Der Galeristenberuf entfaltet zu Messezeiten anachronistische Dimensionen. Oder könnte man sich einen anderen Berufszweig vorstellen, in dem der Firmeninhaber für allseits verfügbare, aus dem Internet heruntergeladene Bilder, so genannte Joint Photographic Experts Groups (JPEG), riesige Holzkisten anfertigen lassen würde, um damit monumental vergrösserte, grob aufgepixelte, hoch versicherte Fotografien über den Atlantik transportieren zu lassen?

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Victor Gisler, mit Luigi Kurmann Besitzer der Galerie Mai 36, verfrachtet die JPEG des deutschen Fotokünstlers Thomas Ruff über den grossen Teich, wo er sie an seinem Stand an der «Art Basel Miami Beach» für rund 80 000 Dollar anbieten wird. Die monumentalen Fototableaus messen bis zu 1,88 mal 3,03 Meter und werden am Stand nicht nur wegen ihrer Grösse inmitten von Werken von Stefan Balkenhol, John Baldessari und Lawrence Weiner eine wichtige Marke setzen. Sie sind auch von berückender Schönheit und haben Widerhaken. Den flüchtigen Datenströmen entrissen, lassen sie Vulkanausbrüche oder tsunamiversehrte Gebiete durchschimmern und fragen gleichzeitig nach dem Wirklichkeitsgehalt der Bilder.

Doch für tiefer gehende Kunstbetrachungen dürfte das adrenalingeschwängerte Messetreiben in Miami Beach wenig Raum bieten. Denn wenn am 1. Dezember die «Art» im Art Deco District öffnet, ist der Galerist eher eine Mischung aus Handlungsreisendem und Partylöwen.

Mit der Globalisierung des Kunstmarkts sind die Messen für international orientierte Galerien überlebenswichtig geworden. An der Messe fädeln die Kuratoren Ausstellungen ein; die Trustees kaufen Werke für ihre Museen an. Vor allem aber ziehen Sammler und Kunstinvestoren hungrig von Messe zu Messe, um ihre Kollektionen zu vergrössern. Der Grossteil des Jahresumsatzes wird da gemacht.

Der Auftritt der Galerie Mai 36 in Miami ist so etwas wie die Verkörperung der Idee der «Art Basel Miami Beach». Hat der umtriebige Messedirektor, Sam Keller, nicht von Beginn weg Miamis Status als Tor zum südamerikanischen Kunstmarkt betont? Die Zürcher Galerie kooperiert mit der New Yorker Galerie Brooke Alexander und Pepe Cobo aus Madrid. Am Stand wird fliessend spanisch parliert – auch von Gisler –, und Altmeister des Minimalismus und der Konzeptkunst wie Donald Judd, John Baldessari und Lawrence Weiner treffen auf spanische Jungmeister wie Juan Muñoz und Cristina Iglesias, subsumiert unter dem leichtfüssigen Ausstellungsthema «Travel». Damit rücken auf 120 Quadratmetern der amerikanische, der spanischsprachige und der europäische Kunstmarkt einander näher. Auch ökonomisch gesehen ist die Kooperation ein kluger Schachzug: Schon für einen mittelgrossen Messestand muss mit Gesamtspesen von 60 000 Dollar gerechnet werden.

Der schnelllebige Kunstmessebetrieb ist, das findet selbst Victor Gisler, Mitglied des Selektionskomitees der «Art» in Basel, von zwiespältiger Natur. «An der Messe kann sich der Sammler zwar in kürzester Zeit über ein konzentriertes Angebot informieren. Doch Messen fördern den Herdentrieb. Sie sind zu Events geworden.» Das Kaufverhalten habe sich dementsprechend markant verändert. «Die jungen Käufer kaufen nach Marke, nach Wiedererkennungseffekt.» Es formen sich, was die deutsche Kunstkritikerin Isabelle Graw «instant collections» nennt, gleich bestückte, im Messe-Adrenalinschub erworbene Sammlungen. Laut Gisler ist viel neues, unwissendes Geld im Markt. Andererseits ist die jüngere, vorwiegend amerikanische und äusserst ausgabewillige Käuferschicht auch daran beteiligt, jetzt die nächste Generation von Klassikern zu küren. Nach den Pop-Art-Künstlern sind dies Künstler wie Richard Prince und Jean-Michel Basquiat, für die bereits Millionen ausgegeben werden.

Der Messeboom bringt nicht nur Galeristen und Käufer unter Zugzwang, sondern auch Künstler. Von der früheren Praxis der Galeristen, die besten Stücke für die Messe auf die Seite zu legen, kann keine Rede mehr sein. Stattdessen wird pünktlich auf die Messe hin produziert – mit Folgen. «Die Gefahr besteht, dass die Messe für die Kunst eine Parallelwelt schafft, die immer weniger mit dem zu tun hat, was in den Institutionen, den Museen, passiert», sagt Gisler.

Die Galerie Mai 36, kürzlich von der Zeitschrift «Art Investor» zum drittwichtigsten internationalen Messeplayer gekürt, ist seit 1988 im Kunstgeschäft. Früh stellte sie in der Schweiz die amerikanischen Text- und Bildkünstler Lawrence Weiner und John Baldessari aus sowie Vertreter der Picture-Generation, Les Levine, Cindy Sherman und Jeff Wall. Dann kamen die Fotokünstler der Becher-Schule, Thomas Ruff und Andreas Gursky, die unsere Verstrickung in Konsum, Masse und Mediatisierung mit nüchterner Fotografie festhielten und zu Auktionslieblingen wurden.

Die Galerie, die neuerdings den Nachlass des Schweizer Konzeptkünstlers Rémy Zaugg betreut, hat die Sammlung Ringier, die sich in ihren Anfängen an der Text-Bild-Kunst orientierte, genauso bestückt wie die Fotokunstsammlung der UBS. Gisler, ein HWV-Ökonom, sieht Mai 36 als «Boutiquengalerie», die international vernetzt, aber schlank operiert und sich dadurch von den grossen Playern wie Hauser & Wirth und Haunch of Venison abhebt. Er glaube nicht an Grösse, sondern an kleine, vernetzte Strukturen.

Ein eigenes ästhetisches Koordinatensystem über die zeitgenössische Kunst auszulegen und Entwicklungslinien wiederzugeben, gehört für Gisler noch immer zu seiner Hauptarbeit. Aber solange der nord- und der südamerikanische Markt expandieren und solange selbst Schweizer Sammler lieber für ein paar Tage nach Miami fliegen, als an einem kalten Samstagnachmittag an die Rämistrasse in Zürich zu kommen, so lange wird sich der Weg nach Miami lohnen.

ArtTalk

Franz Gertsch, der Schweizer Fotorealist (und Künstlerfavorit des Disetronic-Gründers Willy Michel) erhält zum 75. Geburtstag eine grosse Retrospektive geschenkt. Zu entdecken ist ein scharfsichtiger Interpret medial vermittelter Realität.

Kunstmuseum Bern und Museum Franz Gertsch in Burgdorf, bis 12. März 2006.