In der Nacht auf Samstag, den 3.  April, werden die Fans wieder ihre Zelte vor der New Yorker 5th Avenue Nr. 767 aufschlagen. Sie werden sich am Südostrand des Central Park in langen Schlangen drängeln. Werden Punkt neun Uhr morgens, wenn die Sicherheitsleute die Barrieren wegräumen, die Treppen hinunterstürmen. Denn dann beginnt hier, im Apple Flagship Store im Herzen New Yorks, der Verkauf des iPad. Analysten rechnen mit vier bis fünf Millionen verkauften Geräten im ersten Jahr. Mehrere hunderttausend Vorbestellungen sind bereits eingegangen. Apple-Fans erwarten das iPad sehnlichst.

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Nicht nur sie. Eine ganze Industrie stützt ihre Zukunftshoffnungen darauf. «Darauf haben wir 15 Jahre gewartet», sagt Chris Anderson, Chefredaktor des amerikanischen Technologiemagazins «Wired»: «Die Kunden könnten die neuen Möglichkeiten so sehr schätzen, dass sie zum ersten Mal dafür zu zahlen bereit sind.» Denn das ist das Problem der Medienindustrie im Digitalzeitalter: Bisher schaffte sie es nicht, für ihre Inhalte vom Benutzer Geld zu bekommen. «Fast alle Medien, die in den letzten Jahrzehnten Erfolg hatten, waren Gratismedien», sagt Martin Kall, Chef des Verlagshauses Tamedia. Gleichzeitig sind die Werbeeinnahmen auf dem Netz gering, weil die Benutzerschaft auf Newssites zu vielfältig ist, als dass sich die Anzeigen – wie etwa bei Suchanfragen – massschneidern liessen. Die Folge: Bislang machten fast alle Verlage im Onlinegeschäft Verluste.

Nun soll das Dilemma ein Ende haben. So hoffen zumindest die Verlagsmanager und zitieren als Beispiel die Musikbranche: Der Bedienungskomfort des Onlineshops iTunes von Apple brachte Musikfans dazu, für Songs zu bezahlen, obwohl sie dieselben Alben auf illegalen Downloadsites umsonst bekommen können. «Die Veränderung im Medienkonsum durch das iPad ist gleich bedeutend wie der Übergang vom Radio- zum Fernsehzeitalter», verspricht Scott Dadich, Creative Director von «Wired», der an einer umfangreichen iPad-Version seines Magazins arbeitet.

Doch in den letzten zwei Jahrzehnten sind alle Anbieter im Tablet-Bereich gescheitert. Selbst wenn Apple mit dem iPad Erfolg hat, ist zweifelhaft, ob die «Wunderflunder» («Handelsblatt») wirklich die Probleme der Medienhäuser löst. Klar, Apples iTunes macht es für den Kunden einfacher, Inhalte zu bezahlen. Aber warum sollte er? «Werde ich fünf Dollar für eine App bezahlen, wenn ich genau dieselben Inhalte auf genau demselben Gerät über den Webbrowser umsonst bekomme? Ähm, die Antwort ist Nein», sagt Silicon-Valley-Unternehmer Marc Andreessen, einstiger Gründer von Netscape. Und selbst wenn sie Ja lautete, könnte die Medienindustrie davon kaum leben. Zwar lassen sich durch die elektronische Verteilung Druck- und Lieferkosten sowie die Kioskmarge einsparen, zusammen zwischen 30 und 50 Prozent. Andererseits nimmt Apple für den iTunes-Vertrieb eine Marge von 30 Prozent vom Verkaufspreis. Schlimmer noch: Die Kultfirma wird bei den Medienhäusern auf Discountpreise für die Online-Abos drängen, um den eigenen Umsatz anzukurbeln. Das Beispiel der Musikindustrie zeigt das sehr anschaulich: Die aktuelle Nummer eins der Schweizer Albumcharts, Amy Macdonalds «A Curious Thing», kostet im Einzelhandel offiziell 29.90 Franken. Über iTunes muss Mercury Records, eine Tochter der Universal Music Group, das Album für 15 Franken verkaufen. Downloads machen weltweit inzwischen 27 Prozent aller Musikverkäufe aus. Verdienen tut daran nur Apple. Die Musikindustrie serbelt weiter, sie liess sich von der Silicon-Valley-Firma helfen und ist nun von ihr abhängig.

Beim iPad wird sich das Muster wiederholen: Bereits jetzt fordert Apple laut Medienberichten von den Anbietern amerikanischer TV-Shows massive Preisreduktionen um die Hälfte bis zwei Drittel, wenn sie ihre Inhalte über das neue Gerät vertreiben wollen. «Am Ende des Tages wird weniger Geld für die Medien übrig bleiben», sagt ein Branchenexperte, der nicht zitiert werden will. Der Medienberater Kurt Zimmermann geht noch weiter: «Das iPad kann die Zeitungsbranche ruinieren.»

Erlösquellen. Auch die Hoffnung, Zigtausenden Gelegenheitslesern via iPad einzelne Artikel zu Kosten im Rappenbereich zu fakturieren, um so zu einem Massenvolumen zu kommen, hat sich zerschlagen: Ein Mechanismus zum Micropayment ist auch in der neuesten Version von iTunes nicht vorgesehen. Was also tun? Tobias Trevisan, Verlagsleiter bei der «FAZ», setzt für das iPad auf sogenannte «Freemium»-Modelle: Der Basisdienst ist gratis («free») und soll sich durch Werbung refinanzieren, nur spezifischere Inhalte («premium») sind kostenpflichtig. So wie sich ein Printmedium durch Werbung, Abos und Einzelverkauf finanziert, «muss auch die iPad-Anwendung eine Kombination von verschiedenen Erlösquellen sein», so Trevisan. Diese Idee funktioniert in der Online-Welt freilich schon nicht befriedigend. Thomas Trüb, Leiter digitale Medien bei Ringier, spricht von «Trial and Error» bei der Suche nach dem richtigen iPad-Geschäftsmodell – also exakt dem, was die Branche bereits seit 15 Jahren überaus erfolglos praktiziert. Kurz: iPad und Konsorten bieten der Branche zwar einen zusätzlichen Vertriebskanal, lösen aber nicht ihre grundlegenden Probleme. «Das kann nur die Medienindustrie selbst tun», sagt Alexander Mogg, Medienexperte bei der Unternehmensberatung Roland Berger. «Sie muss endlich die richtigen Geschäftsmodelle finden!»

Dafür stellen sich für Verlagshäuser zwei ganz neue Probleme, wenn sie auf iTunes setzen: Zum einen ist Apple der Gatekeeper, der unerwünschte Inhalte von seinem Online-Kiosk einfach fernhalten kann. So geschehen mit der deutschen Illustrierten «Stern», die letztes Jahr aus dem App Store verbannt wurde, weil sie den Zugriff auf eine erotische Bildstrecke ermöglichte. Der Gefahr einer Zensur durch ein privates Unternehmen ausgesetzt zu sein, wird für die Medienanbieter eine völlig neue Erfahrung sein.

Zum anderen weiss nur Apple, welcher Benutzer welche Inhalte herunterlädt. Die Verlage haben keinen direkten Kundenkontakt. «Kundenbeziehungen aber sind die letzten Assets der Medienhäuser», warnt Kurt Zimmermann. Sie zu verlieren, können sich die Medien nicht leisten: «Es wäre suizidär, sich darauf einzulassen», sagt Ringier-Mann Trüb. Auch die von Apple eingeführte Kaufabwicklung innerhalb einer Applikation enthüllt die Identität des Kunden nicht.

Natürlich können die Verlage den Leser aus der App auf die eigene Website lotsen, um ihm dort direkt Inhalte zu verkaufen. Dann ist man aber gleich weit wie bei den bisher existierenden, nicht rentablen Onlineangeboten. «Diese Bedingungen sind nicht sehr attraktiv, um Geld zu investieren. Und ich staune, dass die Diensteanbieter noch nicht auf die Barrikaden gegangen sind», sagt Trüb. Zumal die Verlage so auch keine individualisierte Werbung aufs Gerät spielen können – eine der wenigen potenziell lukrativen Einnahmequellen. «Wir hoffen, dass Apple hier nachbessert», sagt Ulrich Schmitz, Chief Technology Officer des Axel-Springer-Konzerns, der auch BILANZ herausgibt.

Neue Kosten. Sicher ist, dass die neuen Möglichkeiten bei den Verlagen neue Kosten verursachen. «Speziell produzierte Anwendungen mit exklusiven Inhalten kosten schnell einmal siebenstellige Beträge», sagt Trüb. Weitere Millionenbeträge fallen an, wenn die Medienhäuser die Lesegeräte ihren Abonnenten verbilligt oder umsonst abgeben, so wie Mobilfunkanbieter Handys subventionieren.

Dennoch arbeiten die Verlage mit Hochdruck an iPad-Versionen ihrer Onlineangebote. Die «New York Times» und das «Wall Street Journal» werden eine Vorreiterrolle spielen. Tamedia bringt «Newsnetz» und «20 Minuten Online» in speziellen Tablet-Versionen. Ringier arbeitet an Apps für die weltweit sieben Boulevardblätter des Hauses. Auch Axel Springer wird das Gerät mit angepassten Medienprodukten bespielen. John Micklethwait, Chefredaktor des «Economist», sieht in einem «Magazin plus», einem Printprodukt mit zusätzlichen Zahlen und Videos, ebenfalls die richtige Strategie. «Wir rechnen damit, dass in fünf bis sechs Jahren 20 Prozent der Leser einen Tablet-Computer benutzen», sagt er. Der jetzige Vorreiter Apple wird dann nur einer unter vielen Anbietern sein: Allein heuer sollen Tablets von 50 Herstellern auf den Markt kommen.

«Dass Apples iPad und Nachahmer-Geräte nun flächendeckend den Medienmarkt revolutionieren, glaube ich nicht», sagt Urs Dahinden, Zürcher Professor für Medienforschung. «Es ist verfrüht zu meinen, das iPad sei eine Zukunftslösung für die Verlage», meint auch Trevisan. «Aber es ist zumindest eine Chance.» Nur, wo diese genau liegen soll, das wissen er und seine Kollegen noch nicht.