Eines der bestgehüteten Geheimnisse im Kunstbetrieb ist, dass vieles von dem, was heute an Kunstmessen zu fünfstelligen Summen feilgeboten wird, schon im nächsten Jahrzehnt in die Bedeutungslosigkeit verschwinden wird. Philippe Segalot, in New York lebender, einflussreicher Art Consultant, ist sogar der festen Überzeugung, dass nicht mehr als zehn, fünfzehn Top-Künstler «überleben» werden (von B wie Jean-Michel Basquiat bis S wie Cindy Sherman). Diese Aussage ist insofern von Bedeutung, als der Ex-Christie’s-Mann als enger Berater des Grosssammlers François Pinault erheblichen Einfluss auf das Geschehen am Kunstmarkt hat.
Wie geht der Kunstfrischling also auf dem internationalen Kunstmarkt vor? «In seinem ersten Jahr in der Kunstszene sollte man gar nichts kaufen», rät der französische Galerist Emmanuel Perrotin, der grosse, kommerzielle Kunsträume in Paris und Miami unterhält. Ausserdem, so Perrotin, solle man «das Nachdenken über komplexere Universen forcieren» und sich vor «Kunstberater-Scharlatanen» in Acht nehmen. Aber ist denn Markterfolg gleich Kunsterfolg? Kaum: Die Londoner Top-Galeristin Sadie Cole ruft in Erinnerung, dass Kunst und Kunstmarkt zwei Paralleluniversen seien.
Das alles steht im soeben erschienenen Buch «Collecting Contemporary», verfasst vom New Yorker Sammler Adam Lindemann – und damit erwähnt er nicht die einzigen Ungereimtheiten des Kunstgeschäfts.
Denn der Kunstbetrieb hat für den interessierten Laien die Logik eines Fischbasars in einem marokkanischen Souk. Wem welcher Fisch warum und zu welchem Preis zugeschlagen wird, entzieht sich weitgehend seiner Kenntnis. Warum wird der Mann, der sich gerade erst neben Sie gestellt hat, vor Ihnen bedient, wo Sie doch schon zwanzig Minuten gewartet haben? Ist der herzlich Begrüsste, der plötzlich die volle Aufmerksamkeit des Käufers auf sich zieht, etwa der Vetter des Händlers? Und warum darf er den letzten fetten Seewolf nach Hause tragen und nicht Sie? Und warum so billig?
Ähnliche Fragen stellen sich all die Uneingeweihten, die in letzter Zeit voller Appetit auf Kunst das Parkett des Kunstmarktes gestürmt haben. Warum gibt es Ausstellungen, die bereits vor ihrer Eröffnung ausverkauft sind? Weshalb haben Sie keinen, sagen wir, Urs Fischer erhalten, der Mann, der mit der Galeristin ausgiebig smalltalkt, hingegen schon?
Dass der Kunstmarkt genau genommen gar kein Markt ist – jedenfalls fundamental anders funktioniert als andere Luxusmärkte wie der Gold-, der Juwelen- oder der Weinhandel –, darüber haben schon unbestechliche Sozial- und Wirtschaftsforscher geschrieben. Neu ist, dass sich nun auch die Player wie hier der New Yorker Sammler Adam Lindemann der vielfältigen Phänome annehmen und das Abc des Kunstmarktes zu ergründen suchen – im Gespräch mit Galeristen (Larry Gagosian, Iwan Wirth, Jeffrey Deitch usw.), Auktionsexperten (Simon de Pury, Tobias Meyer), Art Consultants (Thea Westreich, Frank Fletcher, Philippe Segalot) und Kuratoren. Neben vielen Plattitüden entlockt Autor Adam Lindemann den Global Playern des Kunstbetriebs erstaunlich tiefe Einsichten ins Geschäft mit der Kunst. Ein süffiges Buch mit Schlüssellocheffekten.
Die Fragen drehen sich um die eklatante Ausweitung des Kunstmarkts der letzten sechs Jahre, ums Sammeln, um den Nutzen von Kunstberatern, den Boom der Messen, die Preisgestaltung und darum, wer von den heute erfolgreichen Künstlern das Jahrzehnt überdauern wird. «Viele werden vergessen sein, und ihre Preise werden sinken», so Philippe Segalot. «So funktioniert der Markt, denn am Ende, und das sollte sich jeder klar machen, bleiben nicht so viele Genies und nicht so viele grossartige Künstler übrig.»
Wer denn unbedingt ein Werk eines vielleicht auch in zwanzig Jahren noch wichtigen Künstlerstars erwerben möchte und dazu auch noch die nötigen Ressourcen besitzt, wird auf die Probe gestellt. «Ich denke, dass es Teil der Persönlichkeit eines neuen Sammlers sein sollte, kämpfen und gewinnen zu wollen», meint etwa die angesehene New Yorker Galeristin
Marianne Boesky. «Es ist doppelt so eindrucksvoll für die Nachbarn, wenn man einen Damien Hirst hat, weil man ihn erstens überhaupt vom Galeristen bekommen hat und man ihn sich, zweitens, leisten kann.»
Merke: Der Kunstkauf ist ein Gesellschaftsspiel. Nur weil Sie sich einen
Damien Hirst im Wohnzimmer aufhängen wollen, heisst es noch lange nicht, dass Sie auch einen bekommen. Denn einfach nach London fliegen, in die Galerie White Cube am Hoxton Square hineinspazieren und sich einen Hirst aussuchen, das geht nicht. Dafür gibt es vor allem zwei triftige Gründe. Erstens: Es gibt eine Warteliste, weil die Nachfrage das Angebot weit übersteigt. Der Grund ist nicht nur, dass der Künstler vielleicht bloss zehn Werke im Jahr produziert, sondern er liegt auch darin, dass sich der Kunstmarkt und damit die Anzahl Sammler die letzten sieben Jahre vervielfacht haben. Zweitens: Der Galerist muss sich sehr genau aussuchen, wem er ein Werk verkaufen will. Denn er wird zum Treuhänder des ideellen und des ökonomischen Wertes des Kunstwerkes. Deshalb wird der Galerist es nicht Ihnen, sondern zuerst demjenigen verkaufen, der es einem Museum schenkt. Dann kommt jener an die Reihe, der die Galerie während der letzten Jahre kräftig unterstützt hat. Schliesslich jene, die kraft ihres Namens als Sammler den Diskurswert des Künstlers steigern und seinen Namen in der (Kunst-)Welt festigen.
«Der Grund, warum wir möchten, dass ein Bild an ein Museum geht, ist, dass wir so etwas wie ein Fundament für eine unterbewertete Firma legen wollen. Es hebt das Profil und das Prestige des Künstlers», sagt Marianne Boesky.
So wird der Wert der «Produkte» hergestellt über Bedeutungszuweisung und
Legitimationen. Ein ganzes Getriebe, bestehend aus Kuratoren, Museen, Kritikern, Sammlern und Galeristen, ist daran beteiligt, dieses Rad am Drehen zu halten. «Der Wert eines Werkes ist ein reines Übereinkommen zwischen informierten Personen», meint Marc Glimcher, New Yorker Galerist der legendären PaceWildenstein Gallery in New York und Sohn von deren Begründer. «Es ist der höchste Ausdruck von menschlicher Ökonomie. (…) Und daher ergibt es Sinn, dass Kunst die teuerste Sache der Welt ist.»
Die grosse Furcht liegt somit bei allen Playern, dass ein Künstler von dieser Gruppe, den Opinion Leaders, in die Bedeutungslosigkeit verabschiedet werden könnte. Gerade bei jungen Vertretern der Gegenwartskunst ist das Risiko schier unendlich gross. Schon allein darum, weil der Kunstboom unendlich viele Shooting Stars produziert.
ArtTalk
Wahrnehmungstraining anhand von kinetischen Objekten, Installationen, Videos und Gemälden von künstlerischen Schwergewichten wie Bridget Riley, Nam June Paik und Markus Raetz, von den vierziger Jahren bis heute.
Adam Lindemann, «Collecting Contemporary», Taschen Verlag, 42 Franken. Das Buch ist in Deutsch, Englisch, Französisch und Spanisch erhältlich.
«The Expanded Eye. Sehen – entgrenzt und verflüssigt.» Kunsthaus Zürich, bis 3. September.