Hermès zeigt die Accessoires Frühling/ Sommer 2019. Im zugemieteten Ausstellungssaal im Herzen von Paris sind Dutzende Neuheiten – von Flip-Flops über Kaschmirdecken, Carrés und Briefbeschwerer bis hin zu Teegeschirr und natürlich Handtaschen – in Szene gesetzt. Daraus ragt ein Gegenstand meterhoch hervor: eine Fischerrute.
Ein Gag? «Nein, eine Einzelanfertigung», sagt Christophe Beltrando. Er ist der Direktor des Metiers Sur-Mesure, der Sonderwunschabteilung des altehrwürdigen französischen Luxushauses. Sie hat Tradition: Schon Mitte des 19. Jahrhunderts fing Thierry Hermès damit an, für besondere Kunden massgeschneidertes Pferdeequipment herzustellen.
Da Hermès heute viel mehr kann als Sättel und Zügel, sind den Kundenwünschen kaum Grenzen gesetzt. Für eine Menge Geld und «un peu de patience», ein bisschen Geduld, macht Beltrandos Abteilung Träume wahr, vom Heissluftballon bis zum Schlüsselanhänger – vorausgesetzt, die Spezialanfertigungen sind «im Stil und Geist des Hauses» herstellbar, also mit vorzüglichen Materialien und mit handwerklichem Können an den Grenzen des Menschenmöglichen. Und sonst? «Sonst sind wir vollkommen frei», sagt Beltrando.
Extravagante Arbeiten
In dieser Freiheit entstanden so extravagante Arbeiten wie die Sitze eines Aston Martin DB4, die das Sur-Mesure neu gepolstert und mit Kalbsleder überzogen hat. Und ein handgenähter Lederkoffer für ein Œuvre des französischen Skulpteurs Jean-Michel Alberola. Oder auch eine Granny-Smith-grüne Apfeltasche. Die hat das Atelier für eine Dame hergestellt, die ihrem Mann «etwas von Hermès» machen lassen wollte. Auf die Idee für das extravagante Täschchen kamen die Kreativköpfe der Traumfabrik, als Madame erzählte, Monsieur pflege täglich einen Apfel zu essen.
Innerhalb der riesigen Fülle von glänzenden Gürtelschnallen und Birkin Bags ist Le Sur-Mesure mit gerade einmal 15 Mitarbeitern sehr klein. Und sehr leise. Was hier entsteht, ist Understatement in Reinkultur: «Einzelanfertigungen schreiben wir nicht an, kein Logo, nichts», sagt Beltrando.
Fliegenfischen mit Hermès
Sich eine Hermès-Tasche für 20 000 Franken zu kaufen, weil es eine Hermès-Tasche ist, ist also das eine. Sich etwas auf Mass machen zu lassen, das niemand als Hermès erkennt, etwas ziemlich anderes. Auch preislich.
Was den Herrn die Angel aus dem Hause Hermès kostet, verrät Beltrando freilich nicht. Die geäusserte Vermutung, dass es sich hierbei wohl um die teuerste Rute handelt, mit der ein Mann je Forellen jagte, quittiert er stumm mit einem Ich-kann-dazu-wirklich-nichts-sagen-Gesicht. Und auf die Frage, in welchen Sphären die Preise ungefähr schweben, antwortet der eigentlich höchst erzählfreudige Mann mit nur vier Worten: «On n’en parle pas», darüber sprechen wir nicht.
«Massarbeiten, die wir gemacht haben, machen wir kein zweites Mal.»
Christophe Beltrando
Diskretion verpflichtet. Zudem ist die Preisfrage für Beltrandos Kunden zweitrangig. Für sie geht es in erster Linie darum, Hermès dazu zu bringen, für sie, und nur für sie, etwas herzustellen. Und zwar etwas nie Dagewesenes. Christophe Beltrandos Equipe individualisiert nicht einfach Serienstücke, sondern macht ausschliesslich Dinge zum ersten Mal. Und eben nur einmal. Er sagt: «Massarbeiten, die wir gemacht haben, machen wir kein zweites Mal.»
Fehlt intern das Knowhow, wird es ausserhalb gesucht
Kunden wie der Herr mit dem Angelwunsch werden im Sur-Mesure entsprechend mit offenen Armen empfangen. «Wir wollen herausgefordert werden», so der Atelierchef. Fehlt intern das Knowhow für eine Extravaganz, wird es ausserhalb gesucht.
Für die Rute für den angehenden Fliegenfischer wandten sich jene Mitarbeiter, die sich für das Projekt entschieden hatten, an den «renommiertesten Angelkonstrukteur Frankreichs», besuchten ihn, luden ihn zu sich ins Atelier ein – und liessen sich befeuern: Sie stellten nicht nur die Rute plus Futteral her, sondern auch Köder fürs Fliegenfischen, einen Weidenkorb für den Fang – und sogar ein Kanu. Ob der Kunde das ganze Ensemble kauft? «Er kann, muss nicht.» Beltrando ist das offensichtlich ziemlich egal. Und es darf ihm auch egal sein: Hermès’ Wunschabteilung ist nämlich nicht dazu da, die Gewinne der Maison zu maximieren, sondern die Happy Few zu beglücken.
Regelmässig werden hier Träume von Menschen wahr, die alles haben und doch mehr wollen. Für sie übertrifft sich Christophe Beltrandos Team immer wieder selbst. Um den Ruf von Hermès als kreativem Haus zu pflegen, legen sich die Ateliermitarbeiter mächtig ins Zeug: Für die Eröffnung der Hermès-Boutique im Royal Hawaiian Center in Waikiki etwa haben sie Surfboards gebaut. Eine Premiere, verziert mit Sujets aus der Savana-Dance-Serie, geliefert mit einem speziell entwickelten Wachs. Jedes dieser Edelbretter kostet 7000 Franken.
Ständig auf der Suche nach Inspiration für Neues, mobilisiert Hermès gern auch die ganz normale Belegschaft. So ist der Luxusfabrikant zu einem Töggelikasten gekommen. Die Initialzündung dazu kam von einer Verkäuferin der Hermès-Boutique in Genf. Dort ist auch eines dieser Spielzeuge verkauft worden, für 73 650 Franken.
Lederwaren machen 50 Prozent des Umsatzes
Hermès stellt heute von Mode über Uhren und Porzellan bis Seide und Parfum allerhand her, und zwar so hochstehend, dass der Brand als Synonym für Luxus durchgeht. Lederwaren spülen 50 Prozent des Umsatzes von rund 5,5 Milliarden Euro in die Kasse. Sie sind die Kernzelle des Hermès’schen Selbstverständnisses und werden auch so behandelt, unter anderem mit dem eigenen Atelier Sac sur Mesure für lederne Massanfertigungen. Hier arbeiten sechs der fähigsten Kunsthandwerker, die Hermès beschäftigt. Deren Werkstatt befindet sich weit weg von Beltrandos Labor in Pantin, direkt ums Eck des Hauptsitzes an der Rue Faubourg Saint-Honoré. Und im gleichen Gebäude wie die Urzelle der Marke, die Sattlerei, wo auch heute wie vor 180 Jahren alles von Hand gemacht wird.
Der Raum ist klein, was kein Problem darstellt, da die grossen Wünsche, die hier realisiert werden, Taschenformat haben, ganz im Gegensatz zu Pantin, wo auch Boote gebaut und Flugzeug-Interiors hergestellt werden. Für die Fotografin gibt es hier eine Auflage: Sie darf keine fertigen Produkte ablichten. Der Grund ist simpel: «Unsere Kunden wollen ihre Bestellung nicht in einem Magazin sehen», sagt Ateliermanager Adrian Rodriguez.
Eine Person stellt ein Produkt von A bis Z her
Vom Luxus, der produziert wird, fehlt hier jede Spur. Computer gibt es keine, auch sonst null Hightech. Aber Werkzeug, wohin das Auge auch blickt. Pro Jahr meistert das kleine Team zwischen 250 und 350 Commandes spéciales. Und zwar nach dem gleichen Prinzip, mit dem auch Birkins, Kellys und Bolides, die Berühmtheiten unter den Hermès-Taschen, produziert werden: Eine einzige Person stellt ein Produkt von A bis Z her. Ganz gleich, ob Masskoffer für den Bugatti oder ein putziges Täschchen für die kleine Enkelin.
«Die künstlerische Vision muss einfach Hermès sein», beantwortet Rodriguez die Frage nach den Musts für Sonderwünsche im Taschenlabor. Bis eine Sonderbestellung des Ateliers Sac sur Mesure versandbereit ist, vergehen ein- bis eineinhalb Jahre. «Es gibt hier keinen Druck», sagt Rodriguez, «schnell ist keine Priorität.» Eine nennenswerte Ausnahme von dieser Regel fällt ihm in dem Moment ein: Als Queen Elizabeth II. anlässlich der «60 Jahre D-Day» Gast des damaligen Präsidenten François Hollande war, bestellte das Elysée im Atelier ein Präsent für die Königin. Sie haben für sie einen Lederkoffer hergestellt mit einer kleinen, in Leder gerahmten Sammlung von Fotografien der Queen bei früheren Frankreich-Besuchen. Erdacht, umgesetzt und verschickt in drei Wochen.
Wenig Ausgeflipptes
Wer in diesem Atelier arbeitet, ist seit mindestens 15 Jahren da. Ausnahme ist Arnold, mit acht Jahren der dienstjüngste. Er hat gerade ein Remake einer Tasche aus den 1930er Jahren in Arbeit. Ein inniger Wunsch einer Frau, deren Mutter das Original jahrzehntelang mit sich getragen hat. Bestellungen wie diese seien selten, sagt Rodriguez, «in der Regel kommen Leute mit nicht mehr als einer vagen Idee bei uns an.» Im Austausch mit der Kundschaft entstehen dann Objekte wie die Apfeltasche – eine Einzelanfertigung der ausgeflippten Sorte, wie beim Blättern durch das Bildarchiv von Rodriguez’ Atelier sofort auffällt.
Bilder gibts übrigens nicht viele. Die meisten Kunden wollen das, was Hermès für sie kreiert hat, ganz für sich und erlauben nicht, dass ihre Sonderanfertigung fotografiert wird. Echt Verrücktes sei aber auch eher selten, gibt Rodriguez zu und fügt an, «und wenn, dann wird es von Frauen bestellt». Männer hingegen seien mehr auf Attribute aus wie gut gemacht, praktisch, schwarz, braun, beige.
Warum sind Hermès-Taschen so teuer?
Catherine Fulconis*: Wir verwenden nur das beste Leder, das es gibt. Zudem ist alles reine Handarbeit von absoluten Könnern. Unsere Taschen sind innen so schön wie aussen und werden mit dem Altern immer noch schöner.
Wo kommt das Leder her, das Sie verarbeiten?
Der grösste Teil stammt aus französischer Zucht und ist ein Nebenerzeugnis der Fleischproduktion. Wir unterhalten keine eigenen Farmen.
Wie läuft der Designprozess?
Die Kreation basiert auf drei Pfeilern: Handwerk, aussergewöhnlichen Materialien und Kreativität. Diese drei Aspekte machen den Hermès-Stil aus. Das Produkt steht dabei immer im Zentrum. Das heisst, zuerst machen wir eine Tasche, dann suchen wir die Kunden.
Tipps vom besten Thaiboxer
Auch in diesem Atelier wird nicht nur für andere, sondern immer wieder für die Maison selbst gearbeitet. Pascal etwa näht eine Sporttasche für die Eröffnung des Geschäfts in Bangkok Ende November. Carole liefert den Inhalt: ein Paar Thaibox-Handschuhe. Von einem Arbeitskollegen, einem der besten Thaiboxer der Grande Nation, weiss sie, worauf es ankommt im Unterschied zu den Boxhandschuhen, die sie für eine Kundin aus New York machte.
Die Bestellung bedeutete für Carole zuerst einmal, tief in die Geheimnisse bester Boxhandschuhe einzutauchen. Welche kaufen, sezieren, Spezialisten befragen und dann auf Feld eins mit der Herstellung des ersten Paars beginnen. Das Hermès-rote Einzelpaar habe die Hobbyboxerin aufs Höchste entzückt, sagt Carole. Ob sie damit tatsächlich in den Ring steigt? Das habe sie die Lady auch gefragt, lacht sie. Die Antwort: «Nein, nein, dafür sind die mir viel zu schade.»