Mit Ignazio Cassis hat das Tessin erstmals seit 18 Jahren wieder einen Bundesrat. Das neueste Regierungsmitglied ist allerdings ein politischer Spätzünder – einer, der in zehn Jahren im Nationalrat nach rechts gerutscht ist und die Cannabis-Legalisierung dennoch befürwortet. Im Leben des 56-Jährigen kam einiges anders als vorgesehen.

Es gibt Menschen, die ihre Karriere genau planen und ihre Ziele zäh verfolgen. Ignazio Cassis gehört nicht dazu. «Ich habe in meinem Leben wenig geplant», sagte der Tessiner vor seiner Wahl zur Nachrichtenagentur sda.

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Wendungen im Leben

Eigentlich wollte Cassis gar nicht Arzt werden, schloss das Medizinstudium aber trotzdem ab und doktorierte. Dann strebte er eine eigene Praxis in Lugano an und wurde stattdessen Kantonsarzt. Das Schicksal mischte ebenfalls im Lebenslauf mit: Als Kind verlor er den kleinen Finger an einem Geländer mit Eisenzacken und musste seine Hobbys wechseln: Trompete statt Klavier und Laufsport statt Kugelstossen.

Auch eine Karriere als Politiker hatte Cassis nicht auf dem Radar. Weil die Tessiner FDP 2003 einen Arzt für die Nationalratsliste suchte, liess er sich aufstellen und landete auf dem ersten Ersatzplatz. Mit der Wahl von Laura Sadis in den Staatsrat rutschte der damals 46-jährige Quereinsteiger 2007 nach.

Tessiner Klischees

Rückblickend, sagt Cassis, «würde ich alles gleich machen». Ausser etwas: «Ich würde früher daran denken, Kinder zu haben.» Der heute 56-Jährige und seine Frau Paola Rodoni Cassis – die in Lugano als Ärztin arbeitet – sind ohne Kinder geblieben. So wohnt er unter der Woche in Bern und verbringt die Wochenenden mit seiner Frau im Tessin.

Das Sofa, das dort in Montagnola in der Stube steht, hat im Sommer für Schlagzeilen und Belustigung gesorgt. Das grossflächige Blumenmuster in Blau und Weiss, kombiniert mit Glastisch und Pferdegemälde, verleitete Stilexperte Jeroen van Rooijen zur Aussage: Diese Einrichtung bestätige das schlimme Klischee, wonach im Tessin die Zeit Anfang der 90er-Jahre stehen geblieben sei.

Übername «Krankencassis»

Zehn Jahre politisierte Cassis für die FDP im Nationalrat. Er war Mitglied mehrerer Kommissionen und präsidierte seit Ende 2015 die Fraktion. Im Tessin hat er keine politischen Spuren hinterlassen – Cassis ist ein reiner Bundesparlamentarier.

In Bern hat er sich schwergewichtig mit Gesundheits- und Sozialversicherungspolitik beschäftigt. Cassis wird als Lobbyist der Krankenkassen wahrgenommen: Er ist Präsident des Krankenkassenverbands Curafutura, des Heimverbands Curaviva, der Equam-Stiftung und der Gesundheitsstiftung Radix. Diese Engagements haben ihm den Übernamen «Krankencassis» eingebracht. In einem Interview wunderte er sich über die Kritik und entgegnete: «Man könnte meinen, die Kassen seien eine Terrorgruppe wie der IS.»

Ansonsten nimmt er Nicknames und Kritik sportlich. «Es kommt immer drauf an, wie man etwas sagt», sagt er. Schon als kleiner Junge habe er wegen schielender Augen eine Brille getragen. Im Tessin hätten sie ihn deshalb in Dialekt «Quattr'öcc» genannt – wörtlich «Vierauge», im übertragenen Sinn «Brillenschlange».

Tendenz nach rechts

Ignazio Cassis politisiert inzwischen in der Mitte der FDP – das zeigt auch das Rating des Politgeografen Michael Hermann. Er ist wirtschaftsliberal und staatskritisch. Und er hat sich in seiner Zeit als Nationalrat stärker nach rechts orientiert. Dies rühre daher, sagt er, dass er gewisse Zusammenhänge besser verstanden habe. So stehe er nun konsequenter für liberale Lösungen und gegen Bevormundung ein.

Mit Cassis dürfte der Gesamtbundesrat etwas mehr nach rechts rücken. Allerdings bezeichnet sich Cassis nicht nur als wirtschafts-, sondern auch als gesellschaftsliberal. Das zeigt sich nirgends deutlicher als in seinem Engagement für die Legalisierung von Cannabis.

Exponiert in der Cannabis-Frage

Das Thema begleitet ihn seit Ende der 90er-Jahre. Der damalige Präventionsmediziner und Kantonsarzt wird 1997 Mitglied der Eidgenössischen Kommission für Drogenfragen. Mehrere Städte kämpfen zu dieser Zeit gegen offene Drogenszenen, die das Scheitern der reinen Repressionspolitik zeigen.

Cassis wird zum Befürworter der Legalisierung von Besitz und Konsum von Cannabis. Als Nationalrat kämpft er später für die Hanfinitiative. Vergeblich: Das Volk lehnt sie 2008 ab. Und Cassis gibt unumwunden zu: Ja, er habe schon gekifft, in der Rekrutenschule. Er habe aber keine Differenz zur Zigarette gespürt. Andere Erfahrungen mit Drogen habe er keine. Im Wahlkampf sprach sich Cassis auch dafür aus, Kokain kontrolliert abzugeben wie Heroin – was prompt für Diskussionen sorgte.

Umstritten war im Sommer auch seine doppelte Staatsbürgerschaft. Schliesslich verzichtete er auf den italienischen Pass, was ebenfalls zu Kontroversen führte.

Neugierde als Motor

Nun ist Ignazio Cassis der erste Tessiner Bundesrat seit dem Rücktritt von CVP-Vertreter Flavio Cotti im Jahr 1999. Er spricht drei Landessprachen fliessend und sagt: «Ich bin immer wieder fasziniert von Neuem. Die Neugierde ist mein Motor, und ich bin überzeugt, dass Herausforderungen jung halten.»

Seine Tessiner Herkunft dürfte massgeblich zu seinem Wahlerfolg beigetragen haben. In einer Umfrage von «SonntagsZeitung» und «Le Matin Dimanche», die am vergangenen Sonntag publiziert wurde, waren zwar 51 Prozent der Befragten der Meinung, Herkunft und Geschlecht des neuen Bundesratsmitglieds seien nicht wichtig. Trotzdem sprachen sich 32 Prozent «eher für einen Tessiner» aus. In der Wahl vom Mittwoch ist er sozusagen durchspaziert: Bereits im zweiten Wahlgang ist Cassis mit 125 von 244 gültigen Stimmen gewählt worden.

Aussen- oder Innenminister

Welches Departement Cassis im Bundesrat übernimmt, ist offen. Der Bundesrat wird in den nächsten Tagen darüber entscheiden. Naheliegend ist das frei werdende Aussendepartement. In Frage kommt aber auch das Innendepartement.

Doch diesen Entscheid fällt nicht Cassis, sondern der Gesamtbundesrat. Üblicherweise äussern die Mitglieder bei der Departementsverteilung ihre Wünsche nach der Anciennität, also nach dem Dienstalter. Dabei steht der neu gewählte Bundesrat hinten an. Wenn keines der bisherigen Regierungsmitglieder das Aussendepartement übernehmen will, dürfte es somit ihm zufallen.

(sda/jfr/me)