Nur vier Personen kennen die Zutaten, vor allem aber deren Dosierung. Das Mischen erledigen ausschliesslich Familienmitglieder, die Mitarbeiter wissen nichts: «Für mich sind das alles nur Nummern», sagt Marilina Gelo, die in der Kräuterabteilung arbeitet. Ihre Mutter und ihr Vater haben sich hier in jungen Jahren kennen gelernt, zusammengerechnet waren sie 80 Jahre beim gleichen Unternehmen tätig. «Ich bin ein echtes Averna-Kind», lacht Marilina, die selber bereits fast zwei Jahrzehnte lang Kräuter für den Bitterlikör sortiert – ohne dem Geheimnis seiner Zusammensetzung auf die Spur gekommen zu sein.

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Ihr Arbeitsplatz befindet sich im Erdgeschoss einer antiken Landvilla und duftet verführerisch. «Erba aromatica numero 43» steht auf einem grossen Jutesack. Er enthält ein grünes, staubfein gemahlenes Pulver, das wild und würzig und ein wenig nach Honig schmeckt. Im Sack daneben liegen getrocknete Bitterorangenschalen. Sie sind leicht zu identifizieren, eine Kostprobe genügt. Stück für Stück legt Marilina die spiralförmigen Schalen auf ein Laufband und entfernt alles, was ihr nicht einwandfrei erscheint. Weiter hinten werden sie maschinell gehäckselt, die fingernagelgrossen Stücke fallen in einen neuen Jutesack und kommen schliesslich mit dem grünen Pulver und den anderen rund 40 Bestandteilen der geheimen Mixtur in einen der 6400 Liter fassenden Stahltanks der Averna-Destillerie.

«Natürlich haben wir mehrfach versucht, das Rezept zu verändern, es in unserem Sinne zu optimieren», erzählt Francesco Rosario Averna, der das Familienunternehmen mit seiner Schwester Maria-Luisa und den Cousins Anna-Maria und Francesco Claudio in vierter Generation leitet, «aber es hat nicht funktioniert. Kaum ist das Gleichgewicht der Inhaltsstoffe gestört, wird das Getränk weniger gut.» In einer Vitrine in seinem Büro steht eine Sammlung gefälschter Flaschen – Produkte, die auf den ersten Blick nach Averna aussehen, aber nicht von Averna sind. Sie zeugen von den gescheiterten Versuchen anderer, einen ähnlichen Likör zu produzieren. «Ohne das genaue Rezept geht es eben nicht», sagt Francesco Rosario Averna mit kaum verhohlener Schadenfreude.

Die Avernas leben in Caltanissetta, einem 60000-Einwohner-Städtchen im sizilianischen Niemandsland zwischen Catania und Palermo, dessen imposanter Gerichtshof wegen diverser grosser Mafiaprozesse eine gewisse Berühmtheit erlangte. Die Legende besagt, dass Salvatore Averna, 1802 als Spross einer wohlhabenden Textilhändler-Familie geboren, am Stadtrand von Caltanissetta ein Sommerhaus baute und sich dabei mit den Kapuzinermönchen der benachbarten Abtei Santo Spirito anfreundete. Möglicherweise half er ihnen und unterstützte sie finanziell, jedenfalls schenkte ein gewisser Fra Girolamo ihm die Rezeptur eines Kräuterlikörs. Mönche waren Meister im Brauen von aromatischen Elixieren, die bei Krankheiten, Schmerzen und Depressionen zum Einsatz kamen.

Von der Apotheke an die Bar. Als Don Salvatore 1859 die Rezeptur erhielt und damit erste Versuche machte, wusste er vermutlich nichts von Antonio Benedetto Carpano, der fast 1000 Kilometer weiter nördlich, im fernen Turin, bereits 70 Jahre früher einen «Amaro» erfunden hatte, der als Appetitanreger vor dem Essen getrunken wurde. Der dunkelbraune Likör basierte auf Wermutskraut, einer Pflanzenart, die bislang vor allem von Ärzten und Alchemisten eingesetzt wurde, um Magenbeschwerden und Erschöpfungszustände zu kurieren. In zahllosen Tinkturen versuchte man, die starken Bitterstoffe zu mildern, doch die Lösung kam erst mit der industriellen Verwertbarkeit der Zuckerrübe, sodass der Weg der Wermutweine von der Apotheke zur Bar geebnet war. Weshalb Antonio Benedetto Carpano seinen Wermut «Punt e Mes» nicht auf den eigenen Familiennamen taufte, lässt sich heute nicht mehr nachvollziehen. Alle anderen, die auf den fahrenden Zug aufsprangen, machten ihren Namen zur Marke. So etwa Ausano Ramazzotti, der den gleichnamigen Kräuterlikör 1815 in Mailand kreierte. Oder die Herren Cinzano, Campari und Martini, deren Namen bis heute als Synonym für ihre Getränke genutzt werden. Alle diese Liköre basieren auf destilliertem Alkohol, in dem Aromen gelöst werden. So auch Averna, der einzige unter ihnen, der noch in Familienbesitz ist und seit 143 Jahren am gleichen Ort, nämlich in der schönen ehemaligen Sommervilla von Firmengründer Salvatore Averna, gebraut wird.

«Wir sind eine Art David, der gegen mehrere Goliaths antritt», sagt Francesco Rosario Averna. Er war noch ein Kind, als sein Vater und dessen Brüder 1958 beschlossen, den kleinen Likörbetrieb, den ihr Grossvater aufgezogen hatte, in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln und den Averna in grösserem Stil zu produzieren. Im ersten Jahr betrug ihr Umsatz 80 Millionen Lire – nicht schlecht für einen kleinen Handwerksbetrieb in Sizilien. Heute ist der Jahresumsatz auf rund 200 Millionen Euro geklettert, und der Gruppo Averna konnte sich dank der Übernahme des Piemonteser Schokoladen- und Eiscrème-Herstellers Pernigotti und des Likörfabrikanten Casoni aus Modena deutlich vergrössern. Doch verglichen mit den multinationalen Firmen, welche die Konkurrenzgetränke herstellen, ist das Familienunternehmen noch immer ein Winzling. 80 Mitarbeiter produzieren im Schnitt zwischen sieben und acht Millionen Flaschen pro Jahr, die in rund 60 Länder exportiert werden. «Bei uns geht es nicht nur um den Verkauf, sondern immer noch um das Brand Building», erklärt Signor Averna. «Amari sind in vielen Ländern noch gar nicht richtig bekannt, erst recht nicht die Unterschiede unter ihnen.»

Herrlich duftender Abfall. Der deutsche Jägermeister ist im Geschmack deutlich aggressiver, herber und härter als der liebliche, weiche Averna. Ähnliches gilt für den italienischen Marktführer Fernet-Branca. In den USA etwa sind diese Getränke erst in den letzten Jahren in Mode gekommen, es gibt ein grosses Interesse vonseiten der Barkeeper. «Das müssen wir unterstützen», heisst es bei Averna, «und wir müssen uns mit dem Gedanken anfreunden, Averna als Bestandteil eines Cocktails zu sehen.» In Italien werden Amari traditionell pur getrunken, Francesco Rosario Averna duldet bestenfalls ein paar Eiswürfel in seinem Glas. Seine Frau Luisa ist mutiger und bietet Averna gerne auch als Apéritif mit Blutorangensaft an. «Ganz gleich, womit man unseren Averna kombiniert, sein reiches, warmes Aroma bleibt immer erkennbar», sagt sie.

Worauf basiert dieser unverwechselbare Geschmack nach Süden? «Dazu sage ich nichts», lacht Francesco Rosario Averna. Einige Zutaten sind bekannt: Enzian, Orange, Rhabarber, Sternanis, Zimt, Nelken, Safran. In jeden Stahltank kommen mehrere hundert Kilogramm natürlicher Geschmacksstoffe, die ihre Aromen an den hochprozentig verarbeiteten Alkohol abgeben. Nach ungefähr 40 Tagen pumpt die 34-jährige Simona dell’Utri das Gebräu in eine mächtige Zentrifuge. Auch sie ist mit dem Averna-Kult aufgewachsen, ihr Vater hat 37 Jahre lang im Unternehmen gearbeitet, bis er vor einem Jahr pensioniert wurde. «Aber er kommt immer noch fast täglich vorbei und prüft, ob ich alles richtig mache», erzählt die Tochter.

Die Zentrifuge trennt die festen Bestandteile von der Flüssigkeit – der Abfall, ein intensiv duftender Kräuterbrei, enthält theoretisch das genaue Averna-Rezept, doch niemand scheint sich dafür zu interessieren. Alle Aufmerksamkeit gilt dem zurückgebliebenen Alkohol, der mit Zucker, natürlichem Karamell und Wasser verdünnt und drei Monate lang stehen gelassen wird, damit sich die Zutaten harmonisch verbinden. Erst dann erfolgt die Abfüllung in Flaschen. Insgesamt dauert der Prozess fast sechs Monate. Nicht zuletzt aufgrund der aufwendigen Verarbeitung sehen die Avernas ihr Produkt eng mit einem gesellschaftlichen Phänomen verbunden: Man sitzt mit Freunden zusammen, man hat gut gegessen, man möchte den Abend nett ausklingen lassen, man trinkt einen Averna. Langsam, genussvoll, bewusst – wie einen guten Wein. Averna verführt nicht dazu, ihn zu kippen, für einen schnellen Shot ist er nicht geeignet. «Selbstverständlich betrinkt man sich nicht damit», sagt Francesco Rosario Averna, «dafür gibt es zum Glück sehr viel effizientere Getränke als unseren milden Likör.»