«So reich sind wir nicht, dass du in abgetragenen Kleidern herumlaufen kannst.» In diesem Satz, mit dem ein wohlhabender Basler Anwalt seinem Sohn angemessenes Verhalten näher bringen will, ist das ganze Rätsel enthalten, was Reichtum eigentlich ist und wie er das soziale Verhalten der Menschen beeinflusst. Reichtum ist nicht einfach ein grosses Einkommen oder Vermögen. Eine starke materielle Basis ist zwar hilfreich, reich wird man aber erst dann, wenn sich die Zahl der Handlungschancen vergrössert. Und Handlungschancen können einerseits im Erwerb von Gütern und Diensten bestehen, andererseits aber auch in der Gestaltungsfreiheit im eigenen Leben und in der Entfaltung von Macht über andere Menschen.

«Reichtum in der Schweiz» ist nicht nur das Thema unserer alljährlichen Auflistung der reichsten Schweizer, sondern auch einer von Ueli Mäder und Elisa Streuli durchgeführten Studie. Ueli Mäder, Dozent an der Fachhochschule für Soziale Arbeit beider Basel, hat bisher vor allem mit mehreren Untersuchungen über die Armut in der Schweiz von sich reden gemacht – und will sich nun auch mit der Kehrseite seines bisherigen Forschungsgegenstandes auseinander setzen. Ers-te Ergebnisse dieser Arbeiten liegen für unsere Ausgabe mit den 300 Reichsten vor und werden im Februar in Buchform erscheinen.

Die Studie beschäftigt sich einerseits mit einer soziologischen und ökonomischen Analyse des Reichtums (was ist überhaupt Reichtum, wie verteilt er sich in der Gesellschaft, was bewirkt er?), andererseits mit einer ganzen Reihe von Fallstudien. In rund 30 intensiven Gesprächen mit reichen Schweizern (basierend auf der BILANZ-Liste vom vergangenen Jahr) haben Ueli Mäder und Elisa Streuli zu ergründen versucht, wie die Reichen selber mit dem Attribut Reichtum umgehen, was sie mit ihrem vielen Geld anfangen, ob es für sie eher Lust oder Last ist und ob sie sich überhaupt als reich empfinden. Aus diesen Gesprächen zitieren wir in der Dezember-Ausgabe der BILANZ, wobei anzumerken ist, dass die Gespräche auf Wunsch anonymisiert und wenn nötig verfremdet worden sind – auch der BILANZ-Autor weiss nicht in allen Fällen, um wen es sich bei den zitierten Personen handelt.

Wann aber ist jemand überhaupt reich? Und in wessen Wahrnehmung? Für den mexikanischen Strassenhändler ist jeder Tourist, der sich den Flug hat leisten können, schon immens reich; für einen sparsamen, durchschnittlich verdienenden Mitteleuropäer ist jeder Schweizer Manager reich; und der mittelständische Unternehmer fühlt sich im Vergleich mit Bill Gates als armer Schlucker.

Ein Millionär, noch Mitte des 19. Jahrhunderts Inbegriff des Superreichen, ist schon längst nichts Besonderes mehr. Weltweit gibt es heute so viele Dollarmillionäre wie Einwohner der Schweiz: 7,2 Millionen, die zusammen über 27 Billionen Dollar Vermögen verfügen oder durchschnittlich über 3,75 Millionen. In der Schweiz verfügen 120 000 Haushalte über ein Vermögen von mindestens einer Million Franken und kontrollieren damit rund die Hälfte des gesamten Privatvermögens des Landes. Der Millionär ist also nachgerade zum Massenphänomen geworden, und die Million genügt als Massstab für Reichtum auch nicht mehr. Die Grenze von 100 Millionen Franken Nettovermögen, die wir für unsere BILANZ-Liste ziehen, beschränkt zwar die Zahl der Aufgelisteten, ist aber völlig willkürlich.

Amerikanische Untersuchungen sind zu einer Reichtumsdefinition gekommen, die sich wenigstens rechnerisch nachvollziehen lässt. Danach ist jemand reich, wenn er mindestens neunmal so viel an Einkommen erzielt, wie in der jeweiligen Gesellschaft als Armutsschwelle definiert ist. Für die Schweiz würde das heissen: Ein Nettojahreseinkommen von 200 000 bis 250 000 Franken für den Einpersonenhaushalt signalisiert Reichtum. Deutsche Untersuchungen wählen einen anderen Ansatz, der das durchschnittliche Einkommensniveau der Gesellschaft und die Struktur des Haushalts mitberücksichtigt. Danach ist reich, wer das Doppelte des Durchschnittseinkommens verdient; was für die Schweiz hiesse: Ein Einpersonenhaushalt mit mindestens 100 000 Franken Einkommen ist reich, ein Vierpersonenhaushalt mit mehr als 200 000 Franken ebenso.

Diese Reichtumsschwellen beziehen sich ausschliesslich auf das Einkommen, und das birgt ein grundlegendes Problem: Subjektiv fühlt sich auf Grund des Einkommens niemand reich. Jeder geht auf jedem denkbaren Einkommensniveau davon aus, dass es «auch ein bisschen mehr» sein könnte. Überdies kommt bei dieser Betrachtungsweise ein Aspekt zu kurz, der mit wirklich grossem Reichtum immer verknüpft ist: die Macht. Und die entsteht nicht aus einem hohen Einkommen, sondern aus einem hohen akkumulierten Kapital.

Der «World Wealth Report» von Merrill Lynch definiert als HNWI (high net-worth individual) eine Person, die mehr als eine Million Dollar Vermögen besitzt. Ein anderer Ansatz geht davon aus, dass jemand dann reich ist, wenn er aus den Erträgen seines Vermögens einen gehobenen Lebensstandard pflegen kann. Wenn man dies bei einem Nettoeinkommen von 100 000 Franken (Einzel- person) unterstellt, so wäre jemand bei einer angenommenen Rendite von fünf Prozent mit zwei Millionen Franken Vermögen bereits reich – und das wären in der Schweiz immer noch 45 000 Haushalte. Um wirklichen Reichtum vom so genannten Subsistenzreichtum abzugrenzen, definiert Merrill Lynch kurzerhand den UHNWI (ultra-high net-worth individual) und setzt die Reichtumsschwelle bei 30 Millionen Dollar Vermögen fest. Von dieser Kategorie der Superreichen gibt es weltweit 57 000 Personen.

In der Schweiz lässt sich das Gesamtvermögen (inklusive Alterskapitalien) auf 1,8 Billionen Franken schätzen oder auf 460 000 Franken pro Haushalt. Wie sich diese Gesamtsumme auf die Bevölkerung verteilt, ist allenfalls rudimentär zu erfassen. Eine Annäherung ergibt sich aus der Bundessteuerstatistik, in der freilich Haushalte und nicht Einzelpersonen erfasst werden und die angespartes Alterskapital nicht berücksichtigt. Die insgesamt 750 Milliarden Franken umfassen also lediglich das steuerbare Vermögen privater Haushalte.

Nach dieser Statistik verfügen 30,9 Prozent der Haushalte über keinerlei Vermögen. Die 120 000 Millionärshaushalte (3 Prozent der Steuerpflichtigen) verfügen über 50 Prozent des Gesamtvermögens und die restlichen 97 Prozent über die andere Hälfte. Diese Statistik zählt 12 000 Haushalte mit mehr als fünf Millionen Franken Vermögen. Das heisst: Drei Promille der Haushalte kontrollieren 23,7 Prozent des Volksvermögens, was einen «Übervertretungsfaktor» von 76,4 ergibt. Und damit befindet sich die Schweiz, was die Ungleichheit der Wohlstandsver- teilung betrifft, in der Spitzengruppe aller Länder.

Noch deutlicher wird dieses Phänomen, wenn man die Ungleichheit der Einkommensverteilung zu Rate zieht. Danach verdient das reichste Zehntel der Schweizer 9,8-mal so viel wie das ärmste Zehntel, eine Kennziffer, die nur von den USA (12,5-mal) und Irland (10-mal) übertroffen wird.

Die Volksweisheit – «Geld macht nicht glücklich», «Das letzte Hemd hat keine Taschen» – ist nicht gar so weise. Denn reiche Menschen bekunden in Umfragen durchaus ein höheres Wohlbefinden als arme Menschen. Sie geniessen in der Regel eine bessere Ausbildung, erreichen prestigeträchtigere Jobs, sind erwiesenermassen gesünder und leben länger. Das hat weniger mit dem absoluten Niveau von Einkommen und Vermögen zu tun, sondern mit der relativen Position innerhalb einer Gesellschaft. In einer durchschnittlich reichen Gesellschaft fühlt sich der Arme ärmer, und der Reiche ist noch stärker abgehoben. «Glück wird bestimmt durch die Lücke zwischen dem Erwarteten und dem Erreichten», heisst es in der Studie, und wenn viel Geld vorhanden ist, lässt sich diese Lücke eben verkleinern.

Reichtum kann vielerlei Funktionen haben. Am offensichtlichsten ist die mit viel Geld einhergehende Kaufkraft, der Konsum also. In der entstrukturierten (nicht mehr von Klassengegensätzen geprägten) und individualisierten Gesellschaft bestimmen Konsumcodes den Status des Einzelnen. Das Markenset, mit dem sich der Mensch ausstaffiert, bestimmt sein Image in seinem Umfeld – von der Bekleidung über das Auto bis zum Freizeitkonsum. Diesen Konsumcodes können sich nur die ganz Reichen entziehen – wie der Basler Anwalt seinem Sohn zu vermitteln suchte –, und die Armen müssen sie ignorieren, weil sie sich die einschlägigen Marken nicht leisten können. Wirklich bestimmend sind die Konsumcodes also nur in der breiten Mittelschicht, und dort geht die Erfüllung dieser Codes gelegentlich bis an die Schmerzgrenze – wovon die Kleinkreditinstitute ganze Arien singen könnten. Die ganz Reichen differenzieren sich mit markenunabhängigem, exklusivem Konsum: Man kauft Kunst, betreibt ein Privatflugzeug, eine Hochseejacht oder stiftet dann und wann ein ganzes Museum.

Reichtum definiert aber vor allem den Selbstwert des Individuums. Aufbauend auf der protestantischen Moralvorstellung, dass die gottgefällige Lebensweise mit Wohlstand belohnt wird, wenn dieser Wohlstand wiederum gottgefällig eingesetzt wird, hat sich in unserer säkularisierten Welt eine Ethik entwickelt, die ohne Gott auskommt, aber die gleiche Zielrichtung hat. Ein «sinnvolles Leben» ist demnach ein von Arbeit erfülltes. «Ich bin ein Mensch, der gern viel arbeitet», wird in Umfragen von 60 Prozent der Schweizer als zutreffend unterschrieben.

Diese Grundhaltung geht davon aus, dass man es zu Reichtum bringen kann, wenn man nur genug arbeitet. Irrtum, meinen die Autoren der Studie und stützen sich dabei auf Untersuchungen vor allem in den USA. Die Geschichte vom Tellerwäscher, der Millionär wird, ist allen vereinzelten Beispielen zum Trotz nichts weiter als ein Mythos. 70 Prozent der reichen Amerikaner wurden schon in die Oberschicht hineingeboren, und nur 10 Prozent schafften den Aufstieg. Das heisst nicht unbedingt, dass sie ihren Reichtum ganz einfach geerbt haben. Aber sie wurden in Verhältnisse hineingeboren, die ihnen eine gute Ausbildung, eine kontinuierliche Karriere und ein gewachsenes Beziehungsnetz sicherten. «Reiche wachsen in ein besonderes Selbstverständnis ihrer Position hinein, das sich nicht nur im Besitz von Luxusgütern und teuren Ferien, sondern auch in Geschmack, Bildung und Manieren und der Freundschaftspflege Gleichgestellter äussert und so zur eigenen ‹Natur› wird», heisst es in der Reichtumsstudie.

Dabei unterscheidet sich der Lebensstil der Superreichen (UHNWI ab etwa 50 Millionen Franken) kaum mehr substanziell vom Lebensstil der «nur» fünffachen Millionäre. Ganz einfach, weil es eine absolute Grenze für die Anzahl von Häusern, Jachten und Autos gibt, die man im Laufe eines Lebens erwerben kann. Der Unterschied zwischen den Reichen und den Superreichen besteht in der Macht, die ein Riesenvermögen in der Regel verleiht.

Grosser Reichtum wird bisweilen auch als «Sexualität des Geldes» bezeichnet. Um diesen Zusammenhang zu erkennen, braucht man nicht einmal auf den erotischen Umgang Dagobert Ducks mit seinen «Fantastillionen» zurückzugreifen. Die Sprache, die unter Finanzanalysten und Wirtschaftsjournalisten gang und gäbe ist, macht das hinreichend deutlich. Da ist eine Aktie mit hohem Gewinnpotenzial «sexy», der Firma aus einer eher langweiligen Branche wird «wenig Sex-appeal» attestiert, dafür sei sie aber «eine solide Braut». Eine Aktie, von der man keine schnellen Kurssprünge erwartet, ist eben «kein Quickie» und so fort.

Diese Sprache zeigt auch, dass Reichtum männlich ist. Von den 300 grossen Vermögen, die in der BILANZ-Reichstenliste aufgeführt werden, werden nur 18 – oder sechs Prozent – von Frauen kontrolliert. Die Studie «Reichtum in der Schweiz» führt dies – neben den beschränkten Aufstiegsmöglichkeiten von Frauen – auf das Rollenselbstverständnis des Unternehmers zurück. Der ist nach Joseph Schumpeter «ein innovativer Revolutionär im Wirtschaftsleben, ein Krieger, dessen Kampfplatz der Markt ist».

Durchsetzungsfähigkeit, Innovationskraft und Erfolgshunger sind aber immer noch bei Männern akzeptierte, positive Eigenschaften, während Frauen mit denselben Eigenschaften schnell einmal als stur, chaotisch und machtsüchtig gelten. Und wenn ein Unternehmer in seinem Erfolgsstreben scheitert, dann tut er das als Individuum – eine Unternehmerin scheitert stets als Frau. Wenn aber einmal Frauen im Kreis der Superreichen auftauchen, dann sind sie meistens Erbinnen, auch das lässt sich aus der BILANZ-Liste deutlich ablesen.


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