Buchhandlung Orell Füssli an der Zürcher Bahnhofstrasse, Abteilung für Wirtschaft, das Gestell «Selbstmanagement». Besonders häufig wird es laut der Verkäuferin von Männern angesteuert. Meist greifen sie zuerst nach dem Buch mit einem symbolhaften Titelbild: Zwei junge, smarte Herren in Anzug und Krawatte sitzen barfuss und rittlings auf einem Baumstamm, ins gemeinsame Schachspiel vertieft. Dynamisch entspannte Anwärter auf die Direktionsetage. Das Buch ist eine von zwanzig Neuerscheinungen zum neuen Schlagwort «Work-Life-Balance», die letztes Jahr zeitgleich auf den Markt gekommen sind – ein wahrer publizistischer Böllerschuss.
«Work-Life-Balance. So bringen Sie Ihr Leben (wieder) ins Gleichgewicht» lautet der Titel des schmalen Bandes. Die Autorinnen, Heike Cobaugh und Susanne Schwertfeger, sprechen von einer regelrechten «Höllenmaschine», in der wir stecken: «Ständig wollen alle etwas von einem», der Chef, die Mitarbeiter, die Kunden, die Familie. Demgegenüber verheissen sie einen «inneren Glückspunkt», einen Moment tiefer Erfüllung als Resultat perfekter Ausgewogenheit.
Warum ein umfassendes Gleichgewicht von so vitaler Bedeutung ist, resümiert der bekannte Keynote-Speaker Marco von Münchhausen, Autor von «Die vier Säulen der Lebensbalance. Ein Konzept zur Meisterung des beruflichen und privaten Alltags»: «Wenn die Ausbalancierung der verschiedenen Lebensbereiche nicht stimmt, kippt das ganze System. Mangelt es an Arbeit und Geld, fehlt die Existenzgrundlage. Ohne Familie und Freunde droht die emotionale Verkümmerung. Ist die Gesundheit zunichte, geht gar nichts mehr. Kommt der Sinn abhanden, dann rutscht der Mensch in eine innere Krise.» Für die Gesundheit braucht es täglich rund eine halbe Stunde, für die Sinnfindung regelmässiges Innehalten. Absorbierend gestaltet sich das Hin und Her von Job und Privatleben, vor allem wenn hier die Karriere, dort die Kinder zerren.
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Wie schaffen die Spitzenkräfte unseres Landes diese diffizile Äquilibristik? Manager in einer Position, in der das Doktorat einer Kaderschmiede vorausgesetzt wird, Angehörige einer Generation, in der auch die Väter die Windeln wechseln? Letzteres betonen alle der hier Interviewten von sich aus, wobei das Wort «selbstverständlich» stets beiläufig fällt.
Einer von ihnen ist Jürg Kallay (41). Unter anderem Verwaltungsrat einer der Gesellschaften von Thomas und Christoph Gottschalk, seit 2003 Inhaber der auf die umfassende Betreuung vermögender Privatpersonen spezialisierten Swiss Private Office AG in Zürich. Damit ging sein Traum vom Unternehmertum in Erfüllung. Er hat zwei Kinder im Alter von sieben und zehn. «Aus einer intakten Ehe», betont er. Den Swiss Alpine Marathon lief der Hobby-Triathlet letztes Jahr in 5 Stunden und 7 Minuten. Rundum Modellwerte, die Kallay sichtlich zufrieden stimmen. Das war nicht immer so.
«Lange Zeit beschäftigte es mich, dass meine Studienkollegen steil Karriere machten, während ich an Ort zu treten schien.» Um genügend Spielraum für die Familie zu haben, leitete er zehn Jahre lang eine kleinere Firma in Baar, wo er seine Zeit selber einteilen konnte. Während die anderen nach der Arbeit an Apéros gingen, um Networking zu betreiben, fuhr er nach Hause und brachte die Kinder ins Bett. Dabei fand er sich in unerwartet herausfordernden Situationen wieder, etwa wenn sich die vierjährige Tochter partout weigerte, die Zähne zu putzen: «Ihr zu sagen, du musst das jetzt tun, weil ich der Verwaltungsratspräsident bin, nützte nichts.» An den Samstagen ging Kallay mit den Kindern ins Hallenbad, um seine Frau zu entlasten, statt mit den Kollegen auf den Golfplatz, um sein Prestige zu kultivieren. Trotz gelegentlichem Hader lag dem «Generalisten» (so Kallays Selbstbezeichnung) immer an der Gleichzeitigkeit mehrerer Lebensbereiche. Letztlich sei die Balance eine Frage des Willens gewesen, auch der Konsequenz, Nein zu sagen. Diese hat sich gelohnt, dafür geniesst er die familiäre Nähe heute wie eine «Vitamintablette».
Die Vereinbarkeit von Karriere und Familienleben scheint eine knifflige Herausforderung zu sein. «Doch gerade Männer, die stark berufsorientiert und an Fortkommen, Status und Finanzen interessiert sind, legen grossen Wert auf eine tolle Partnerin und Familie, die den Erfolg abrunden», sagt die Soziologin Margret Bürgisser. Den daraus entstehenden Spagat formuliert die Expertin als Multipack schwer vereinbarer Wert- und Lebenswelten: Auf der einen Seite steht die Wirtschaft, die den vollen Einsatz verlangt, mit steigenden Ansprüchen an die Präsenz. Auf der anderen Seite das Private: «Die Ehefrau will wahrgenommen werden und sich entwickeln. Die Kinder wünschen sich einen greifbaren, zugänglichen Vater, nicht einen Chef.» So pendelt der aufstiegsorientierte Mann zwischen zwei konträren Welten. Während das Erwerbsleben auf Effizienz und Dominanz ausgerichtet ist, zählen im Privatbereich Partnerschaft, Sensibilität und Flexibilität.
Trotz dieser existenziellen Gegenläufigkeit wird eine Familie auf der Chefetage fast selbstverständlich erwartet. «Die Gespräche mit den CEOs verschiedener Firmen kommen meist schnell auf die Frage, wie man seine Familiensituation deichselt», sagt Martin C. Wittig, Executive Member der Consultingfirma Roland Berger. Wenn einer seiner Firmenpartner heiratet und die Kinder kommen, freut sich Wittig: «Das unstete Leben hört auf, er stabilisiert sich und organisiert seine Zeit besser.»
Zu Hause hat der Deutsche, nach eigenem Bekunden mit einer «dynamischen Frau» verheiratet, zwei zweijährige Jungen. Sie sind es, die im gewieften Geschäftsmann die grossen Gefühle wecken: «Das Beste auf der Welt ist, wenn sie lachen.» Unersetzliche Höhepunkte. Herb hingegen wird es, wenn die Kleinen erkranken und sagen: «Papa heute nicht arbeiten.» Doch Papa muss weg, die Arbeit ruft. Der Topconsultant weilt so oft auf Geschäftsreisen, dass seine Jungen glauben, er sei Pilot. Deshalb versucht der 40-Jährige, unter der Woche mindestens ein Abendessen und zwei Frühstücke zu Hause zu verbringen. Findet ein Zürcher Meeting erst um 11 Uhr statt, arbeitet er morgens vom Homeoffice aus. Und wenn er abends mit seinen Jungen Eisenbahn spielt oder ihnen vorliest, schaltet er innerlich ab, auch wenn noch so grosse Geschäfte anstehen. Das Telefon bleibt stumm.
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Seine Frau kämpfe oft um Zeit für die Familie, als Resultat habe er sein Jogging auf fünf Uhr morgens verlegt, sagt Martin C. Wittig. Und: «Ich selbst beisse zeitlich ins Gras.» In diesem strammen Spagat diskutieren die Eheleute auch intensiv das Thema Teilzeitarbeit. Doch in seinem Job, so der Topmanager, sei das «schlicht unmöglich».
Gerade die Arbeitszeitreduktion erweist sich im drohenden Managerdreieck von Scheidung, Herzinfarkt und Pleite als virulentester Faktor. Quasi der Angelpunkt und Pferdefuss aller Spagate. Dazu die Zahlen aus einer Untersuchung des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung: 2001 arbeiteten sechs von zehn Frauen in Teilzeit, jedoch nur jeder achte Mann. Von den Frauen geben 53 Prozent «familiäre Gründe» an, von den Männern nur 8 Prozent. Von insgesamt 3,7 Millionen Erwerbstätigen reduzierten also gerade mal 20 000 Männer ihr Vollzeitpensum für ihre Angehörigen. Als besonders rar erweisen sich Teilzeitarbeitende mit Vorgesetztenfunktion beziehungsweise in Unternehmensleitungen.
Das Bewusstsein um das ungesunde Dilemma der Lebensbereiche hält allmählich auch Einzug in die Politik verschiedener Firmen. Coop etwa setzt das neue Schlagwort «Work-Life-Balance» dieses Jahr anlässlich der Kaderausbildung auf die Traktandenliste. Swiss Re und Novartis gehen weiter: Schon seit Jahren ermöglichen sie ihren Angehörigen auf allen Stufen flexible Arbeitszeiten. Dabei machte der Basler Pharmakonzern die Erfahrung, dass das Angebot vornehmlich von Mitarbeiterinnen genutzt wird, vom Kader sind es 27 Frauen und ganze 4 Männer. Der Personalchef Schweiz, Hans Locher, spricht von einem regelrechten «Tabu».
Erhärtet wurde dieser Zusammenhang bereits in den Neunzigerjahren durch skandinavische Studien. Vor allem aufstiegswillige Männer nahmen ausgezeichnete Firmenstrukturen für Teilzeitarbeit nicht in Anspruch, weil sie um ihre Karriere bangten. Die Sozialforscherin Margret Bürgisser spricht von kulturellen Faktoren, von lange verwurzelten Überzeugungen und Rollen, letztlich von nichts anderem als dem Credo in den Köpfen. «Wenn die Firmen ihre innovativen Zielsetzungen wirklich erreichen wollen», sagt sie, «müssen sie in ihren Weiterbildungen auch diese Befürchtungen thematisieren, sonst ändert sich nichts.»
Dass die Ängste der Manager durchaus real sein können, zeigt die jüngst vorgefallene Geschichte eines 36-jährigen Direktors in einem grossen Consultingunternehmen. Da er regelmässig seinen zweijährigen Sohn mitbetreuen wollte, vereinbarte er mit dem Arbeitgeber, alle zwei Wochen einen Tag zu Hause vom Laptop aus zu arbeiten. Dabei pochte die Firma auf Geheimhaltung. Aus internen Gründen – «sonst kommen alle», hiess es. Aber auch aus externen: Die Glaubwürdigkeit des Unternehmens würde von den Kunden angezweifelt, sollte so etwas ruchbar werden. Zugleich strich man den Betreffenden von der Beförderungsliste, weil die Firma sein Commitment anzweifelte. Erzählt hat diese Geschichte hinter vorgehaltener Hand die Frau des Mannes.
Auf unsere Interviewpartner trifft das Geschilderte nicht zu. Sie arbeiten in Vollzeit, machten ihren Weg nach oben – und haben zu Hause eine Gattin, «die ihnen den Rücken freihält», wie sie gerne formulieren. De facto meinen sie damit, dass die Gattin den Spagat zwischen den Lebensbereichen mildert. Alle bezeichnen ihre Partnerin als «starke, moderne Frau», regelmässig fällt das Wort «Dankbarkeit».
«Wenn Paare mit einer solchen Rollenaufteilung zu mir in die Therapie kommen, äussern die Männer durchs Band grosse Dankbarkeit», beobachtete auch die Paar- und Organisationsberaterin Rosmarie Welter-Enderlin. «Problematisch wird es, wenn den Frauen diese Dankbarkeit nicht mehr reicht.» Dann sei der Graben oft kaum mehr zu kitten. Als häufigstes Eskalationsthema erweist sich dabei die Weigerung der Männer, zeitliche Freiräume zu schaffen. Deshalb empfiehlt die Psychologin Managern, die eine steile Karriere planen, möglichst früh mit ihrer Partnerin abzusprechen, wie die Betreuungs- und Berufsarrangements nach der Familiengründung konkret aussehen sollen. Am besten gleich nach dem ersten Rendezvous. Wenn das erste Kind da ist, könnte es zu spät sein.
Urs und Susi Landolf, seit zwanzig Jahren verheiratet, haben vereinbart, dass sie zuerst als Galeristin berufstätig sein würde, bevor die Kinder kämen. Heute, da es so weit ist, bekommt sie genug auswärtige Hilfe, um einen Tag wöchentlich auswärts zu arbeiten. Inzwischen leitet ihr Gatte bei PricewaterhouseCoopers europaweit die Rechts- und Steuerabteilung, was einen Umsatz von 1,1 Milliarden Dollar und rund 7500 Mitarbeiter bedeutet. Wie kommt Urs Landolf, nebenbei noch Vorsitzender der HSG-Alumni, mit seinem Wochenpensum von rund 60 bis 70 Stunden von der Bilanz zur Balance? Von seinem Spagat zeugt der Bürotisch: Unzählige Akten stapeln sich neben den Porträtaufnahmen dreier herziger Buben zwischen acht und zwölf Jahren.
Urs Landolf ist einer, der «Nukleus» sagt, wenn er «Nest» meint, einer, dem spürbar am Kontakt zu seinen Jungen liegt. Immer wieder betont er: «Ich muss mich verbinden.» Beim Organisieren der häufigen Geschäftsreisen achtet er darauf, dass die Freitag- und Sonntagabende frei bleiben. Sakrosankt sind die gemeinsamen Sonntage, ebenso die Ferien. Jede Zeitinsel wird sorgsam genutzt, umso mehr, als die Terminkalender der Junioren fast noch voller sind als jener des Vater. Alle drei trainieren zwischen 15 und 25 Stunden wöchentlich Kunstturnen auf Spitzenniveau, wochentags treffen sie kaum je vor 21 Uhr zu Hause ein.
Sitzen schliesslich alle beeinander, spielt man Uno oder Magic; intensiv tauscht man sich über Alltägliches, über Autos oder Fussball aus. Mit dem Heranwachsen der Buben öffnet sich eine Welt, die Urs Landolf auszukosten scheint. Letzthin gingen die vier «Männer» zum japanischen Tepanyaki-Essen aus, was dem 49-Jährigen besonders gefiel.
«Unser Zusammensein ist selten und darum besonders kostbar», lautet die landolfsche Familienphilosophie. So bleibt die Sehnsucht auf allen Seiten aktiv. «Hoi Papi, wie gohts, es goht nu halb so guet, wil du nöd da bisch. Ich froi mi, wänn du wider chunsch», lautete das SMS, das der Geschäftsreisende letzthin von seinem Ältesten bekommen hat. Für dessen Gymnasium-Aufnahmeprüfung im Mai wird Urs Landolf sich frei nehmen – das hielt sein Vater schon so.
Persönliche, kindergerechte Kontakte sind das A und O einer gelungenen Verbindung zwischen dem Vater und seinen Sprösslingen. Auf deren Notwendigkeit verweist die Paar- und Organisations-beraterin Rosmarie Welter-Enderlin. Der Erfolg der Väter in der Arbeitswelt korreliert nämlich häufig mit dem Unglück der Kinder. In den USA arbeitete die Psychologin an einer Studie mit, die zum Schluss kam, dass 36 Prozent der Kinder von Vätern in traditionellen Führungspositionen zu Verhaltensauffälligkeiten neigen, aber nur 15 Prozent des Nachwuchses aller übrigen Väter. «Ich merkte», sagt Welter-Enderlin, «dass es diesen Kindern, vorab den Jungen, an Selbst-bewusstsein fehlte.» Die Väter lebten ihnen den Leistungsperfektionismus bis hin zur Selbstverachtung vor, gekoppelt mit der Verachtung männlicher Empfindsamkeit. Den Söhnen, die ihren Vätern beweisen wollen, dass sie ebenso viel leisten können, fehlt gleichzeitig das Vorbild dafür, dass es sich lohnt. So bleiben sie in den Widersprüchen einer männlichen Biografie hängen. Der Spagat vererbt sich. Doch solche väterlichen Hypotheken können auch positive Früchte tragen. Wie bei Urs Rickenbacher, der als Delegierter des VR und CEO die Lantal leitet, die weltweit grösste Produzentin für Transporttextilien. Als Kind sah der Unternehmersohn seinen Vater, wie er sagt, «leider allzu selten, rund einmal die Woche etwas länger». Mit 46 Jahren hatte der Papa seinen ersten Herzinfarkt, bald darauf folgten weitere. Schliesslich musste er seine Firma aus gesundheitlichen Gründen verkaufen. «Wenn du einmal die Vögel nicht mehr singen hörst», meinte er später sinnierend zu seinem Sohn, «dann weisst du, dass du zu viel arbeitest.»
Heute steht Urs Rickenbacher jeden Morgen um fünf Uhr auf, um zu joggen. Wenn er morgens in die Firma kommt, hat er bereits dem Vogelgezwitscher gelauscht. Rickenbacher bevorzugt «Wertgefüge statt blosser Zielvorgaben». Als der neue Boss zur Firma kam, absolvierte er zuerst ein Praktikum in jeder Abteilung, um zu erfahren, wie sich die Arbeit «mit dem Herzen und der Hand anfühlt».
Dasselbe gilt fürs Zuhause, das der 47-Jährige mit Ehefrau Jeannette und den drei Kindern zwischen fünf und neun Jahren teilt. Der Topmanager macht von Grund auf alles mit. Es gilt die Devise aller Wohngemeinschaften: Wer kocht, muss nicht abwaschen. Bei der Zubereitung des Abendessens rührt er die Ovomaltine trinkfertig an und legt das Kissen für die kleine Tochter bereit, damit sie hoch genug sitzen kann. Die Töpfe reinigt er von Hand, nicht mit der Maschine. Wenn der Papa staubsaugt, stellt er auch die Stühle unter dem Tisch weg. Mit den Kindern spielt, malt und schimpft er – je nachdem.
Diese Details erzählt Ehefrau Jeannette. Sie wundert sich, woher ihr Mann die Kraft nimmt. Vielleicht hat Urs Rickenbacher seinen persönlichen Glückspunkt, das viel gesuchte Lebensgleichgewicht, schon gefunden.