Tacheles wollte Volkswirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann mit dem Schweizer Fleisch-Fachverband reden. Auch wenn der an diesem 3. Juni in Cham seinen 125. Geburtstag feierte. Im gedruckten Redetext fand der Magistrat klare Worte: Der Bundesrat beharre auf dem Versteigerungssystem für importiertes Fleisch, der Forderung der Metzger nach einer Rückkehr zum alten System erteilte er eine Absage. Doch zu hören war die Passage nicht. Schneider-Ammann liess sie kurzerhand aus. Verbandspräsident Rolf Büttiker blinzelte schelmisch hinter seinen dicken Brillengläsern hervor. Er hatte zuvor mächtig Stimmung gegen die Position des Bundesrats gemacht. «Hannes Schneider», wie sie ihn zu Hause in Langenthal nennen, eckt nicht an. Er ist ein netter Typ. Eine charakterliche Qualität, doch auch seine grösste Hypothek. Harte Entscheide sind nicht seine Sache, mit Kritik tut er sich schwer. Sitzt er mit seinen Beratern, Beamten und Direktoren am Tisch, geht er davon aus, dass alle das gleiche Ziel verfolgen. Im Bundesrat will er am besten mit sieben zu null, aber mindestens mit sechs zu eins gewinnen.
Unsichere Auftritte. Bern, Schwanengasse 2, 23. August: Der Volkswirtschaftsminister empfängt zum Gespräch. Das Bundeshaus Ost, Schneider-Ammanns offizieller Sitz, wird seit September renoviert. Zu Fuss trennen den Bundesrat sechs Minuten von seinen Amtskollegen, in Wirklichkeit sind es Welten. Schneider-Ammann ist fast zwei Jahre nach seiner Wahl ein Fremdkörper im Siebnergremium geblieben. Mit den Berner Abläufen tut er sich schwer.
Justizministerin Simonetta Sommaruga markiert die Chefin und schickt ihre Chefbeamten in Schreibkurse, und Doris Leuthard strahlt selbst dann noch in die Kameras, wenn sie Entscheide des Bundesrates vertreten muss, die ihr widerstreben. Schneider-Ammann kämpft derweil mit sich selbst. Mit Krawatte und Kurzarmhemd legt er sich seine Gedanken zurecht und formt längliche Sätze. «Im Landwirtschaftsdossier spreche ich seit dem ersten Tag mit der Landwirtschaft generell, mit den Bauern, mit den Bauernvertretern, mit den Bauernparlamentariern, mit den Landwirtschaftsparlamentariern, um Vertrauen zu bilden.» Oder: «Wenn man kommt und brüskiert, schafft man sich keine Freunde.»
Prüfen, analysieren, zögern: Das sind Symbole für Schneider-Ammanns Politik. Der Magistrat wirkt unfassbar und kommunikativ unbeholfen. Das verschafft ihm unfreiwillig komödiantische Auftritte. In der TV-Satiresendung «Giacobbo/Müller» erklärte er, dass ihn Elefanten faszinierten: «So gross, wie sie sind, so normal sind sie.» Letzten November musste Kommunikationschef Christophe Hans gehen. Seither coacht ihn der ehemalige Swissmem-Mann Ruedi Christen.
Nach anfänglichen Schwierigkeiten in der Bundesregierung hat er den Tritt etwas besser gefunden. Doch «die Nagelprobe steht noch aus», sagt Markus Ritter, CVP-Nationalrat und aussichtsreicher Kandidat für die Nachfolge von Hansjörg Walter als oberster Bauer des Landes. In der Herbstsession stellt das Parlament die Weichen für die künftige Agrarpolitik. Es ist Schneider-Ammanns wichtigstes und schwierigstes Dossier. Er spricht von Marktöffnung, doch die Marschroute ist unklar. Die Grundideen sind da, doch er habe keinen politischen Ansatz, wie er sie umsetzen wolle, sagen Beamte im Bundesamt für Landwirtschaft.
Auf der bäuerlichen Beliebtheitsskala hat Schneider-Ammann mit seiner zögerlichen Art gepunktet. «Der Agrarminister hat Verständnis für Landwirtschaft und Produktion», säuselt Markus Ritter. Zu Beginn seiner Amtszeit klang es anders. Der Volkswirtschaftsminister, der sich in bäuerlichen Kreisen als Tierarztsohn verkauft, wollte damals die Verhandlungen mit der Welthandelsorganisation und der EU forcieren. Mittlerweile liegen die Verhandlungen auf Eis. Wichtig sind nun bilaterale Verträge, etwa mit China.
Zwischen zwei Stühlen. «Das China-Dossier ist sehr wichtig für die Maschinenindustrie», sagt Swissmem-Chef Hans Hess. Schneider-Ammanns frühere Mannschaft sitzt ihm im Nacken. Die Industrie will in China durchstarten, dazu braucht es tiefere Zölle. Das geht nur über Konzessionen in der Landwirtschaft. Schneider-Ammann sitzt in der Falle. Die alten Freunde auf der einen Seite, die besänftigten Bauern auf der anderen. Doch das bäuerliche Konstrukt ist fragil. Der Volkswirtschaftsminister sagt: «Wir müssen ein bisschen Flexibilität zeigen, vor allem im Landwirtschaftsbereich. Aber nur dort, wo die eigene Produktion nicht direkt attackiert wird.» Ende Jahr soll das Abkommen stehen.
Er weiss um die Fallgruben. In der Diskussion um überhöhte Importpreise motivierte er den Detailhandel, mehr Eigenmarken zu führen. Er stach in ein Wespennest. Migros-Chef Herbert Bolliger empfand dies als Spitze gegen die Migros: «Solche Aussagen des Bundesrates zeugen nicht von einer vertieften Kenntnis des Marktes.» Nach einer Zickzackfahrt will Schneider-Ammann die Kartellgesetzrevision nun rasch durch die Räte boxen. Absprachen zwischen Produzenten und Händlern sollen verstärkt bekämpft werden. Ex-Seco-Chefökonom Aymo Brunetti hatte ursprünglich einen gegenteiligen Vorschlag ausgearbeitet. Doch der freisinnige Magistrat propagiert lieber staatlichen Interventionismus. Ökonomen, Juristen und Verbände treten fast in corpore gegen seinen Schwenker an.
Für einmal zeigt Schneider-Ammann Kanten, doch das genügt Corporate Switzerland nicht. «Vom einstigen Chef und Unternehmer spüre ich wenig. Mehr Kanten wären gut», sagt Holcim-Präsident Rolf Soiron. Und der Süsswarenproduzent Werner Hug sagt: «Er muss mehr Stellung beziehen. Er hat ja nichts zu verlieren und muss als unabhängiger Unternehmer nicht unbedingt wiedergewählt werden.» Im Ungefähren blieb er auch bei einem Auftritt vor der Schweizerisch-Amerikanischen Handelskammer im letzten Herbst. Seine Kollegen aus der Industrie im Publikum hätten sich deutlichere Worte gewünscht.
Der Wirtschaftsminister ist heute bei den Bauern beliebter als bei seiner Industrie. Auch die Wahl Bernard Lehmanns zum Direktor des Bundesamtes für Landwirtschaft kam gut an. Der moderate, ehemalige ETH-Professor folgte auf den liberaleren Manfred Bötsch, der zur Migros-Tochter Micarna wechselte. Beobachter sehen das freilich anders. Er schare eine Ja-Sager-Truppe um sich. Alle zwar fachlich beschlagen, aber ohne Chuzpe und politisches Flair. Das entspricht Schneider-Ammanns Naturell, ist aber ein Bruch mit seinen Vorgängern. Doris Leuthard und ihr Amtsdirektor vertraten die Agrarliberalisierung mit einer Vehemenz, dass ihnen die Gummistiefel um die Ohren flogen. Das war unbequem, aber Basis für neue Projekte.
Schneider-Ammann preschte bloss einmal vor – und lief auf. Das Doppelnamenduo Schneider-Ammann/Widmer-Schlumpf wollte im Sommer 2011 die Exportindustrie mit einem Zwei-Milliarden-Regen beglücken. Liberal war das nicht. Entsprechend zerzauste die Wirtschaft den Vorschlag. Schneider-Ammann besserte nach, stand aber am Schluss mit abgesägten Hosen da. Widmer-Schlumpf zog sich gewieft aus der Affäre. Ein Déjà-vu ein Jahr später: Die Finanzministerin kündigte anstelle eines «ausgeglichenen Haushalts» jüngst einen 1,5-Milliarden-Überschuss an. Ein neuer Versuch? Schneider-Ammann sagt: «Ein Konjunkturprogramm ist nicht vorgesehen. Sollte es aber notwendig sein, dann sind wir in der Lage, von Session zu Session Vorschläge vorzulegen. Seit der Fixierung der Kursuntergrenze zum Euro ist das Thema nicht mehr so virulent.» Ein Hintertürchen lässt er offen.
Der Interventionsmodus kommt vielleicht links gut an. Doch Politökonomie funktioniert anders. «Innovationsförderung hört sich natürlich immer gut an. Aber es besteht die Gefahr, dass man überschiesst und Industriepolitik betreibt», sagt Jan-Egbert Sturm, Chef der KOF Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich. «In erster Linie muss der Wirtschaftsminister die Rahmenbedingungen vorgeben, damit der Wettbewerb im Vordergrund stehen kann.» Wenn es knarrt im Gebälk, dann macht ein Wirtschaftsminister am besten nichts. Die Losung: langweilig gleich gut. Gemessen daran ist Schneider-Ammann kein schlechter Mann. Bloss stolpert er regelmässig über sein narratives Manko. Als Swissmem-Präsident konnte er nach Gutdünken poltern und fordern, er informierte Journalisten vorab. Nun muss er nuancenreicher kommunizieren und erklären können, weshalb er eben gerade nichts macht. Michael Hermann, Zürcher Politologe mit Berner Wurzeln: «Schneider-Ammann kann seine Politik nicht erklären. Aber genau das wäre wichtig.»
Kind der Berner Politkultur. Dem Oberst im Generalstab fehlt ein giftiger Adjutant. Vorgängerin Leuthard sicherte sich Flankenschutz mit Generalsekretär Walter Thurnherr, einem Vollprofi, der den Berner Betrieb à fond kennt. Dieser zog mit ihr ins UVEK. Auf Thurnherr folgte im Volkswirtschaftsdepartement Monika Rühl. Fachlich gilt sie als hervorragend. Doch sie nimmt keine Winkelriedfunktion ein. An den Scharnierstellen hat Schneider-Ammann mit Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch (Seco-Chefin), Eric Scheidegger (Seco-Chefökonom) oder Mauro Dell’Ambrogio (neuer Staatssekretär für Bildung) kompetente, aber konfliktscheue Leute platziert. Widersprecher mag er nicht, doch genau die setzen Markierungen. Jean-Daniel Gerber (Ex-Seco-Direktor), Walter Thurnherr, Manfred Bötsch, Luzius Wasescha (WTO-Botschafter) haben Spuren hinterlassen.
Der Beamtenapparat ist ob der konzilianten Politik seines Chefs wenig begeistert: Das Urteil reicht von «konzeptlos, grosser Lernbedarf, wenig dossierfest, überfordert» bis zu «Verwalter ohne Durchsetzungskraft». Johann Schneider-Ammann hat die Politlektion auch nach Jahren im Nationalrat nicht intus: Er ist der nette Patron geblieben, doch als Bundesrat ist ein CEO gefragt – operativ, pragmatisch, detailversessen. Er weiss das selbst. «Ich musste erkennen, dass ich noch mehr arbeiten muss, wenn ich die Dossiers kennen will», diktierte er der «NZZ».
Er ist bemüht, doch die Transformation ist ihm bis heute nicht gelungen. Michael Hermann: «Schneider-Ammann ist ein Kind der bernischen Politkultur. Die Ehre, ein politisches Amt innezuhaben, zählt mehr als der politische Gestaltungswillen.» Das zeigte sich im Nationalrat. In den elf Jahren glänzte er oft durch Abwesenheit. War der Werkplatz nicht Thema, fand Schneider-Ammann unter der Bundeshauskuppel kaum statt. In der Abstimmungsdatenbank steht das Kreuz oft bei «NT»: nicht teilgenommen.
Fragwürdiger Heimatschutz. 1999 als geachteter Unternehmer in die grosse Kammer gewählt, lebte der Oberaargauer fortan von seinem Ruf. Doch sein Erfolgsausweis als Unternehmer ist mässig, den Beweis des liberalen Etiketts blieb er oft schuldig. Etwa im Sommer 2007: Schneider-Ammann setzte im Parlament durch, dass die Meldeschwelle für Aktienpakete auf drei Prozent gesenkt wurde. Gedrängt hatte ihn Sulzer-Präsident Ulf Berg. Der Industriekonzern war zuvor ins Visier des russischen Investors Viktor Vekselberg geraten. Ob fünf oder drei Prozent: Matchentscheidend ist das nicht. Es gehe ihm nicht um Heimatschutz, sagte Schneider-Ammann damals. Aber es sei doch problematisch, wenn mit Schweizer Industrieunternehmen spekuliert werde. Heute weist Sulzer Rekordergebnisse aus – mit Ankeraktionär Vekselberg. OC Oerlikon hat dieser gar vor dem Konkurs gerettet.
Im gleichen Jahr eilte er Implenia zu Hilfe, als der Hedge Fund Laxey einstieg. Implenia-Chef Anton Affentranger sass damals bei Schneider-Ammann im Verwaltungsrat. Die Ammann Group hält noch heute 8,4 Prozent am Baukonzern. Heimatschutz nach Schneider-Art.
Seine Führungsqualitäten sind beschränkt. Schneider-Ammann hat zwar den Maschinenbauer Mikron saniert, die Ammann Group international aufgestellt und Wachstum in China oder Tschechien gebolzt (2011 machte die Gruppe 780 Millionen Euro Umsatz). Doch der Preis dafür sei hoch gewesen, heisst es in Langenthal. «Im Kerngeschäft war man kaum je rentabel», sagt ein Manager. Der Standort Langenthal hätte aus betriebswirtschaftlicher Sicht längst geschlossen werden müssen. Ein Schlussstrich wäre jedoch politischer Selbstmord gewesen.
Dass er die Mitarbeiter nicht betriebswirtschaftlichen Kennzahlen opferte, ist ihm hoch anzurechnen. Möglich war das aber nur, weil sich die Gruppe über die Finanzerträge des Familienvermögens quersubventionierte. Die Ammann Group sei eine Bank mit einer Hobbyschmiede, pflegten die Revisoren bei der Rechnungsabnahme jeweils zu sagen. Heute sei die Situation stabil, sagte sein Sohn Hans-Christian Schneider jüngst im «Langenthaler Tagblatt».
Gutgläubig. Im Bundesrat führt Johann Schneider-Ammann nach dem gleichen Prinzip. Als Novartis den Standort Nyon schliessen wollte, vermittelte er zwischen Kanton und Konzern. Der Waadtländer Finanzdirektor Pascal Broulis sagt: «Er wollte unbedingt eine Lösung finden. Die Sitzung war in Bern geplant, doch er akzeptierte ohne Murren, nach Lausanne zu kommen.» Fünf Monate später mischte er in Genf erneut mit, als Merck Serono die Schliessung des Sitzes in der Rhonestadt verkündete. Das ist SP-Politik. Der BILANZ sagte Schneider-Ammann Ende 2005, er fühle sich regelrecht verpflichtet, den Leuten die Augen dafür zu öffnen, «wie es zu- und hergeht auf der Welt».
Neben betriebswirtschaftlichen Beisshemmungen und Zauderei formte Schneider-Ammann im Volkswirtschaftsdepartement den kritiklosen Umgang. «Nie hat jemand öffentlich widersprochen. Er hat nie gelernt, mit Kritik umzugehen», tönt es aus Bern und Langenthal. Im Bundeshaus braucht es in erste Linie kreative Leute, die für den politischen Innovationsprozess stehen – es muss ja nicht gleich ein Konjunkturpaket sein. Doch Schneider-Ammann sei kein Vollblutpolitiker, heisst es bei Spitzenbeamten. «Heute ist die Situation besser als vor einem Jahr», sagt der frühere FDP-Präsident Fulvio Pelli. «Allerdings fehlen ihm die Frechheit und die Fähigkeit, schnell zu handeln. Der Bundesrat braucht aber auch diese Art von Politikern.»
Das politische Gespür fehlt. Im Frühling schlug er Roman Boutellier als Staatssekretär für Bildung, Forschung und Innovation vor und wunderte sich über die geharnischten Reaktionen. Boutellier, Studienkollege, ETH-Professor und Schneider-Ammanns Nachfolger als VR-Präsident bei der Ammann Group, fiel im Gesamtbundesrat durch. Beobachter schütteln den Kopf ob Schneider-Ammanns taktischer Naivität.
Divergierendes Reden und Handeln. Derweil punktet der Magistrat mit seiner umgänglichen Art über die Parteigrenzen hinweg. Gewählt haben die Räte aber einen anderen: den Unternehmer mit Führungsqualität. Bekommen haben sie einen braven Konsenspolitiker. Politologe Hermann: «Man hatte die Wunschvorstellung des Unternehmers, der zupackende Politik betreibt. Doch das hat er nie getan.»
Johann Schneider-Ammann wusste, dass das Amt eine Nummer zu gross sein könnte. Gegenüber BILANZ (14/2010) sagte er vor seiner Kandidatur: «Ich glaube nicht, dass die Schweiz auf mich gewartet hat – unter Selbstüberschätzung leide ich nicht.» Er entschied sich anders. Der «Mister Werkplatz», der medienwirksam Bankenschelte betrieb, kam in den Wirren der UBS-Krise an. In der grossen Kammer stimmte er trotzdem bankenfreundlich ab.
Noch hat Schneider-Ammann die Wachstumszahlen auf seiner Seite. Ungemütlich wird es für ihn erst dann, wenn die Arbeitslosenquote zu steigen beginnen sollte. Das weiss er: «Es besteht das Risiko, dass die Eurokrise Beschäftigungskonsequenzen hat und die Arbeitslosigkeit auch in der Schweiz steigt. Ich male nicht schwarz, aber ich bin kein blinder Daueroptimist. Dann dürfen wir die Ruhe nicht verlieren und keinesfalls in Aktionismus verfallen.»
Da hat er recht. Allerdings muss er dann entscheiden und darf nicht zögern.