Ein 102-Jähriger hat es schon geschafft, ein Fünfjähriger und sogar ein Blinder: ein Hole-in-one. Für den durchschnittlichen Golfer ist die Aussicht darauf aber sehr gering. Die Chancen, den Ball bereits mit dem Abschlag zu versenken, stehen bei 1:10'000. Wer 50 Partien im Jahr spielt, darf sich im Schnitt also alle 200 Jahre über solch einen Glückstreffer freuen.
 
Doch ein Hole-in-one sorgt nicht nur für Ruhm und Ehre, sondern auch für Ausgaben. Es ist Tradition, alle Spieler und mitunter gar Aussenstehende auf einen Drink einzuladen. Das kann Tausende Franken kosten. Damit sich Golfer beim Abschlag nicht zurückhalten müssen, hat die erfindungsreiche Versicherungsbranche die Hole-in-one-Versicherung auf den Markt gebracht. Kosten von bis zu 3000 Franken werden zurückerstattet.
Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

Bedürfnis nach Sicherheit

Die Hole-in-one-Versicherung ist nur ein weiteres Glied in der immer stärker werdenden Kettenrüstung, mit der sich die Bevölkerung gegen jedes noch so kleine Risiko zu schützen sucht. «Wir neigen zu einer Vollkasko-Mentalität», sagt Stefan Thurnherr, Versicherungsexperte beim VZ Vermögens-Zentrum. Der Wunsch auf Absicherung gründet zum einen in der weit verbreiteten Risikoaversion, zum anderen im grossen Wohlstand. «Wer viel hat, hat auch viel zu verlieren», so Thurnherr.
 
Wie Apples Mobiltelefone verkaufen sich auch Versicherungen über Emotionen. Im Assekuranzgeschäft sind diese jedoch weniger positiv besetzt. Es geht um das Bedürfnis nach Sicherheit. Es ist, radikal formuliert, ein Geschäft mit der Angst. «Die Marketingmaschinerie der Versicherungen setzt auf dem Sicherheitsbedürfnis auf», sagt Thurnherr.
 
Für die Assekuranzen ist die Schweiz ein ertragreicher Boden. Im Schnitt geben Schweizer jährlich mehr als 7000 Franken für Versicherungen aus. Selbst nach Abzug der Ausgaben für die zweite Säule ist das im internationalen Vergleich ein absoluter Spitzenwert. «Wir sind Weltmeister bei den Versicherungsausgaben, und das sogar mit Abstand», sagt Thurnherr.
Nötige und unnötige Versicherungen
Quelle: Bilanz

Ein riesiger Kuchen

27 Milliarden Franken an Prämien wurden 2016 allein im Bereich Schaden bezahlt. 124 in der Schweiz konzessionierte Schadenversicherungen teilen sich den riesigen Kuchen. «Ohne Versicherungen geht in unserer modernen Welt gar nichts mehr», schreibt der Versicherungsverband SVV. Beschränkte sich das Angebot in der Schweiz Anfang des 19. Jahrhunderts auf Feuer, wird heute jede noch so kleine Nische abgedeckt.
 
«Bestimmte Risikoarten waren im 19. Jahrhundert einfach nicht existent. Zudem entwickelt sich die Gesellschaft immer weiter, es kommen ständig neue Risiken hinzu», gibt Hato Schmeiser, Lehrstuhlinhaber Versicherungswissenschaft an der HSG, zu bedenken. Cyberrisiken oder Gefährdungen, die sich durch dasautonome Fahren ergeben, sind jüngste Beispiele. Weil in Zukunft Unfälle von autonomen Fahrzeugen verursacht werden, rechnet Schmeiser etwa mit einer Transformation in eine Produkthaftpflicht.
 
Doch es ist nicht nur der Wandel der Gesellschaft, der zu immer mehr Policen führt. Zunehmend dringen Versicherungen in Nischen ein, in denen es sie überhaupt nicht braucht. «In den letzten fünf Jahren kamen viele unnötige Versicherungen auf den Markt», sagt VZ-Experte Thurnherr. Es ist notwendig, in diesem Bereich die Spreu vom Weizen zu trennen.

Obligatorisch weil wichtig

Dass manche Versicherungen indes wirklich wichtig sind, zeigt sich nur schon daran, dass sie obligatorisch sind. Sie sind mit der Krankengrundversicherung, der Invaliditäts-, der Unfall-, der Fahrzeug- und in den meisten Kantonen einer Feuerversicherung jedoch schnell aufgezählt.
Nötige und unnötige Versicherungen
Quelle: Bilanz
Für den Rest gilt folgende Regel: «Risiken, die man nicht verhindern und im Schadenfall nicht selbst tragen könnte, sind zu versichern», meint Pascal Schweingruber, Mitglied der Geschäftsleitung von Kessler & Co. Kessler kauft als einer dergrössten Assekuranzbroker der Schweiz für Unternehmen Versicherungen ein. Firmen sichern sich laut Schweingruber gegen Risiken ab, die das Jahresergebnis gefährden. Umgemünzt auf Privatpersonen, könnte das ein Zehntel des jährlichen Einkommens sein.
 
Für den Broker gibt es keine sinnlosen Versicherungen, sondern nur falsch eingekaufte. Geht es nach dem Experten, machen sich viele Privatpersonen über den richtigen Einsatz von Versicherungen zu wenig Gedanken: «Während Firmen kalkulieren, schützen sich Privatpersonen eher aus dem Bauch heraus.»

Wichtige Haftpflicht

Eine Kopfentscheidung sollte für jeden die Haftpflicht sein. «Die Privathaftpflicht ist eine der wichtigsten Versicherungen überhaupt», heisst es bei ASSI, der Stiftung zum Schutz der Versicherten. Kracht man per Ski oder Velo in eine andere Person und verletzt diese so schwer, dass sie nicht mehr beschäftigt werden kann, gehen die Forderungen mitunter in die Millionen.
 
Völlig unerheblich ist, ob der Schaden je eingetreten ist. «Oftmals sind die sehr seltenen Ereignisse, die meine Generation oder diejenige vor mir gar nie erlebt hat, die gefährlichen», sagt Thurnherr. Ein Beispiel ist die Erdbebenversicherung, die in der Schweiz laut Stefan Thurnherr «schlicht fehlt».
 
Die Privathaftpflicht ist bei den meisten Hausratversicherungen im Paket drin. Die Hausrat- zählt neben der Vollkasko-Versicherung für bis zu fünf Jahre alte Autos zu den wenigen sinnvollen nicht obligatorischen Versicherungen. Die wirkliche Gefahr für den Hausrat sind weniger Diebe oder Wasserrohrbrüche als vielmehr Feuer. «Nur bei einem Brand ist der gesamte Hausrat gefährdet. Im Extremfall könnte man sich auf die Feuerversicherung beschränken», sagt Thurnherr.
Nötige und unnötige Versicherungen
Quelle: Bilanz

Trend zum Sorglospaket

Doch der Trend geht in die entgegengesetzte Richtung. Sogenannte All-Risk-Hausratversicherungen definieren sich nicht über die verschiedenen Gefahren, sondern decken alle unvorhergesehenen Beschädigungen infolge äusserer Einwirkung ab. Das Sorglospaket lassen sich die Assekuranzen gut bezahlen. Mehr existenzielle Risiken als in der klassischen Hausratversicherung sind jedoch auch dort nicht abgedeckt.
 
Wohnschutzbriefe wiederum versprechen bei defekter Heizung oder bei Schädlingen Soforthilfe. Für Mieter, die sich in solchen Notfällen an den Eigentümer wenden müssen, sind Policen wie diese aber verlorenes Geld.
 
Zusammen mit der Hausrat- werden oftmals Skiversicherungen verkauft. Gegen Langfinger auf den Pisten ist man allerdings bereits mit dem Zusatz des einfachen Diebstahls auswärts abgesichert – wenn auch mit hohem Selbstbehalt. Unnötig ist eine Versicherung gegen Skibruch, denn der ist bei den heutigen Hightechmaterialien äusserst selten.

Wetter als Risikofaktor

Schon 1911 verkaufte die britische Lloyds Versicherungen gegen verregnete Ferien. Hundert Jahre später haben auch Schweizer Assekuranzen das Wetter als Risikofaktor entdeckt. Für Konsumenten ist das keine wirkliche Bereicherung. «Im Sektor Wetter gibt es besonders viel Unnötiges», sagt Thurnherr. Derartige Versicherungen springen ein, wenn Wetter oder Krankheit die Zirkusvorstellung oder den Wochenendtrip in die Berge vermiest. Stornierungsgebühren werden refundiert.
 
«Wir konnten in den letzten 100 Jahren ohne solche Versicherungen leben – das sollte auch weiterhin möglich sein. Freue ich mich auf ein Konzert, gehe ich auch bei Regen», so Thurnherr. Das Kleingedruckte ist umfangreich, der Ermessensspielraum gross. Ist der Besuch «zumutbar», fliesst kein Geld. Ticketversicherungen wiederum greifen nur bei Krankheit.
 
Für den Urlaub gilt der Grundsatz, das Richtige und nur das Nötigste zu versichern. Weniger wichtig sind die Annullierungskosten und das ohnehin über die Airline versicherte Gepäck.
Nötige und unnötige Versicherungen
Quelle: Bilanz

Teure Spitalzusatzversicherungen

Die entscheidenden Risiken sind die Kosten für Spital und Rückführung. Innerhalb Europas sind diese vielfach durch die Krankenversicherung gedeckt. Und in exotischere Regionen fliegt die Rega.
 
Wer sich im Inland im Spital gut versorgt wissen will, setzt auf teure Spitalzusatzversicherungen. «Die lohnen sich aber nur dann, wenn einem die freie Arztwahl und die Unterbringung in einem Ein- oder Zweibettzimmer wichtig sind», sagt Benjamin Manz vom Online-Vergleichsdienst Moneyland. Auch ambulante Zusatzversicherungen mit diversen Zusatzleistungen werden in vielen Fällen nie gebraucht.
 
In der Vorsorge völlig redundant ist die private Arbeitslosenversicherung, da das Risiko bereits durch die ALV gedeckt ist. Gemischte Lebensversicherungen wiederum sind viel zu teuer. Da die Kinder schon aus dem Haus sind, braucht es im Rentenalter keine Todesfallversicherung mehr. Hinterbliebene finden in der Regel mit Witwer-/Witwenrenten ihr Auskommen. Krebsversicherungen für Frauen sind Teil der Invaliditätsversicherung – kommt hinzu, dass die Assekuranzen keine nennenswerten Zusatzleistungen bieten.

Unfallversicherung ist obligatorisch

Die Unfallversicherung ist über den Arbeitgeber obligatorisch und wird vielfach unnötigerweise noch einmal über die Krankenversicherung abgeschlossen. «Dabei ist der Schutz via Arbeitgeber sogar vorteilhafter, da keine Franchise und kein Selbstbehalt verrechnet wird», sagt Manz.
 
Problemlos kündigen lässt sich die Insassenversicherung. Denn alle in der Schweiz gemeldeten Personen sind bereits durch die Unfallversicherung geschützt.
Besonders schützenswert erscheint der ständige Begleiter Smartphone. Handyversicherungen machen jedoch in denseltensten Fällen Sinn. Diebstahl ist meist nicht inkludiert, und die Gewährleistung schützt den Konsumenten ohnehin. Mit zwei, drei Jahresprämien ist schon ein neues Gerät finanziert.

Antivirenprogramme und vorsichtiger Umgang mit Daten

Zunehmend zum Thema werden Gefahren, die erst mit dem Handy entstanden sind. Cyberversicherungen schützen vor Angriffen aus dem Netz. Datenklau oder Mobbing stehen im Fokus. Doch Hilfsmittel wie Antivirenprogramme und ein vorsichtiger Umgang mit Daten sind effektiver als eine kostspielige Police.
 
In dieselbe Richtung zielt der Kontoschutzbrief, der vor Risiken beim Onlinebanking und beim Geldbezug schützen soll. Doch: «Wer seine Sorgfaltspflichten beachtet, bekommt von der Bank das Geld zurück. Wer grobfahrlässig handelt, erhält auch von der Versicherung nichts», sagt Thurnherr.
 
HSG-Professor Hato Schmeiser: «Es ist ein freier Markt. Warum sollten Versicherungen keine seltenen Risiken absichern dürfen? Ich würde mir allerdings schon überlegen, ob ich Kleinrisiken unbedingt versichern möchte, und mich auf existenzielle Risiken fokussieren.»