Wer den Nilpferden im Selous-Nationalpark in voller Pracht begegnen will, muss früh aus dem Bett. Denn nachts, wenn sich der müde Tourist am «Hippo Point» schlafen legt, steigen die Kolosse prustend aus dem braunen Ruaha River und suchen an Land nach Nahrung – nach viel Nahrung. Tiefe Spuren im Busch verraten, dass sie im Tross querfeldein marschieren. Ihre Futterrouten können bis zu 30 Kilometer lang sein.
Tagsüber suhlen sich die Flusspferde in den Fluten. Meistens sind bloss ihre gewaltigen Gebisse oder gar nur ihre Nasenlöcher sichtbar. Einzig im Kampf um die männliche Vorherrschaft erheben sie ihre breiten Rücken und setzen zu einem Gebrüll an, das einen Löwen neidisch machen könnte. Kein Wunder, bezeichnen die Einheimischen die Hippos als die gefährlichsten Tiere der Savanne. Timon Chanyuka, unser trotz seiner erst 36 Jahre erfahrenen Guide aus Simbabwe, erzählt eine Legende: «Das Nilpferd trug einst schöne Haarlocken und war das eitelste aller Tiere. Weil es dem lieben Gott nicht gehorchte, bestrafte er es mit Feuer. In seiner Verzweiflung rannte das brennende Nilpferd in den Fluss. Aus Scham über seine Hässlichkeit verbirgt es sich dort bis heute.»
Von bewaffneten Rangern beschützt
Dies die Kurzfassung einer Sage seines Vaters, wie sie uns Timon auf unseren frühmorgendlichen Wanderungen durch die Wildnis erzählt. Begleitet werden wir von einem bewaffneten Parkwächter der tansanischen Regierung, der uns immer wieder mahnt, hintereinander zu marschieren und auf keinen Fall die Flucht zu ergreifen, wenn ein grosses Tier angreift, weil stets das schwächste Mitglied einer Gruppe gejagt und verspeist wird. Selbst dieser Ranger wundert sich darüber, dass Timon alles aufhebt und zerlegt, was die wilden Tiere des Nachts auf dem Buschboden hinterlassen haben: Trockenen Elefantendung und feuchten Kot von Gazellen, Knochen verschiedener Grösse, Federn und Haarbüschel jeder Farbe. Sie geben preis, was oder wen das Tier gefuttert hat.
Fressen und gefressen werden. Im Selous-Wildreservat folgt die Natur noch ihren archaischen Gesetzen. Der Starke verspeist den Schwachen. Das Jungtier verdrängt das alte. Kranke Vierbeiner legen sich zum Sterben ins Gebüsch. Jeder ist des Anderen Feind. Tiere sind Lebewesen und Nahrungsmittel zugleich. Vierbeiner, die der Mensch auf den ersten Blick als abstossend empfindet, entpuppen sich als soziale Wesen. Zum Beispiel Wildhunde, die binnen Minuten zu dritt eine Antilope in Stücke reissen und als Erstes für ein kränkelndes Mitglied der Meute ein gutes Stück Fleisch zur Seite legen. Kurze Zeit später verrät nur noch ein Blutfleck, wo der Frass stattfand. In Tansania lässt sich die Nahrungskette eins zu eins beobachten. Sei es aus dem Landrover oder zu Fuss – in beiden Fällen von Rangern begleitet und beschützt.
Wie ist es möglich, in einer menschenleeren Gegend all dies und noch viel mehr zu beobachten? Die Erklärung klingt wie ein Märchen. Vor 30 Jahren arbeitete die Schweizer Chirurgin Uma Grob für «Ärzte ohne Grenzen» in Afrika. Im Lauf der Zeit lernte sie Land und Leute lieben und Suaheli sprechen. Sie heilte Menschen und half Strukturen aufzubauen. Zuletzt baute sie in Daressalam, im Hafen des Friedens, eine Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie auf. Dafür wurde sie von der tansanischen Regierung zum Ehrengast auf Lebzeiten erkoren. Nach zwölf Jahren Wartezeit wurde ihrem alten Wunsch entsprochen, auf einer geschützten Parzelle ein Hotel zu errichten und dies als Geldquelle für soziale Entwicklung zu nutzen. Das Land versprach sich vom Einsatz der Ärztin die Schaffung von Arbeitsplätzen und Ausbildungsstellen bei gleichzeitiger Bewahrung der Natur. Niemand wurde enttäuscht. Wo ein Militärstützpunkt gestanden hatte, baute Uma Grob mit einer Schweizer Freundin als Geldgeberin und ihrem einheimischen Lebenspartner, einem Architekten, eine Lodge namens «The Retreat». Gekrönt wird sie von einem Turmbau aus Lehmziegeln, der wie ein Fort aus Nordafrika über der Anlage thront. Diese Bastion errichtete sie am Fundort eines deutschen Militärausgucks aus dem Ersten Weltkrieg. Wer zuoberst speist, muss mit ausgeblasenen Petrollampen und einer zerzausten Frisur rechnen. Der Wind bläst hier stark. Die Aussicht über die menschenleere Ebene raubt einem den Atem.
Den Rhythmus verlangsamen
Wer hier in den Landrover klettert, will nicht wie nordwärts in der Serengeti zwingend die legendären «Big Five» (Elefant, Nashorn, Büffel, Leopard und Löwe) abknipsen. Der Gast weiss, dass er riskiert, keinem Löwen, aber dafür vielen Elefanten und Giraffen zu begegnen. Entschädigt wird der Beobachter mit unzähligen Impala-Antilopen, die just in diesen Tagen ihre Jungen zur Welt bringen. Kaum geboren, staksen die Kleinen in beeindruckendem Tempo ihren Müttern hinterher, die sich zum Gebären von der Herde abgesondert haben.
Ist es lebensprägend mitzuerleben, wie ein Krokodil mit einem neugeborenen Nilpferd zwischen den Zähnen vorbeischwimmt? Ist es faszinierend, Zebras, Gnus, Wasserböcke, Leoparden, Warzenschweine und Paviane, aber auch Vögel, Käfer und Termiten sowie alles Weitere, was da kreucht und fleucht, bei der Nahrungssuche zu beobachten? In die perfekte Balance von Klima, Fauna und Flora einzutauchen, entschleunigt nachhaltig. Wer in dieser unberührten Wildnis Smartphone und Tablet-PC nicht beiseitelegt, ist selber schuld.
«The Retreat» Die Lodge einer Schweizer Ärztin
Hotel Der Name der weitläufigen Lodge von Uma Grob ist Programm. Wer nach einer ersten Übernachtung im Bed & Breakfast der Schweizer Ärztin, das zugleich ihr Wohnhaus ist, von Daressalam über menschenleeres Buschland im Kleinflugzeug nach Sumbazi fliegt, wird den Aufenthalt im «The Retreat» nie vergessen. Wie soll man benennen, was sich kaum beschreiben lässt? Begriffe wie «Zurück zum Ursprung» oder Eintauchen dorthin, wo Leben beginnt, oder Verschmelzung von Zeit und Raum sind Versuche, die Bilder im Kopf und in der Kamera auch mit Worten einzufangen.
Suiten «The Retreat» verwöhnt seine Gäste mit afrikanischer Wohnkunst und eurasisch-afrikanischer Kochkunst. Die 56-jährige Uma Grob sammelt seit Jahren Möbel und Statuen vieler Kulturen. Ihr 46-jähriger tansanischer Lebenspartner Mohammed Ngonera hat die faszinierende Infrastruktur aufgebaut: 100 bis 250 Quadratmeter grosse Suiten aus Holz und Zeltplanen mit Palmdach, Strom, Wasser, Toilette im Innern sowie Pools und Badewannen im Freien stehen mitten in der 55 000 Quadratkilometer umfassenden Wildnis des Selous-Nationalparks. Dieses Unesco-Weltnaturerbe umfasst 20 Prozent mehr Fläche als die gesamte Schweiz.
Angebot Zwei geführte Safaris oder Flussfahrten sowie drei wunderbare Mahlzeiten pro Tag laden zum Genuss einer langen Weile im besten Sinn ein. Mal vergeht die Zeit wie im Flug, dann wieder dehnt sie sich aus wie Kautschuk. Das ist Individualtourismus in Reinkultur.