt keinen Nachfolger, der seinem Profil entspricht. Immerhin hat der Kettenraucher die Zahl seiner Muratti-Zigaretten reduziert und in den letzten fünf Monaten 16 Kilo abgenommen. Er liebt klassische Musik und Opern, etwa Arien von Maria Callas, die er auch im Büro laut hört. Sport betreibt er nicht. Eindrückliche Liebhabereien, mit denen sich andere Manager gerne brüsten, listet er in seinem Lebenslauf nicht auf. Sein Hobby, gab er einmal zu Protokoll, sei Rasenmähen.