Das Unangenehme zuerst: Die «MS Europa» ist nicht unter 825 Franken zu haben. Pro Tag. Pro Person. Das ist der Preis für die kleinste Kabine bei Doppelbelegung. Wer im «Berlitz Cruise Guide 2005», der Bibel der Kreuzfahrer, nachschlägt, kann beruhigt aufatmen: Das Flaggschiff der deutschen Reederei Hapag-Lloyd erhielt dafür bereits zum fünften Mal in Folge und als einziges Kreuzfahrtschiff überhaupt das begehrte Rating «5 Sterne plus». Neben der Maximalbenotung und dem Prädikat «utterly exclusive» findet sich der entscheidende Hinweis für alle, die auf eine gewisse Privacy auch auf hoher See nicht verzichten wollen: «Weltweit grösstes Platzangebot pro Passagier.»
Kurz bevor man diese Luxusyacht erstmals erblickt und beispielsweise – wie in unserem Fall – in Rio de Janeiro an Bord geht, um in acht Tagen entlang der südamerikanischen Küste nach Buenos Aires zu touren, überkommt einen die diffuse Angst, die «MS Europa» könnte vielleicht gar nicht so herausragend sein, wie es das Urteil kritischer Experten nahe legt. Ist alles eine Erfindung der Tester? Sind all die schönen Werbefotos nur inszeniert?
Die Angst ist unbegründet. Es stimmt alles. Die Yacht strahlt mit der Szenerie von Rio um die Wette und sieht wirklich noch aus wie ein richtiges Schiff, 198 Meter lang und 24 Meter breit. An Bord wirkt alles luftig und elegant, es gibt kein neureich-prahlerisches Gehabe, nichts Aufgebrezeltes, keine Gimmicks wie Kletterwand oder Schlittschuhbahn. Das Interieur glitzert zwar hier und da auch nicht weniger als in einem exklusiven Ferienresort, doch es dominiert der unaufdringlich gute Geschmack in zeitloser Schlichtheit – für eine hanseatische Schifffahrtsgesellschaft das einzig passende Ideal.
Alles auf der «MS Europa» steht in harmonischem Verhältnis zum Ganzen, und alles ist bis ins Detail so gepflegt, dass man trotz Baujahr 1999 glaubt, auf Jungfernfahrt zu sein. Platz gibt es mehr als genug an Bord, nie entsteht der Eindruck, das Schiff sei zu voll, weder im Theatersaal noch im Lido Café mit seinen schönen Teaktischen unter Sonnensegeln.
Die 204 Aussenkabinen haben 27 und mehr Quadratmeter Fläche, meist auch eine private Veranda – und werden zu Recht Suiten genannt. Jede davon verfügt über je einen separaten Wohn- und Schlafbereich, einen begehbaren Kleiderschrank, ein modernes Infotainment-System mit kostenlosem E-Mail-Zugang (jeder Passagier erhält an Bord seine eigene Adresse) sowie ein Bad. Auf dem Schreibtisch stehen frische Blumen und Obst.
Das Dinner im Hauptrestaurant begeistert mit einfallsreichen Gerichten aus erstklassigen Produkten. Auch in den beiden Spezialitätenrestaurants Oriental und Venezia bewegt man sich im kulinarischen Schlaraffenland. Nur bei der Tischwahl im Hauptrestaurant hört die Flexibilität auf: Setzt man sich an einen falschen Platz, rennen einen die Stammtischinhaber förmlich um.
Die Restaurantkellner begrüssen schon am ersten Abend alle mit Namen und bedienen stets gut gelaunt und professionell. Überhaupt ist die junge, 264-köpfige Crew motivierter und besser organisiert als in jedem Schweizer Fünfsternehotel – von der Room-Stewardess bis zum Barmann trifft man höchstens mit viel Pech auf ein unfreundliches Gesicht.
Unterhaltung rund um die Uhr
Die «MS Europa» ist klassenlos, doch bilden die Passagiere unübersehbar zwei Gruppen: solche, die sämtliche Traumschiffe zu kennen scheinen (siehe Nebenartikel «Traumschiffe: Diven der Weltmeere») – und die anderen. Die beiden Gruppen halten sich etwa die Waage. Das Publikum besteht vorwiegend aus deutschsprachigen, zahlungskräftigen Gästen. Die rund fünfzigjährigen Paare dominieren, aber auch einige Honeymooner sowie betuchte Jungfamilien mit Kindern sind präsent. Für ein deutsches Schiff dieses Kalibers ist die Atmosphäre bemerkenswert locker. Die Kleiderempfehlung ist sportlich-elegant, nicht einmal an Gala-Abenden herrscht Smokingpflicht.
Das Spa bringt nach fernöstlichen Philosophien Körper, Geist und Seele in Einklang, zum Beispiel bei einer Lomi-Lomi-Massage oder einem Bad in Lotusblüten-Extrakten. Die 180 Meter Jogging-Parcours auf dem umlaufenden Lido-Deck, der 20-Meter-Pool, die täglichen Pilates- und Gymnastikstunden, der Golfsimulator sowie der Fitnessbereich bieten ausreichend Möglichkeiten, die hohen Ambitionen des Küchenchefs auszugleichen.
Die rund um die Uhr geöffnete Bibliothek, das Theater mit täglichen Shows und Konzerten, die sieben Bars und drei Lounges sowie das Auditorium für Vorträge und Kurse garantieren Unterhaltung und Entspannung in anspruchsvollem Rahmen. So lädt die Clipper Lounge zu später Stunde mit den «Late Night Specials» dazu ein, die Nacht zum Tag zu machen, und manchmal zaubert die Crew mit einer Teakholzabdeckung über dem Pool eine Bühne für Veranstaltungen unter dem Sternenhimmel hervor. Im Tagesprogramm sind auch Überraschungen eingebaut: Ausflüge mit motorisierten Schlauchbooten oder kulinarische Events.
Zum wichtigen Verkaufsfaktor beim deutschsprachigen Publikum entwickelt sich je länger, je mehr die Qualität der Landausflüge. Im Gegensatz zu den Amerikanern und Engländern, die vor allem das Leben an Bord geniessen wollen, wählen Deutsche und Schweizer eine Kreuzfahrt oft nach der Route aus. Laut Douglas Ward, dem Herausgeber des «Berlitz Cruise Guide», bietet die «MS Europa» mit jährlich rund 150 angelaufenen Häfen den interessantesten Fahrplan um die Welt an. Das verpflichtet: Die Passagiere werden täglich mit profunden Diavorträgen über die angelaufenen Destinationen orientiert.
«QM2»: Hightech und Nostalgie
Während die «MS Europa» dem Konzept «Small is beautiful» folgt, setzt die «Queen Mary 2» auf «Bigger is better». Ein schwimmender Superlativ und das grösste je hergestellte bewegliche Objekt: Die «Titanic» würde dreimal reinpassen, die «MS Europa» sechsmal. 2620 Passagiere und 1250 Crewmitglieder befördert das 800 Millionen Dollar teure Schiff, das mehr einem Hotelwolkenkratzer als einem schnittigen Ozean-Liner gleicht.
An Bord braucht man gutes Schuhwerk, um vom einen Ende zum anderen zu gelangen – die «QM2» ist länger als vier aneinander gereihte Jumbo-Jets. Das Gesamtangebot lässt jedes Grandhotel schäbig aussehen. Es locken 14 Bars, ein Theater mit 1100 Sitzplätzen und aufwändigen Broadway-Inszenierungen, tägliche Tanz-Events im grössten Ballsaal auf See, eine Bibliothek mit 8000 Büchern, zahlreiche Boutiquen, eine Zigarrenlounge und ein Jazzclub, ein reichhaltiges Sportangebot, ein Casino und ein Planetarium. Professoren der Universität Oxford halten Vorträge und leiten Workshops, im Wintergarten wird Teatime zelebriert. In der sechs Decks hohen Grand Lobby mit geschwungener Treppe spielt ein Pianist, während zwei gläserne Lifts auf und ab gleiten.
Kaum ein anderes Schiff bietet seinen Passagieren so viele Chancen zum modischen Aufbrezeln. Nirgends sieht man so wenige Ausnahmen vom Dresscode, und so mancher Passagier lässt seinen ganzen Einfluss oder Charme walten, um zu den Auserwählten zu gehören, die einmal am Tisch des Kapitäns dinieren dürfen.
Die «QM2» gibt sich offiziell zwar klassenlos, macht den Zutritt zu manchen Restaurants aber dennoch abhängig von der gebuchten Unterkunftskategorie, von denen es 25 gibt. Der Grossteil der Passagiere speist im Restaurant Britannia (1347 Plätze), das sich über drei Decks erstreckt und zwei Seatings um 18 und 20.30 Uhr umfasst. Der «Princess Grill» (178 Plätze) ist den Bewohnern der Juniorsuiten vorbehalten, die neidvoll in den «Queen’s Grill» (200 Plätze) blicken, wo kulinarische Sternstunden exklusiv für Suitengäste geboten werden. Das halbe Dutzend weiterer Restaurants ist auch für Holzklasse-Passagiere zugänglich, bei der Queen’s Lounge hält man die feinen Traditionen des Kastenwesens wiederum in Ehren.
Der Canyon Ranch Spa Club steht für 1850 Quadratmeter Wellness-, Fitness- und Beautyanlagen, dazu fünf Swimmingpools. 50 Mitarbeiter stehen bereit. Wenn die letzten Nachtschwärmer aus der Disco kommen, begegnen sie den ersten Joggern auf dem Promenadendeck.
Die «Queen Mary 2» macht den schwierigen Spagat zwischen Tradition und Hightech, zwischen klassischem Pomp und Luxus des 21. Jahrhunderts. Kein Mensch würde auf Baujahr 2004 tippen, wenn er die Design-Orgie im mondänen Retro-Look unbefangen betrachtete. Die Reederei Cunard beschwört das goldene Zeitalter der Kreuzfahrt herauf, pocht auf das Flair eines Grandhotels der zwanziger Jahre und positioniert den Dampfer als Traum für unverbesserliche Romantiker und Menschen, die den «Titanic»-Film schon fünfmal gesehen haben.
Worin die Königin der Meere den Grandhotels nicht das Wasser reichen kann, ist in der Grösse der meisten Zimmer: Die Zweibettkabinen sind zwischen 18 und 23 Quadratmeter klein, dafür aber funktionell elegant gestaltet und mit modernster Kommunikationstechnologie ausgestattet. Jenes «ganz besondere Gefühl von Freiheit», das in der Werbeprosa zelebriert wird, kommt erst in den Juniorsuiten (35 Quadratmeter) und Suiten (47 bis 209 Quadratmeter) zum Tragen.
Während die «MS Europa» ihren Weg über die sieben Weltmeere macht, fährt die «QM2» von April bis November 26-mal die Transatlantik-Passage von Southampton nach New York oder zurück. Die Fahrten dauern jeweils sechs Nächte. Im Winter kreuzt die «QM2» durch die Karibik. Eine sechstägige Kreuzfahrt mit Flugarrangement kostet zwischen 1330 (Innenkabine) und 21 860 Euro (Grand-Duplex-Suite) pro Person.
Europäern bietet die transatlantische Route den Vorteil, dass auch andere europäische Passagiere an Bord sind, während auf den Karibikkreuzfahrten das Klischee von den nicht zu überhörenden Amerikanern bestätigt wird. Dem inflationären «How are you?» ist noch leicht mit einem «Fan-tas-tic!» beizukommen. Schwerer mag zu verkraften sein, dass die auf 22 Grad runtergekühlte Innentemperatur als Gütezeichen gilt, dass man für manche Dienstleistung lange anstehen muss oder dass bei aller routinierten Freundlichkeit kaum ein persönliches Flair möglich ist.
Dem Glamour der «Queen Mary 2» tut dies keinen Abbruch: Das Schiff ist seit der Jungfernfahrt vor einem Jahr fast ständig ausgebucht. Laut Prognosen wird sich das weltweite Passagieraufkommen für Kreuzfahrten in den nächsten zehn Jahren verdoppeln. Die amerikanische Carnival Corporation, zu der Cunard gehört, hat derzeit mehr als ein Dutzend Schiffe auf Kiel gelegt. Entgegen der Entwicklung im internationalen Tourismus vermelden auch andere grosse Reedereien bemerkenswerte Zuwachsraten, und die Cruise-Industrie tut mit spektakulären neuen Schiffen und ausgeklügelten Rabattsystemen alles, damit dies auch so bleibt. Tüchtig wird an einem Image gefeilt, das Reisen auf hoher See neu positionieren und die Schwellenangst vor Kreuzfahrten beim immer jünger werdenden Publikum abbauen soll. Auch Schweizer folgen vermehrt ihren ozeanischen Gefühlen und gehen an Bord eines Kreuzfahrtschiffs. «In diesem Jahr wird wohl erstmals die Marke von 70 000 Passagieren erreicht», prognostiziert Hans Hunziker, intimer Kenner der Branche und Geschäftsführer des auf Kreuzfahrten spezialisierten Reisebüros The Cruise Line (siehe Nebenartikel «Auskunft und Buchung: The Cruise Line»).
Die Lust auf Meer kommt nicht von ungefähr: Auf Kreuzfahrtschiffen reist man bequem und auf vertrautem Boden, geniesst zugleich Wind, Weite und das Verwöhnprogramm eines Luxushotels. Auch coole Mitteleuropäer geben plötzlich die Losung aus: «Es ist fan-tas-tisch!»
Spätestens beim Farewell-Dinner sind alle eine grosse Kreuzfahrtfamilie. Und die Gespräche kreisen nur um ein Thema: Auf welchem Schiff sieht man sich wieder?