Sie hatten keine Ahnung. Keine Ahnung von gewerblichen Konzessionen, von Abrechnungen für die Mehrwertsteuer, von Spesenreglementen. «Eigentlich von nichts», räumen Philip «Peppe» Jenzer und Simon Borchardt heute freimütig ein. Und das Startkapital war auch äusserst bescheiden: Je 1000 Franken zahlten die beiden 2013 auf ein Postkonto ein.
Das musste reichen. Mehr hatten sie nicht, Fremdkapital und Bankkredite wollten sie nicht annehmen – aus Prinzip, wie sie betonen. «Wenn es nicht klappt, dann hören wir wieder auf», lautete die Devise. «Manchmal muss man einfach die Unverschämtheit haben, etwas zu probieren», sagt Borchardt. «Letztlich ist mehr möglich, als man glaubt.»
Fünf Jahre später haben sie rund um ihren Ingwerer ein kleines Unternehmen aufgebaut. Heute zählt ihre Peppe GmbH sechs fest angestellte Mitarbeiter – inklusive der beiden Gründer – sowie mehrere Helfer, die im Stundenlohn bei der Produktion mit anpacken. Es ist eine Erfolgsgeschichte. Sie beweist, dass innovative Schnapsbrenner und Likörmacher mit exquisiten Spezialitäten, Lokalbezug und Engagement nicht nur überleben, sondern auch tüchtig wachsen können.
Und das in einer Branche, in der es eigentlich nur abwärtsgeht. Weil vor zwanzig Jahren der Zollschutz fiel, vor allem aber, weil das Gros der Schweizer Spirituosenhersteller viel zu lange versuchte, der ausländischen Konkurrenz mit ihrer gesichtslosen Massenware entgegenzutreten. Das Resultat: Die heimische Produktion reinen Alkohols fiel in den letzten zwanzig Jahren von 64 000 auf 22 000 Hektoliter, die Zahl der gewerblichen Brenner von 766 auf 258.
Wende mit der Grünen Fee
Auch Oliver und Nicole Matter zögerten lange, als sie zu Beginn des Jahrtausends vor der Frage standen, ob sie die Familienbrennerei in vierter Generation überhaupt übernehmen wollten. Die Nachfrage nach heimischen Obstbränden und Bitter nahm Jahr für Jahr ab, es folgte ein schlechtes Jahr aufs andere. 2005 haben sie sich dann dennoch ins Abenteuer gestürzt – und den Betrieb «eigentlich wieder neu aufgebaut», wie sie heute sagen. Verliessen 2005 pro Jahr 50 000 Flaschen die Brennerei im bernischen Kallnach, sind es heute um die 140 000. Rund 80 Prozent gehen in den Export – namentlich in die USA, ihren Hauptmarkt. Aber auch in die EU, nach Australien, Singapur oder Japan.
Es war die grüne Fee, die der Brennerei neues Leben einhauchte. Oliver Matter hatte von seinem Urgrossvater ein altes Rezept für Absinth in der Schublade. Er machte sich an die Arbeit – insbesondere auf Druck seiner Frau, denn er selbst blieb bis zuletzt skeptisch. Der Betrieb hatte schon zu vieles ausprobiert, was nicht funktionierte. Als dann am 1. März 2005 das Absinth-Verkaufsverbot in der Schweiz fiel, waren die Matters parat. Und schon standen die Händler aus Deutschland und England auf der Matte. Sie wollten mehr. Und mehr. Und sie brachten ihre eigenen alten Absinth-Rezepte zur Reproduktion mit, die seither in Kallnach gebrannt werden. Unter anderem eines für eine echte «Fée verte», einen grünen Absinth. Bereits 2006 konnte Oliver Matter in London erste Preise einheimsen.
Doch es kam noch besser, als die Schweizer Brennerei dank der Vermittlung ihres deutschen Händlers mit Marilyn Manson ins Geschäft kam. Gemeinsam lancierten sie 2007 den «Mansinthe», einen Absinth mit symbolträchtigen 66,6 Volumenprozent und einer vom Schockrocker kreierten Etikette – noch heute der «Bestseller» unter den elf Absinths von Nicole und Oliver Matter.
Kauf des Ursprunghauses
Mit dem «Mansinthe»-Boom habe man auch erste Investitionen in den Betrieb tätigen müssen, sagt Oliver Matter und zeigt auf die kleine Etikettierungsmaschine. «Zuvor haben wir die Etiketten von Hand aufgeklebt.» In der Zwischenzeit sind viele weitere Investitionen hinzugekommen: etwa in die Modernisierung der Brennerei, in eine grössere Abfüllmaschine und in den Kauf ihres «Ursprunghauses», des alten Restaurants beim Bahnhof Aarberg, nur ein paar Kilometer von Kallnach entfernt.
Dort befinden sich nun die Büros, der Vertrieb für die Schweiz, der «Schnapsladen» und die Bar, eine Wiederbelebung des 1945 eröffneten «Martinazzi-Stübli», einst die einzige Bar zwischen Bern und Biel. Die Namensrechte für den legendären Bitter hatte sich Matters Urgrossvater, der Unternehmensgründer Ernst Luginbühl-Bögli, 1928 vom Turiner Martinazzi-Erfinder für den Schweizer Markt gesichert. Die Italiener haben den Betrieb schon lange eingestellt, sodass heute die Matters weltweit die Einzigen sind, die noch Martinazzi herstellen. Exportieren können sie ihn nicht, weil sie nur die Rechte für den Schweizer Markt haben.
Marilyn Manson war das Eintrittsticket in die USA, den heute mit Abstand wichtigsten Markt für die Kallnacher. «Die Türe hat sich geöffnet, und wir haben den Fuss hineingetan», sagt Matter. «Es war eine verrückte Zeit, wir waren sogar auf der Aufschlagseite des Auslandteils der ‹New York Times›». Schnell musste ein US-Vertriebspartner her, zur Auswahl standen mehrere, die Matters entschieden sich bewusst für den kleinsten: «Wir wollten einen Partner, mit dem wir gemeinsam wachsen konnten – ohne bei der Qualität Abstriche machen zu müssen.»
Und das taten sie in der Folge auch: mit den Absinths, mit Likören mit hohem Zuckergehalt, den sogenannten «Crèmes», die Oliver Matter auch als «alkoholhaltige Sirups» bezeichnet, und vor allem mit dem Gran Classico, dem meistverkauften Produkt aus dem Hause Matter-Luginbühl, einem Bitter, ähnlich dem nicht exportierbaren Martinazzi.
Die Coop-Frage
Wachstum braucht Platz. Und so müssen Philip Jenzer und Simon Borchardt umziehen. Schon wieder. Angefangen hat Jenzer in seiner Küche, dort hat er ein Jahr herumgetüftelt, bis er das Rezept für den perfekten Ingwerlikör gefunden hatte, der ursprünglich nur für den Eigengebrauch und als Geschenk für Freunde gedacht war. Bis eben die Idee entstand, daraus ein Geschäft zu machen. In einem Restaurant von Freunden durften Jenzer und Borchardt dann jeweils am Sonntag die Küche für ihre Ingwerer-Produktion benützen, eine «Zebrabox» diente als Gewerbeadresse.
Ende 2016 konnten die beiden mit ihrem Unternehmen in die ehemalige Auto-Lavage der umgenutzten Feuerwehrkaserne am Viktoriaplatz in Bern ziehen. Doch mittlerweile ist es auch hier wieder zu eng, und der nächste Umzug steht noch diesen Oktober bevor: Die Ingwerer-Crew zieht dann ins ehemalige Postlogistikzentrum im Wankdorfquartier. Ein grosser Sprung: von 65 auf 880 Quadratmeter.
In Bern gibts heute wohl keine angesagte Bar mehr, die den Ingwerer in seiner markanten Flasche nicht im Sortiment führt. Und den Gingwerer – eine Kreation aus dem Ingwer-Kultgetränk und einem Gin aus der Berner Matte-Brennerei. Auch in Zürich und anderen Schweizer Städten kommt man langsam auf den Geschmack – ebenso wie im Ausland. In Wien und Berlin produzieren und vertreiben Freunde der beiden Firmengründer den Ingwerer.
Seit kurzem gibt es auch die Peppe International, über welche erste Gehversuche in andere Länder gewagt werden. So sind soeben erste Paletten nach Amsterdam und Tokio ausgeliefert worden. Doch als Coop anklopfte und den Ingwerer in die Regale stellen wollte, sagten Philip Jenzer und Simon Borchardt Nein. Zu gross, zu viel. Und vor allem: Der Grossverteiler passt nicht ins Peppe-Konzept. «Wir wollen lieber kleine Läden mit besonderem Sortiment unterstützen», betont Jenzer. «Die Leute sollen in eine Bar gehen, um den Ingwerer zu trinken. Oder in ein Spezialitätengeschäft.»
Anders Urs und Patricia Streuli. Bis anhin vertrieben sie ihre Obstbrände über Spezialitätengeschäfte in der Region, über ausgewählte Restaurants wie die Zürcher «Kronenhalle», ihren Webshop oder direkt ab Hof. Doch ab September 2018 gibt es zwei Obstbrände der Marke Streulis neu auch in den Zürcher Coop-Filialen: eine Vieille Pomme und eine Vieille Poire. Während aber Urs Streuli für seine Schnäpse grundsätzlich nur Früchte vom eigenen Hof in Horgen ZH verwendet, brennt er die beiden Coop-Produkte aus Äpfeln und Birnen von den benachbarten Höfen der Zimmerberg-Region.
Streuli hat sich diesen Expansionsschritt gründlich überlegt, wie er betont. Aber letztlich überwogen die positiven Faktoren. «Das ist gut für die ganze Landwirtschaft», sagt er. «Und gut für den Erhalt der Hochstämmer und den Abbau der Birnen-Übermengen.» 2003 haben Streulis in fünfter Generation den Hof Rietwies übernommen, hoch über dem Zürichsee gelegen, mitten in einer grünen Oase an diesem sonst zugebauten Seeufer: 300 Hochstämmer, 300 Niederstammbäume und 260 Cassis-Sträucher auf elf Hektaren liefern die Früchte für die Schnäpse.
Mit seinen teilweise seltenen Apfel-, Birnen-, Kirschen-, Zwetschgen- oder Mirabellensorten brennt Urs Streuli 19 klare Obstbrände, zwei Vieilles Poires sowie zwei Gins. Ausserdem produziert er drei Liköre. Sein Sortiment reicht vom «Gelbmöstler» über die «Berner Rose» bis zur «Schwarzen Johannisbeere». Alle Schnäpse sind sortenrein, ungemischt. «Meine Obstbrände sind die Wahrheit», sagt Streuli. Sie seien pur, gradlinig. Passend zu den streng stilisierten, rigiden Etiketten.
Brenner des Jahres
Angefangen zu brennen hat er 2005 – mit dem alten Brennhafen, den sein Ururgrossvater 1894 eingerichtet hatte und der heute im alten «Wöschhüsli» steht. Mittlerweile benutzt er fast nur noch den modernen Brennhafen, den er aber ebenfalls mit Holz heizt – mit Holz von seinem Hof notabene. 200 Flaschen hat er zu Beginn pro Jahr produziert, heute sind es 3000. Und mit dem Coop-Deal dürften weitere 1000 hinzukommen.
Matter-Luginbühl AG, Kallnach und Aarberg BE
Oliver (48) und Nicole (49) Matter, vierte Generation
Produkte: 11 Absinths, 7 Bitter, 4 Crèmes, 4 Liköre, 3 Gins, 3 Whiskys und diverse Obstbrände
Mitarbeiter: 7Jahresproduktion: 140 000 Flaschen
Hauptmarkt: USA
Exportanteil: 80 Prozent
www.matter-spirits.ch
Peppe GmbH, Bern
Philip «Peppe» Jenzer (33) und Simon Borchardt (36), Gründer
Produkte: Ingwerer, Gingwerer
Mitarbeiter: 6
Jahresproduktion: Keine Angaben; bis anhin jährlich steigend
Hauptmarkt: Schweiz
Weitere Märkte: Deutschland, Österreich sowie neu Amsterdam, London und Tokio
www.ingwerer.ch
Streulis Privatbrennerei, Horgen ZH
Urs (52) und Patricia (49) Streuli, fünfte Generation
Produkte: 19 Obstbrände, 2 Vieilles Poires, 3 Liköre, 2 Gins; neu für Coop: 1 Vieille Pomme und 1 Vieille Poire mit Früchten von Nachbarhöfen
Mitarbeiter: Die Familie
Jahresproduktion: 4000 Flaschen
Hauptmarkt: Schweiz
Kein Export
www.streulis.ch
Beim Brennen gehe es aber nicht um Rendite, sagt Urs Streuli. «Es ist Leidenschaft und Lebensqualität – und es ist auch mit einer gewissen Freiheit verbunden.» Und er ergänzt: «Wir machen nur das, was wir cool finden.» Und das kommt offensichtlich auch bei den Profis gut an. Jedenfalls konnten die Streulis mit ihren Obstbränden schon mehrere Auszeichnungen einheimsen, wovon auch die vielen Medaillen zeugen, die im «Wöschhüsli» neben den Brennhäfen hängen. Darunter ist auch jene für den «Brenner des Jahres 2015», die Urs Streuli damals von Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf überreicht worden war.
Von ihrer Schnapsproduktion leben können die Streulis aber nicht – und ohne die tatkräftige Hilfe der ganzen Familie wäre der Betrieb auch gar nicht möglich. Vater Ernst hilft beim Brennen, Mutter Emmi beim Holzhacken, und Ehefrau Patricia ist für die Qualitätskontrolle verantwortlich, weil sie die «beste Nase» hat. Hauptberuflich arbeitet Urs Streuli zu 80 Prozent bei einer Versicherung, seine Frau zu 60 Prozent in der Baukeramikbranche. Die Brennerei ist ein Nebenerwerb, ebenso wie «Streulis Private Kitchen», die Bewirtung von Gästen auf dem Rietwieshof – inklusive Besichtigung der Brennerei, falls gewünscht.
Auch bei Peppe war die Ingwerer-Produktion erst Hobby, dann Nebenerwerb – bevor sich die beiden Gründer voll darauf konzentrieren konnten. Als Erstes gab Borchardt seinen Job in der Geschäftsleitung einer Finanzinvestmentgesellschaft auf, ein gutes halbes Jahr später kündigte auch Jenzer seine Stelle – eigentlich sein «Traumjob» – beim Dachverband für offene Arbeit mit Kindern in der Stadt Bern.
Für die beiden ist denn Peppe nicht nur eine Erfolgsgeschichte, sondern und vor allem auch eine «Freundschaftsgeschichte», wie beide betonen. Eine Freundschaft, die immer wieder herausgefordert wird, gehört ihnen doch die Firma je zu 50 Prozent. Keiner kann den anderen überstimmen, und so müssen sie sich immer einig werden. Und wenn das mal nicht klappt, greifen sie auf den in den Statuten festgeschriebenen Konfliktlösungsvorgang zurück – und werfen eine Münze.