Am 26. April kletterte Aaron Ralston, ein 27-jähriger, erfahrener Bergsteiger, durch einen entlegenen Canyon in Utah. Es war ein schöner, warmer und sonniger Frühlingstag. Als Ralston einen eiförmigen Sandsteinklotz berührte, kam der 400-Kilo-Stein ins Rutschen und klemmte Aarons rechte Hand ein. Verzweifelte Befreiungsversuche nützten nichts, nach einer Stunde wurde die Hand gefühllos.
Ralston hatte niemanden über seine geplante Tour orientiert, und so war die Chance, dass man ihn finden würde, gering. Er hatte schon immer auf die Mitnahme eines Handys verzichtet: «Dieser Stil definiert, was ich tue und welche Risiken ich eingehe.» Nun verfügte er über einen Liter Wasser, einige Candy-Bars, Kletterausrüstung, einen CD-Player und ein billiges Taschenmesser. Ralston erwog vier Optionen: Warten auf Rettung, Bewegung des Blocks mit einem Zugsystem, Wegmeisseln des Sandsteins oder Amputation der Hand. Verschiedene Versuche, den Stein mittels der Kletterausrüstung zu bewegen, scheiterten, ebenso gelang es nicht, mit dem bald stumpfen Taschenmesser den Sandstein wegzufeilen.
Am dritten Tag seiner Gefangenschaft machte Ralston den ersten Versuch, seine Hand abzuschneiden. Die stumpfe Klinge seines Taschenmessers drang aber nicht einmal durch die Haut. Er trank den letzten Schluck Wasser und wartete einen weiteren Tag mit Reflexionen über sein Leben, schöne Erinnerungen, Freunde und Familie. Am 1. Mai, dem fünften Tag der Gefangenschaft, sah Ralston seine letzte Chance zu agieren, bevor er verdursten würde. Er beschloss, seine Armknochen am Handgelenk zu brechen und dabei den Körper als Hebel zu benützen. Nach einigen Vorbereitungen brach zuerst die Elle und Minuten später die Speiche. Dann band Ralston die Blutzirkulation zum Unterarm mit dem Seilstück ab, sah auf die Uhr und begann um 10.35 Uhr, mit dem stumpfen Messer die Haut und die Muskulatur seines rechten Arms an der Bruchstelle der Knochen durchzuschneiden. Um 11.33 Uhr war er frei. «Ich habe den Schmerz bewältigt, indem ich einfach nicht daran dachte, ich war vollständig auf meine Arbeit konzentriert. Gelegentlich musste ich etwas rasten, aber der Gedanke, endlich frei zu werden, begleitete mich durch dieses Erlebnis.»
Sofort kletterte Ralston durch die letzten dreissig Meter des Canyons und fand eine Wasserpfütze. Hier trank er mehrere Liter, machte sich erneut auf den Weg und traf nach drei Stunden einen Ranger. «I cut it off with my pocket knife», sagte er zu ihm.
Manche von uns können erstaunliche Dinge, wenn sie in echte Schwierigkeiten kommen. Antoine de Saint-Exupéry marschierte nach einer Bruchlandung in der libyschen Wüste, wo man eigentlich nur 19 Stunden ohne Wasser überlebt, über 200 Kilometer, bis er einen Beduinen traf. Und Lance Armstrong nahm die Herausforderung eines generalisierten Krebsleidens mit Hirnmetastasen an, wurde geheilt und hat gezeigt, wozu man nach solchen Torturen noch fähig ist. So sind der Taktiken viele.
Was aber bringt die Zukunft für Aaron, den Einarmigen? Da gibt es ermunternde Beispiele: Maurice Herzog kämpfte sich im Sommer 1950 zum Gipfel des 8078 Meter hohen Annapurna. Es war ein gigantischer Egotrip im Amphetaminrausch, der mit schwersten Erfrierungen der Zehen und Finger endete. Natürlich geschah das zum Ruhme Frankreichs. Herzog ist seither Nationalheld und hat es weit gebracht: Er wurde Minister für Jugend und Sport und später Bürgermeister von Chamonix. Und immer noch begrüsst Herzog Versammlungen mit erhobenen Fingerstummeln – die Menge applaudiert gerührt.
Auch um Aaron Ralston braucht man sich nicht zu sorgen. Der junge Mann war auf den Frontseiten aller grossen US-Zeitungen und hat nun einen Agenten. Er plant, im Winter und trotz Lawinengefahr alle höchsten Berge Colorados zu besteigen und erhält natürlich die bestmögliche Handprothese. Später, meine ich, sollte Aaron eine Beratungsfirma gründen und todgeweihte Firmen in scheinbar aussichtslosen Situationen aufmuntern. Im Gegensatz zu manchen Consulting-Gartenzwergen wüsste er nämlich, wovon er spricht.