Umrahmt vom strahlend blauen Berghimmel thront über dem Chaletdorf im Saanenland ein Märchenschloss. Durch seine gläserne Drehtüre gleiten die Gäste in eine Welt gediegener Wohligkeit: weiche Teppiche, üppige Vorhänge, altes Täfer, wohlriechende Blumenarrangements.
Die Menschen, die sich in dieser Kulisse bewegen, wirken wie mit ihr verwachsen. Portiers und Kellner tragen Uniformen mit goldenen Knöpfen und empfangen Gäste en français. Diese – in kuscheligen Rollkragenpullovern und edlen Wanderhosen – lassen sich in die gepolsterten Sessel der Lobby-Bar fallen.
Gouvernante der Schönen und Reichen
«Pamper your Guests», lautet die Devise im «Gstaad Palace», das am 8. Dezember seinen 100. Geburtstag feiert und seit 75 Jahren von der Familie Scherz geführt wird. Zuständig für das Wohlfühlambiente, das jede Widrigkeit des Alltags weichspült, ist eine Frau mit rotbrauner Haarpracht und einem freundlichen Gesicht voller Sommersprossen.
Michaela Gäng ist die Gouvernante der Schönen und Reichen und wurde im diesjährigen BILANZ-Hotel-Rating zur Hausdame des Jahres gekürt. Vor gut vier Jahren hat die 40-jährige gelernte Hotelfachfrau aus dem Schwarzwald hier die Leitung des Housekeepings mit seinen 45 Mitarbeitern übernommen. Seither ist sie von früh bis spät im weitläufigen Haus unterwegs, ausgerüstet mit zwei Mobiltelefonen, die alle paar Minuten klingeln.
Gängs Bibel
Es ist ein sonniger Septembermorgen, Michaela Gäng steht in Suite 410 und hält ein Blatt mit einer Zahlentabelle in der Hand. «Das ist meine Bibel», sagt sie lachend. Die Tabelle gibt Auskunft über den Stand der Dinge in jedem der 104 Zimmer und Suiten. Die Gouvernante bespricht einen Zimmerwechsel mit den beiden Zimmerfrauen und dem Portier von Etage vier.
Die drei schichten gerade Kissen aufs Bett eines italienischen Kaffeefabrikanten. Er hat sich für drei Wochen hier eingenistet, auf der Kommode steht seine eigene Kaffeemaschine, auf dem Schreibtisch lächeln in silbernen Bilderrahmen die Gesichter von Kindern und Gattin.
Letztere logiert in der Suite nebenan, die Gouvernante überprüft dort die Ordnung im begehbaren Kleiderschrank. Da stehen, fein säuberlich aufgereiht, 50 Paar Ballerine – aus Leder, Stoff und in allen Farbnuancen. Darüber hängt eine ähnlich grosse Auswahl an Roben.
Fältchen drapieren
50 Paar Schuhe für drei Wochen Ferien? «Viele Gäste lassen zu Hause einfach alles einpacken, dann müssen sie nicht auswählen», erklärt Michaela Gäng, «letzten Winter liess eine sechsköpfige Familie vor der Anreise drei grosse Container und 30 Gepäckstücke anliefern.» Manche Gäste lassen bei der Abreise auch Gepäck zurück. Michaela hat dafür ein Lager im Keller. «Wir bringen es beim nächsten Aufenthalt ins Zimmer hoch, oft landen die Sachen aber ungebraucht wieder im Keller.» Immerhin, die Kleidersäcke verstorbener Gäste hat die Gouvernante mal aussortiert – sie warten nun im Estrich.
Fältchen drapieren. Eins der Handys klingelt. «Yes, Mr. K., this ist Michaela», sagt die Gouvernante, und ihre Stimme klingt eher nach Krankenschwester. «A pair of underpants to wash? – Yes, I understand. I will pick them up.» Herr K. ist seit Jahrzehnten regelmässig zu Gast im «Palace» und geht mittlerweile auf die 90 zu. «Wir haben jetzt eine Pflegerin organisiert, vorher waren wir dauerbeschäftigt mit ihm, mal musste man ihm ins Bett helfen, mal die Stützstrümpfe anziehen.»
Am Mittag sind die ersten Zimmer von abgereisten Gästen gemacht, Michaela Gäng kontrolliert sie. Sie streicht mit der Hand über Schränke und Glühbirnen, drapiert die Falten der überlangen Vorhänge, legt den Ärmel eines Bademantels in den richtigen Winkel, rückt ein Bild gerade. «Nobody is perfect, für solche Details bin ich ja da», sagt sie und lächelt: «Wenn ein Bild schräg hängt, weiss ich wenigstens, dass es abgestaubt wurde.» Sie entspreche nicht dem Klischee der Gouvernanten-Hexe, «aber wenn Mitarbeiter schlampig arbeiten, kann ich schon bissig werden».
Das Problem mit den Hunden
In Zimmer 203 beschnuppert Michaela das Badezimmer, «hier ist geraucht worden», stellt sie fest und bestellt einen Luftreiniger. Nach langen Aufenthalten werden Zimmer oft nicht am selben Tag freigegeben. Nummer 518 zum Beispiel muss erst noch ummöbliert werden: Die abgereisten Gäste haben sich eine spezielle Kommode und ein anderes Sofa hineinstellen lassen, ausserdem einen Tisch aus dem Restaurant. «Einige Gäste wünschen sich nach Renovationen weiterhin die alten Möbel, für solche Fälle behalten wir immer ein paar davon im Lager», sagt die Gouvernante. Zwischen 121 und 123 muss die Terrassentrennwand wieder eingebaut werden – ein Paar hat die beiden nebeneinander liegenden Zimmer belegt und wollte für seinen Hund mehr Auslauf.
Hunde sind mitunter ein Problem: «Manche Gäste gehen schlicht nicht Gassi mit ihnen. Im besten Fall dürfen wir das übernehmen, ansonsten machen ihre Lieblinge einfach das Zimmer voll.» Manche Hunde würden mehr verhätschelt als Kinder: «Kürzlich hat ein Gast angerufen, sein Terrier habe heute eher Lust auf Rindsfilet als auf das Hühnchen mit Reis von unserem Hundemenu.»
Seltene Vorlieben. Der grosse Luxus im «Gstaad Palace» ist, dass alle möglichen und unmöglichen Wünsche der Gäste erfüllt werden. Da werden Gebetsteppiche besorgt oder eine bestimmte Kinderstuhlmarke; es wurde sogar schon echter Rasen in einem Zimmer verlegt für einen Hund, dem die Natur draussen zu kalt sei.
Im winzigen Büro von Michaela Gäng steht ein Ordner, in dem die Vorlieben der Stammgäste ganze A4-Seiten füllen und ausserdem mit Fotos illustriert sind: 100 Kleiderbügel für Herrn B., überall im Zimmer Duftkerzen für Frau L. – in den Geschmacksnoten Zimt und Lavendel –, nur weisse Blumen für Frau H. Die Fotos zeigen, wie Zahnbürsten auf den Ablagen geordnet sein, wo Zündhölzer gegen schlechte Gerüche liegen und wie viele Badezimmerteppiche auf welche Art am Boden angeordnet werden sollen. «Wir haben viel zu tun mit den Sonderwünschen, aber viele unserer Gäste, gerade auch Celebritys, sind eigentlich ziemlich bodenständig. Sie schätzen bei uns vor allem, dass sie ihre Ruhe haben», sagt Michaela Gäng. Da sei zum Beispiel diese Unternehmerfamilie, die ab und zu von ihrer grossen, betriebsamen Villa mit den vielen Angestellten hierher flüchte.
Am Nachmittag ist ein Grossteil der Zimmer in Ordnung, Michaela Gäng kümmert sich um die Events der nächsten Wochenenden. Zwischendurch macht sie Rundgänge durch Restaurants, Säle, den Wellnessbereich, Toiletten. Mal faltet sie ein loses WC-Papier-Ende, mal bleibt sie unvermittelt stehen, setzt den Fuss auf eine Teppichstelle: «Dieser Fleck war heute Morgen noch nicht da.» Michaela, heisst es im «Palace», sehe einfach alles.
«Man entwickelt so einen Blick», sagt die Gouvernante und schaut zu den Leuchtern an der Decke hoch: «Einige Glastropfen werden langsam trübe.» In ein paar Wochen, nach Saisonschluss, wird Michaela Gäng mit zwei Mitarbeiterinnen auf die Leiter steigen und sie alle polieren. Die Leuchter sollen funkeln, wenn das «Palace» im Dezember seine rauschenden Feste feiert.
Das Buch zum Jubiläum: Zu seinem 100. Geburtstag gibt das «Gstaad Palace» ein Buch heraus, das mit vielen Geschichten und Bildern das illustre Hotelleben dokumentiert. Es erscheint Anfang November und ist bei Orell Füssli (www.ofv.ch) oder direkt beim Hotel erhältlich (info@palace.ch; http://shop.palace.ch/).
«100 Jahre Gstaad Palace»
Orell Füssli Verlag, in Leinen gebunden, Fr. 98.–.