Die Gerechtigkeit ist nur noch einen Mausklick entfernt», verspricht ein Banner auf der Internetseite von ClassActionAmerica. Wer sich hier einloggt und seine persönlichen Daten registrieren lässt, nimmt an einer der weltweit grössten Lotterieveranstaltungen teil. Für 8.95 Dollar pro Monat können sich amerikanische Verbraucherinnen und Verbraucher bei ClassActionAmerica über den aktuellen Stand von Hunderten von Sammelklagen orientieren und dabei, wie es im Internet spielerisch heisst, nach «opportunities» Ausschau halten, sich der einen oder anderen davon per Mausklick anzuschliessen. «Nehmen Sie das Geld, das Ihnen zusteht, von Pharmakonzernen, Industrieunternehmen, Aktienbrokern und anderen Firmen, die das Publikum belogen und betrogen haben», empfehlen die Betreiber der einschlägigen Online-Plattform.
Frivol? Absurd? Sittenwidrig? Vielleicht einfach grotesk. Egal, ob man sich beim Versuch, ein Glas Erdnussbutter zu öffnen, in den Finger schneidet, ob man auf einem Flug über den Rockies in Turbulenzen gerät oder ob man das Pech hat, zu Hause mit ungebetenen Faksimile-Mitteilungen bombardiert zu werden: In den Vereinigten Staaten ist jedes Individuum und erst recht jede juristische Person ein potenzieller Prozesskandidat. Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten – das alte Klischee gilt nirgends mehr als bei der Rechtsprechung – kann jeder jeden jederzeit vor Gericht zerren, aus welchem Grund auch immer.
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Zu welchen Auswüchsen die kollektive Rechthaberei führt, zeigt das Beispiel einer im Herbst 2002 eingereichten Sammelklage gegen Fax.com, ein kalifornisches Dienstleistungsunternehmen, das kommerzielle Mitteilungen von Kunden per Massenfax verbreitet. Die Klägerpartei, angeführt von einem Internetmillionär aus dem Silicon Valley, der sich durch das fremdbestimmte Brummen seines Faxgeräts in der Nachtruhe gestört sah, verlangt eine Entschädigung von 1500 Dollar für jede einzelne Faxseite, die das Unternehmen innert vier Jahren ungefragt an Millionen von US-Haushalten versandt hat. Bei rund drei Millionen A4-Seiten pro Tag droht Fax.com eine Strafzahlung in noch nie da gewesener Höhe von 2,2 Billionen US-Dollar (1 Billion = 1000 Milliarden). Würde der irrwitzigen Forderung seitens der kalifornischen Richter stattgegeben, könnten die mit dem Fall betrauten Sammelkläger, rein theoretisch, 700 Milliarden Dollar abkassieren. Eine Erfolgsbeteiligung, die in etwa der Hälfte des Bruttoinlandprodukts von China entspricht.
Dass die Verwicklung in einen Rechtshandel mit amerikanischen Anwälten ins dicke Tuch gehen kann, wissen mittlerweile nicht nur die Schweizer Grossbanken, die auf Grund ihrer Geschäftstätigkeit mit Holocaust-Opfern bereits 1996 mit einer Sammelklage in Milliardenhöhe konfrontiert waren. Auch die Schweizer Pharmabranche, für die der margenträchtige US-Markt existenzielle Bedeutung hat, bezahlte im ominösen «Vitaminfall» Lehrgeld in Milliardenhöhe. Mehr als das: Zwei Mitglieder der Konzernleitung von Hoffmann-La Roche erfuhren am eigenen Leib, was es heisst, ins Fadenkreuz der amerikanischen Strafverfolgungsbehörden zu geraten. Als Rädelsführer eines konspirativen Preis- und Mengenkartells enttarnt, verbrachten die beiden Topmanager in den USA mehrere Monate hinter Gittern.
Auch der schwedisch-schweizerische Technologiekonzern ABB bekam den heissen Atem der Lawyers zu spüren, nachdem er mit der Übernahme der US-Tochter Combustion Engineering im Jahr 1998 zu einer Geisel der amerikanischen Asbestopfer-Lobby geworden war. Fast noch schlimmer erwischte es den Winterthurer Medizinalkonzern Centerpulse (ehemals Sulzer Medica), als 2001 publik wurde, dass Tausende von künstlichen Hüftgelenken auf den amerikanischen Markt gelangt waren, die zurückgerufen werden mussten. Kostenpunkt für die Schweizer Medizinaltechnikfirma: 725 Millionen Dollar. Aus eigener Kraft vermochten sich die Winterthurer nach diesem Schlag nicht mehr aufzurappeln. Von den amerikanischen Anwälten regelrecht ausgepresst, wurde der Konzern in der Folge zum Objekt einer Übernahmeschlacht und musste seine Selbstständigkeit aufgeben.
Mit dem moralischen Anspruch ins Leben gerufen, zwischen divergierenden Bevölkerungsgruppen und Interessen einen gerechten Ausgleich zu finden, hat sich die Juristerei in den Vereinigten Staaten in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts zu einer Industrie entwickelt, die sich fast uneingeschränkt den Spielregeln des Kapitalismus unterwirft. Spielregeln notabene, die zuweilen alles andere als fair sind. Amerikanische Anwälte führen ihre Kanzleien heute vorab nach betriebswirtschaftlichen Kriterien und maximieren ihren Gewinn auf Teufel komm raus. Auf der Jagd nach einer möglichst hohen Rendite bewirtschaften sie ihre Klientenbasis nach modernen Marketingerkenntnissen, konzentrieren sich auf die lukrativsten Geschäftsfelder und stossen in neue, renditeträchtige Wachstumsmärkte vor. Sie beherrschen die Kunst der Public Relations, pflegen Kontakte zu Richtern, Lobbyisten und hohen Regierungsbeamten und bedienen sich virtuos der Medien, wenn es gilt, einen Rechtshandel mittels öffentlichem Druck in die gewünschte Richtung zu lenken. Politologen aus der Alten Welt sprechen in diesem Kontext schon einmal von Erpressung.
Das war nicht immer so: Ähnlich wie in Europa herrschte bis nach dem Zweiten Weltkrieg auch in Übersee die Haltung vor, Konflikte zwischen Privatpersonen gelte es wenn immer möglich zu vermeiden. Prozesse wurden als Ultima Ratio betrachtet, wobei den Anwälten die ethische Verpflichtung zukam, solche wo immer möglich zu umgehen, und nicht, wie es unter Gewinnmaximierern der Fall ist, potenzielle Streithähne zum Prozess zu ermutigen. Erst im Verlauf der Sechziger- und frühen Siebzigerjahre kam es zur entscheidenden Trendwende: Mediengewandte Anwälte schlüpften in die Rolle von Kämpfern für individuelle Freiheit und Gerechtigkeit; Prozessieren wurde zu einer alternativen Form, Politik zu betreiben, und damit zu einem allgemein akzeptierten öffentlichen Gut.
Einen Prozess zu führen, hatte von nun an keinen negativen Beigeschmack mehr, sondern erfüllte die Beteiligten mit einem Gefühl von Pflichterfüllung und nationalem Stolz. «In Amerika hält sich grundsätzlich niemand für selber schuld. Alle wollen mit einem Gerichtsfall reich werden», bringt Christian Stambach, ehemals Chefjurist bei Sulzer Medica, die Auswirkungen dieses Mentalitätswandels auf den Punkt.
Dabei ist der Grundgedanke, auf dem die Klagefreudigkeit der Amerikaner fusst, durchaus sympathisch: Selbst ein Mittelloser sollte nach dem Willen der Gründerväter die Möglichkeit haben, absolutes Recht zu erlangen. Folglich wurde das amerikanische Rechtssystem so konzipiert, dass auch der viel zitierte «Joe Sixpack», also der kleine Mann von der Strasse, eine reelle Chance hat, sich gegen einen milliardenschweren Industriekoloss, mit juristischen Mitteln zu wehren. Erreicht wird diese egalitäre Zielsetzung durch die in den Vereinigten Staaten geltende Norm, wonach jeder, egal ob siegreich oder unterlegen, seine eigenen Prozesskosten übernimmt. In Europa werden der Verliererpartei hingegen nicht selten die gesamten aufgelaufenen Prozesskosten aufgebrummt, ein finanzielles Risiko, das so manchen potenziellen Kläger vor einer Klage zurückschrecken lässt.
Der kontinentaleuropäischen Rechtstradition ist auch die Institution der «class action» fremd, deren Wurzeln im mittelalterlichen England liegen. Es handelt sich dabei um einen gerichtlichen Vorstoss, der von einer überschaubaren Zahl betroffener Kläger stellvertretend für eine Vielzahl anderer Personen, die möglicherweise ähnliche Ansprüche haben, geltend gemacht werden kann. Voraussetzung für die Gültigkeit einer Sammelklage ist, dass ein gewählter Richter die Existenz einer gültigen «class» sowie deren Repräsentativität zertifiziert. Im Verkehr zwischen Rechtsanwalt und Klient führt die «class action» zu einer Umkehr des Dienstwegs. In den USA wartet der Anwalt nicht darauf, bis ein Geschädigter endlich bei ihm anklopft. Stattdessen betreibt er Werbung und rekrutiert seine Kundschaft – immer öfter auch via Internet.
Wie die «class action» stammt auch das Institut der «punitive damages» ursprünglich aus Grossbritannien, wo es bereits im 18. Jahrhundert zur Anwendung kam, beschränkt allerdings auf schwere Delikte wie Raub, tätlichen Angriff oder Hausfriedensbruch. Was amerikanische Richter aus diesem Grundsatz gemacht haben, spottet allerdings jeder Beschreibung. Wörtlich übersetzt bedeutet «punitive damages» Strafschadenersatz und meint das Verhängen zusätzlicher Straf- und Genugtuungszahlungen in bisweilen obszöner Höhe, die die Geschworenengerichte nach eigenem Ermessen über die rein finanzielle Abgeltung eines Schadens hinaus festlegen können.
Im Verlauf der Siebziger- und Achtzigerjahre erlebte diese umstrittene Form der Strafbemessung bei Haftpflichtfällen in den USA einen regelrechten Boom, wobei die Höhe der Strafkomponente gegenüber dem eigentlichen Schadenersatz zusehends groteske Dimensionen annahm. Karl Hofstetter, Titularprofessor für Wirtschaftsrecht an der Universität Zürich, spricht von einer «Schadenersatzseuche»: «Für unser Rechtsempfinden ist das ein Horror.»
So richtig angeschoben wurde die US-Rechtsindustrie durch die gesamtwirtschaftliche Liberalisierungswelle in den Achtziger- und Neunzigerjahren, in deren Gefolge auch die Juristerei – ehemals eine Profession mit Sozialprestige und erhöhtem moralischem Anspruch – zu einer ganz normalen, gewinnorientierten Erwerbstätigkeit degradiert wurde. Bereits in den Siebzigerjahren kam es zu einer partiellen Aufweichung ethischer Standesregeln, insbesondere was die Möglichkeiten betraf, juristische Dienstleistungen aktiv zu bewerben. 1988 erstritten sich die Anwälte sodann das Recht, potenzielle Klienten mit Direct Mailings gezielt und individuell anzusprechen. Was innerhalb der Zunft vorher als unziemlich gegolten hatte, war jetzt auf einmal breit akzeptiert.
Mit der Einführung erfolgsabhängiger Honorare, so genannter «contingency fees», legte die Branche ihre letzten Hemmungen ab. Der Anreiz zu klagen stieg bei vernachlässigbarem Risiko schier ins Unermessliche. Rechenbeispiel gefällig? In einem der ersten Schauprozesse gegen die amerikanische Tabakindustrie schaffte es ein Team von aggressiven Anwälten aus Florida, sich einer kollektiven Erfolgsbeteiligung von 3,5 Milliarden Dollar zu bemächtigen. Geteilt durch die Anzahl beteiligter Kläger, ergab sich daraus eine Kopfprämie von 233 Millionen Dollar oder 7700 Dollar pro geleisteter Mannstunde – dies alles unter der hypothetischen Annahme, die strammen Juristen hätten während dreieinhalb Jahren, sieben Tage die Woche und vierundzwanzig Stunden am Tag, über besagtem Fall gebrütet.
Im Klartext: Der Stundenansatz der reich beschenkten Tabakkläger dürfte tatsächlich weit höher, nämlich im sechs- bis siebenstelligen Bereich gelegen haben. «Unter ökonomischen Gesichtspunkten ist das amerikanische Rechtssystem sehr fragwürdig. Die Anreize, zu klagen, sind viel zu gross», erklärt Titularprofessor Karl Hofstetter, der in der Konzernleitung von Schindler unter anderem für Rechtsfragen zuständig ist.
Vor allem die nach oben offene Erfolgsbeteiligungsskala hat den Berufsstand der Sammelkläger in den Vereinigten Saaten beflügelt und nicht wenige Staranwälte in wenigen Jahren zu Milliardären gemacht. Für die erfolgreichsten unter ihnen gehört es inzwischen zum guten Ton, im Privatjet von Sitzungstermin zu Sitzungstermin zu düsen. Einer, der diesbezüglich keine Kompromisse zu machen scheint, ist der 36-jährige Mikal Watts aus Corpus Christi in Texas. Nicht nur, dass der jugendliche Topkläger gleich zwei Flugzeuge sein Eigen nennt und auf seiner 3600 Hektar grossen Ranch einen privaten Flugplatz betreibt. Watts’ Mutter amtiert in Corpus Christi seit Jahren als Laienrichterin, was der Karriere ihres grossspurigen Filius keinen Abbruch tut.
Ganz im Gegenteil: Seine lukrativsten Fälle bringt dieser vorzugsweise genau dort zur Verhandlung, wo die lokalen Herrscher über Sitte und Moral überdurchschnittlich oft geneigt sind, Mikals überrissenen Schadenersatzforderungen stattzugegeben. Kein Wunder, dass Corpus Christi im Süden von Texas nach Auffassung von Kritikern des amerikanischen Laienrichtersystems als «juristisches Höllenloch» gilt.
Dass es in der Rechtsprechung zwischen einzelnen Bundesstaaten markante Unterschiede gibt, trägt das Seine zur Pervertierung des wuchernden Justizapparates bei. Selbstverständlich wissen die Anwaltskanzleien diese institutionelle Schwäche zu nutzen und konzentrieren sich bei ihrer Arbeit ganz bewusst auf bestimmte Bundesstaaten und innerhalb dieser wiederum auf bevorzugte Gerichtsstände, wo in prozessualer Hinsicht anscheinend noch wahre Wunder geschehen. Wie Corpus Christi gelten auch Jefferson County (ebenfalls in Texas) oder Orleans Parish (Louisiana) als so genannte «magic jurisdictions». Mit anderen Worten: Wallfahrtsorte für die Kläger.
Gemessen an der Zahl eingereichter Sammelklagen, schiesst allerdings Madison County, Illinois, landesweit den Vogel ab. Die Gemeinde am Mississippi hat in den vergangenen Jahren mehr krankheitsbezogene Gerichtsfälle und Asbestklagen angezogen als die juristenfreundliche Metropole New York.
Mächtige Player auf dem amerikanischen Markt wie AT&T, Lucent oder Tyson mussten sich allesamt schon ins Gerichtsgebäude von Edwardsville, den Hauptort der von den Sammelklägern bevorzugten Gemeinde, bemühen. Von Big Tobacco ganz zu schweigen: Erst vor Jahresfrist verknurrte der lokale Richter, Nicholas Byron, den Tabakgiganten Philip Morris zu einer exemplarischen Strafzahlung in Höhe von 10,1 Milliarden Dollar. Begründung: Der Konzern habe Millionen von Konsumenten während Jahren an der Nase herum geführt, indem er fälschlicherweise insinuiert habe, Light-Zigaretten seien «gesünder». Einem Zufall ist es mithin nicht zu verdanken, dass allein 2003 in Madison County 106 weitere Kollektivklagen deponiert wurden.
Oftmals sind es ausgerechnet die rückständigsten und personell am wenigsten gut dotierten Gerichtsstände, die von den Kanzleien mit den haarsträubendsten Klagen bombardiert werden. Das Kalkül der Rechtsanwälte dabei: Je grösser die Überforderung der involvierten Richter, desto grösser die Chance auf eine rasche bilaterale Einigung. So kommt auch in Madison County nur ein Bruchteil aller hier eingereichten Sammelklagen je zur Verhandlung. Die Konzerne scheuen das unberechenbare Verdikt der Laienrichter so sehr, dass sie in den allermeisten Fällen bereits vorher zu einem teuren Vergleich Hand bieten.
Gezieltes Bluffen und Einschüchtern des Gegners bis hin zur Nötigung und politischen Erpressung gehören zum Repertoire eines erfolgreichen Sammelklägers. Je besser es ein Anwalt versteht, mit einflussreichen Akteuren aus dem Justizapparat, aus Medien und Politik zusammenzuspielen, desto grösser sind sein öffentlicher Einfluss und damit auch seine Gewinnchancen. Im Falle von börsenkotierten Unternehmen genügt es in der Regel schon, die Möglichkeit einer Sammelklage öffentlich anzudrohen, um das Management gewaltig unter Druck zu setzen. Wie man so etwas bewerkstelligt, weiss niemand besser als der in Nordamerika als «master of disaster» verschriene Sammelkläger Stanley Chesley. «Sie kennen die Auswirkungen auf den Aktienkurs Ihrer Firma, falls Sie sich einer aussergerichtlichen Einigung verweigern», soll dieser laut einem Bericht im renommierten «Wall Street Journal» einen Rechtsvertreter des deutschen Pharmakonzerns Bayer im Dezember 2002 unter Druck gesetzt haben.
Kommt dazu, dass erfolgreiche Kläger persönlichen Umgang mit lokalen Richtern pflegen, deren Wiederwahl teilweise massiv finanziell unterstützen und auch sonst alles tun, um mit ihnen auf gutem Fuss zu stehen. «Es ist fast unmöglich, als Verteidiger an einem solchen Ort einen fairen Prozess zu bekommen», muss deshalb selbst Richard Scruggs eingestehen, der wie sein Anwaltskollege Chesley mit Sammelklagen gegen die Tabakindustrie märchenhaft reich geworden ist. Kurz: Die Mehrzahl der Fälle wird nicht im Gerichtssaal gewonnen, sondern schon Wochen vorher auf den Titelseiten der Zeitungen oder durch heimliche Verhandlungen im Hinterzimmer einer x-beliebigen Bar.
Die Auswirkungen der fortschreitenden Ökonomisierung der Justiz sind in verschiedener Hinsicht fatal und bereiten in Wirtschaftskreisen einer wachsenden Zahl von Beobachtern Kopfweh. Allein die Prozesskosten bei Haftpflichtfällen – Klägerhonorare, Kosten der Verteidigung und administrativer Aufwand – und der meist üppig bemessene Schadenersatz verschlingen mehr als 250 Milliarden Dollar pro Jahr, was ungefähr zwei Prozent sämtlicher im Verlauf eines einzigen Jahres in den Vereinigten Saaten produzierten Waren und Dienstleistungen entspricht, mehr jedenfalls als in jedem anderen Industrieland.
Nach Berechnungen der auf Versicherungsfragen spezialisierten Beratungsfirma Tillinghast-Towers Perrin kletterten die Gesamtkosten im Haftpflichtbereich über die letzten drei Jahrzehnte hinweg um durchschnittlich 9,1 Prozent pro Jahr, womit das reale Wirtschaftswachstum und die langfristige Börsenperformance deutlich übertroffen wurden. Wie die Gesundheitskosten gehen auch die explodierenden Justizaufwendungen vollumfänglich in die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung ein und erhöhen, jedenfalls optisch, das Bruttoinlandprodukt der Vereinigten Staaten.
Da es sich beim Ringen um die Gunst der Richter und um den Zuspruch von möglichst hohen Reparations- und Genugtuungszahlungen aber um sekundäre Verteilungskämpfe ohne Wertschöpfung handelt, wäre es vermutlich ehrlicher, man würde die genannten 250 Milliarden Dollar pro Jahr von der offiziellen BIP-Grösse abziehen. Kritiker der krebsartig wuchernden Rechtsindustrie sprechen denn auch von einer versteckten «Schadenersatz-Steuer» in der Höhe von gegen 1000 Dollar pro Kopf. Fakt ist: Corporate America fehlen heute rund drei Billionen Dollar oder, um bei der bereits verwendeten Vergleichszahl zu bleiben, ein Betrag, der den Produktionsausstoss Chinas während zweier Jahre aufwiegt. Diesen monströsen Betrag hat die institutionalisierte Schadenersatz-Lotterie die amerikanische Wirtschaft seit Mitte der Siebzigerjahre gekostet.
Schätzungsweise ein Fünftel dieser Gewaltssumme ist in die Taschen der Klägeranwälte geflossen. Mit jährlichen Bruttoeinkünften von 39 Milliarden Dollar (2001) nehmen diese laut Tillinghast-Towers Perrin mehr als doppelt so viel ein wie der US-Getränkegigant Coca-Cola und lassen, gemessen am Umsatz, mittlerweile selbst Industriegiganten wie Pfizer, Intel oder Microsoft um Längen hinter sich (siehe Artikel zum Thema «Einträglicher als Pfizer & Co.»). Auch in Sachen Profitabilität sind amerikanische Anwälte Spitze: «Die mangelnde Transparenz der Kanzleien verunmöglicht es uns, präzise Gewinnschätzungen abzugeben», meint James Copland, Direktor des Center for Legal Policy am Manhattan Institute in New York. «Wenn die Margen allerdings so hoch sind, wie wir vermuten, könnte die amerikanische Klägerindustrie durchaus die profitabelste Branche der Welt sein.»
Die Entwicklung des amerikanischen Schadenersatzrechts wird kaum noch von akademischen Diskussionen beeinflusst, bedauert Professor Lester Brickman von der New-Yorker Cardozo Law School: «Es sind die finanziellen Anreize der Klägeranwälte, ausgedrückt in prozentualer Rendite, welche die Trends im Schadenersatzbereich vorgeben.» Ermuntert durch exemplarische Gerichtsurteile gegen Big Tabacco, nehmen unerschrockene Staatsanwälte neuerdings die substanzstarke Pharmabranche vermehrt ins Visier. Für weltweites Aufsehen sorgte unlängst eine Klage gegen 44 international tätige Medikamentenhersteller, eingereicht von der Staatsanwaltschaft in New York. Besorgt über die steigenden Gesundheitskosten, wirft die Justizbehörde der Finanzmetropole den Pharmakonzernen – darunter auch die Schweizer Firmen Novartis, Roche und Serono – jahrelangen Betrug am Patienten, unfairen Handel sowie unzulässige Bereicherung vor.
Seit der populäre Konsumentenanwalt Ralph Nader die millionenfach verkauften Rindfleischklopse von McDonald’s öffentlich als «Massenvernichtungswaffen» bezeichnet hat und die Idee einer «fat tax» propagiert, gilt auch die Fastfood-Industrie als aussichtsreicher Zukunftsmarkt für findige Sammelkläger. Im Trend liegen auch finanzielle Nachforderungen gegen grosse Versicherer sowie extreme Schadenersatz- und Genugtuungsansprüche bei sexueller Belästigung, Schimmelpilzbefall (sic!) oder Diskriminierung am Arbeitsplatz. So wurde beispielsweise in San Francisco vor kurzem gegen die Detailhandelskette Wal-Mart eine Sammelklage wegen systematischer Benachteiligung seiner weiblichen Belegschaft eröffnet. Bei 1,6 Millionen Mitarbeiterinnen droht dem weltgrössten Detailhändler nun eine «punitive damage» von bis zu 480 Milliarden Dollar.
In zunehmendem Mass müssen sich auch Nichtamerikaner an solche Exzesse gewöhnen – wohl oder übel, denn umgehen lässt sich das Prozessrisiko nicht. Ausländische Unternehmen sind nicht einmal dann vor Klagen sicher, wenn sie auf amerikanischem Territorium weder physische Niederlassungen unterhalten noch in vergangenen Jahren derart leichtsinnig waren, ihre Aktien an der New-Yorker Börse kotieren zu lassen. Allein die Tatsache, dass das Produkt oder die Dienstleistung eines ausländischen Anbieters auf den amerikanischen Markt gelangt, genügt, um in die Fänge der amerikanischen Justiz zu geraten.
Mit der Verschärfung der Vorschriften im Bereich der finanziellen Rechnungslegung und Berichterstattung ist dieses Risiko vorab für börsenkotierte Firmen weiter gestiegen. Die Inkraftsetzung des viel diskutierten Sarbanes-Oxley Act hat den Katalog der in den Vereinigten Staaten einklagbaren Aktionärsrechte entscheidend erweitert. Ohne das neue Gesetzeswerk sähe sich der Zürcher Rückversicherer Converium derzeit wohl kaum mit einer Sammelklage konfrontiert. Und auch im Fall des Westschweizer Jobvermittlers Adecco waren es die rigiden Auflagen der amerikanischen Börse, die den peinlichen Zwischenfall provozierten. Immerhin scheint man bei Adecco aus dem Fauxpas gelernt zu haben. «Im Moment gibt es wohl keine Schweizer Firma, die so extensiv auf Herz und Nieren durchleuchtet wurde», sagt der Zürcher Rechtsanwalt Christian Stambach. Kostenlos ist so etwas nicht.
Wie ein gefrässiges Nagetier dringt die Rechtsindustrie allmählich in jeden Aspekt des täglichen Lebens vor und droht den Traum einer freien Gesellschaft zu ersticken. Mit dem Effekt, dass jedes verschriebene Medikament, jedes gehandelte Wertpapier und jede Tüte Lebensmittel, die in den USA erworben wird, heute eine unsichtbare «Klagesteuer» enthält, unproduktive Mehrkosten, die letztlich auf die Endverbraucher überwälzt werden. «Die Ära der grossen Regierungen mag vorüber sein, aber die Ära der Regulierung durch Prozessieren hat erst begonnen», beschrieb der frühere US-Arbeitsminister Robert Reich dieses Phänomen.
Was also bleibt zu tun? Ist eine Justiz, wie sie die Amerikaner praktizieren, überhaupt reformfähig? Immerhin gibt es gewisse Anzeichen dafür, dass die Vernunft vielleicht doch noch obsiegen könnte. Ermutigend ist in dieser Beziehung das im Juni 2004 ergangene Urteil des Obersten Gerichtshofs der USA im Fall Hoffmann-La Roche gegen Empagan, einen Tierfutterhersteller aus Ecuador, der den Basler Pharmamulti vor einem US-Gericht eingeklagt hatte. Der Supreme Court wies die Empagan-Klage zurück und schob damit der extraterritorialen Ausbreitung des amerikanischen Rechts, zumindest was Kartellfragen angeht, einen Riegel.
Überfällig war auch das höchstinstanzliche Urteil vom April letzten Jahres, mit dem die Washingtoner Richter die Höhe der Bussen in Haftpflichtfällen («punitive damages») auf das Zehnfache des effektiven Schadens beschränkten. «Bezüglich der Exzesse im amerikanischen Justizsystem scheint es, als näherten wir uns dem Ende der nationalen Debatte über die Frage des Ob und bewegten uns auf das Wie zu», vermeldete kürzlich das «Wall Street Journal». Ob das reicht?
Mit den Rechtsanwälten verhält es sich im Grunde genau so wie mit den Finanzingenieuren, Politikern oder Psychotherapeuten. Wenn eine Gesellschaft zu viele davon hat, wird sie in ihrer Entwicklung gebremst. Statt schadstoffärmere Autos zu bauen oder Tabletten mit geringeren Nebenwirkungen zu entwickeln, kämpft man vor Gericht um Millionen. «The first thing we do, let’s kill all the lawyers», empfahl Shakespeare in seinem «Heinrich VI» und gab damit ein ziemlich theatralisches Urteil ab.
Dass der amtierende US-Präsident, George W. Bush, gewillt ist, die amerikanischen Haftpflichtanwälte härter anzupacken als sein politischer Herausforderer John Kerry, ist in den USA ein offenes Geheimnis und liegt gleichsam in der Natur der Sache. Schliesslich verdankt Kerry den Löwenanteil seines Wahlkampfbudgets der mächtigsten Pressure-Group im Land. Und sein designierter Vize, Senator John Edwards, war früher selbst ein erfolgreicher Anwalt. Ohne finanziellen Support durch seine ehemaligen Berufskollegen, versichern Wahlbeobachter, wäre der politische Aufstieg von Edwards so nicht möglich gewesen.
«Wenn es um die Eindämmung der Klageflut geht, sind von Bush eher positive Impulse zu erwarten als von Kerry», glaubt Karl Hofstetter, der im Frühjahr nächsten Jahres eine Gastprofessur an der juristischen Fakultät in Harvard antreten wird. «Dies ist einer der wenigen Bereiche, in denen Bush ähnlich denkt wie die Europäer.» Wer von den beiden – Bush oder Kerry – die Nase nach dem 2. November auch immer vorn hat: Konsequent weitergedacht, sind demnächst wohl die staatlichen Überwachungsorgane wie beispielsweise die Food and Drug Administration (FDA) an der Reihe, von furchtlosen Advokaten eingeklagt zu werden. Wer sonst, wenn nicht die mächtige Medikamenten-Zulassungsbehörde mit ihren strengen und vermeintlich wasserdichten Prüfverfahren hat dafür gesorgt, dass sich Millionen von Tablettenschluckern während Jahrzehnten womöglich in falscher Sicherheit wiegten? Schwer vorstellbar jedenfalls, dass die FDA keinerlei Mitschuld trifft, falls Big Pharma dereinst wegen manipulierter Patientenstudien an die Kasse kommen sollte.
«Auch wenn in letzter Zeit einzelne Gerichtsurteile in die richtige Richtung gehen, ist das amerikanische Justizmonster noch längst nicht gezähmt», befürchtet Rechtsanwalt Christian Stambach. Je länger die Haftpflicht-Bonanza andauert, desto mehr verliert die globale Leitökonomie, deren Image ohnehin am Verblassen ist, an Dynamik und moralischer Autorität. Die Blüten, welche die Rechtsprechung in den Vereinigten Staaten treibt, sind krankhaft. Und sie zersetzen die angeschlagene Supermacht von innen heraus. Sprechen wir es ruhig aus: Die Anwaltsbranche in Übersee gehört rereguliert. Ansonsten kann es passieren, dass eines nicht mehr allzu fernen Tages das altrömische Diktum «pecunia non olet» durch die legale Realität im Marlboro-Land widerlegt wird.