Über vieles, was heute als Kunst daherkommt, lässt sich diskutieren. Einiges stimmt nachdenklich, und manches ist auch einfach zum Lachen. So werden kreative Dilettanten mitunter in den Himmel gelobt und die wahren Talente links liegen gelassen. Wirklich spannend wird es jeweils dort, wo einem bei der Beschäftigung mit dem Werk eines zeitgenössischen Künstlers das Wort buchstäblich im Hals stecken bleibt.

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Einer, der es regelmässig schafft, sein Publikum sprachlos zu machen, ist der 39-jährige Installationskünstler Christoph Büchel. Im Jahr 2000 tauchte sein Name erstmals in der BILANZ-Rangliste der wichtigsten Schweizer Gegenwartskünstler auf. Inzwischen ist dieser rebellische Querdenker und Virtuose des arrangierten Chaos zu einem international gefeierten Star geworden. Im diesjährigen Rating belegt Büchel denn auch den hervorragenden zweiten Rang. Noch nie hat es ein Schweizer Nachwuchskünstler schneller aufs Podest geschafft. Für das seit 1993 in der vorliegenden Form publizierte Popularitäsbarometer der BILANZ markiert Büchels Aufstieg eine Art Zäsur, verweist er doch Ikonen der Szene wie Fischli/Weiss, John Armleder und Pipilotti Rist erstmals auf die Ränge (siehe Ranking).

Büchel ist von seiner Arbeit besessen, und er liebt die Provokation. Bekannt geworden ist der Basler durch spektakuläre Rauminszenierungen, die an unsere verdrängten Phobien und Neurosen appellieren. So baute er etwa die Behausung einer fiktiven Person nach, die nichts wegwerfen kann, oder liess im Ausstellungssaal eine Schlammlawine ins gutbürgerliche Wohnzimmer rollen. Voriges Jahr sorgte Büchel mit der detailgetreuen Nachbildung eines Auffanglagers für Asylbewerber für Furore (siehe Bild unten). Für den Galeristen Iwan Wirth, der den aufstrebenden Kunstrebellen unter seine Fittiche genommen hat, ist der Fall klar: Büchel repräsentiere derzeit «eines der wichtigsten Energiefelder der Szene». «Auf den Einfällen, die ihm an einem Vormittag kommen, bauen andere eine lebenslange Karriere.»

Bereits plant der Installations-Maniac weitere Attacken auf die Psyche seiner Fangemeinde. Auf der Internetplattform Ebay hat Büchel eine ausrangierte Boeing ersteigert, die er jetzt in der Wüste von New Mexico an einem geheimen Ort verbuddeln will. Selbst mit Autoritäten wie der Bush-Administration legt er sich an: «Guantánamo Bay» heisst Büchels neuestes Projekt, für das er auf das Einverständnis von Kubas Staatspräsident Fidel Castro zählt. Gemeinsam mit Künstlerkollege Gianni Motti (Rang 11) hat er den alternden Revolutionsführer unlängst aufgefordert, die von den Amerikanern als exterritoriale Strafkolonie zweckentfremdete Bucht von Guantánamo für ein Kulturprojekt zur Verfügung zu stellen. An der Kunstbiennale in Venedig (ab 12. Juni) wird Büchel, sekundiert vom Wahlgenfer Motti, sein bisher wohl politischstes Projekt in einem zwölf Meter langen Schiffscontainer präsentieren.

Die wachsende Popularität von raumgreifender Installation und subversiver Aktionskunst, wie sie im diesjährigen Rating ihren Niederschlag findet, hat wohl auch mit der kontinuierlichen Verjüngung unserer Expertenjury zu tun. So haben wir das Kollektiv der Sachverständigen auch 2005 einer partiellen Blutauffrischung unterzogen. 37 Kunstsachverständige haben mit der Nennung ihrer persönlichen Favoriten zur Erstellung der Rangliste beigetragen (siehe «Die Jury» unten). Das Resultat dieser Umfrage wird auch heuer wieder für Diskussionen sorgen. Kunsthändler Iwan Wirth – früher selbst in der Jury – bringt die Hassliebe gegenüber dem Expertenpanel der BILANZ auf den Punkt: «Alle schimpfen darüber, doch alle brauchen es.»

An die Spitze der Top 50 gesetzt hat sich in diesem Jahr der Ostschweizer Konzept- und Performancekünstler Roman Signer. Mit einer Konsequenz und Beharrlichkeit, die in der Kunstszene ihresgleichen sucht, erforscht der Appenzeller seit Jahrzehnten die Aggregatzustände und kämpft dabei systematisch gegen Luftwiderstand, Zentrifugalkraft und Wellenschlag. Bei seinen Aktionen, die er fotografisch und auf Video dokumentiert, jagt Signer Aktenkoffer durch den Eiskanal, bringt Spazierstöcke zum Tanzen oder katapultiert Fahrräder durch die Luft. Seinem ungebrochenen Spieltrieb und seiner Variationsfreude hat es der 66-jährige Kunst-Solitär zu verdanken, dass er für die hiesige Kunstszene zu einem Massstab geworden ist, an dessen inhaltlicher Stringenz sich eine ganze Generation von Nachwuchstalenten orientieren kann.

«Signer ist in der Schweiz mit keinem anderen Künstler vergleichbar», bezeugt der Basler Galerist Diego Stampa. Und Iwan Wirth, der seine Geschäfte neuerdings von London aus führt, zählt das Ostschweizer Kunsturgestein bereits zu den «europäischen Klassikern». Dies, obwohl der bescheiden gebliebene Beschleunigungstechniker im Gegensatz zu manch jüngerem Berufskollegen in den USA noch immer ein Geheimtipp ist.

Ganz anders der seit Jahren in New York lebende Christian Marclay (Rang 12). Im Werk des welschen Konzeptkünstlers, der sich auf John Cage und Marcel Duchamp beruft, dreht sich alles um Musik – von Collagen aus alten Schallplatten-Covers über Soundexperimente bis hin zum klassisch anmutenden Bronzeabguss von des Künstlers eigenem Ohr. Zu den Namen, die im Ranking einen Sprung nach oben gemacht haben, gehören auch Andres Lutz und Anders Guggisberg (Rang 17). Dem Künstlergespann gelingt es immer wieder, die bürgerliche Alltagskultur mit skurillen Einfällen und Persiflage zu unterwandern. Auf Rang 21 vorgestossen ist die aus Teheran stammende Fotografin Shirana Shabazi, deren Arbeiten überraschende Einblicke in die iranische Gesellschaft von heute vermitteln. Fast ebenso viele Tabellenplätze gut gemacht hat die Genfer Objektkünstlerin Mai-Thu Perret (Rang 26), die sich damit ebenfalls unter die Aufsteiger des Jahres einreiht.

Aus dem Stand auf Rang 32 geschafft hat es der als «Mietschläfer» bekannt gewordene Performancekünstler San Keller, der vor zwei Jahren schon einmal in der Rangliste aufgetaucht war. Zum ersten Mal unter den 50 wichtigsten Gegenwartskünstlern des Landes sind die in Berlin tätigen Frédéric Moser und Philippe Schwinger, deren gemeinsames Schaffen um die verführerische Kraft von Scheinidentität und Schauspiel kreist (Rang 45). Neu im Feld ist auch der Basler Manor-Preis-Träger Markus Müller, bei dessen installativen Arbeiten es sich um perfekte Fakes der Wirklichkeit handelt (Rang 49).

Gegenüber einer wachsenden Zahl von Nachwuchstalenten, die mit ausgefallenen Konzepten oder medienwirksamer Selbstbespiegelung auf sich aufmerksam machen, scheinen es Künstler, die sich bei ihrer Arbeit auf klassische Hilfsmittel wie Farbpinsel, Spraydose oder Kohlestift stützen, momentan eher etwas schwierig zu haben. «Man muss inzwischen fast alles im zeitgenössischen Bereich zur Konzeptkunst rechnen», erklärt die Leiterin der Zürcher Kunsthalle, Beatrix Ruf. Dass die viel beschworene Renaissance der Malerei in der Schweiz bisher ausgeblieben sei, bezeichnet sie als ein «Glück». Der Hype um Künstler wie den Leipziger Maler Neo Rauch oder den Polen Wilhelm Sasnal lässt sich laut der Kuratorin auch damit erklären, dass die gefeierten Pinseltechniker aus dem Osten «einfach zu erwerbende Flachware» produzierten. «Jede polnische Leinwand, die heute auf den Markt kommt, wird einem fast aus den Händen gerissen», mokiert sich die Kunsthalle-Chefin.

In der Tatsache, dass die Schweizer Künstlerinnen und Künstler auch im Ausland sehr gut vertreten sind, erblickt Ruf ein Indiz dafür, dass der Boom früherer Jahre mittlerweile einer gesunden Kontinuität gewichen sei. «Wir müssen beginnen, an dieser Kontinuität zu arbeiten», fordert die Szenekennerin und Beraterin diverser Firmen in Sammlungsfragen. Gemessen an dem, was die Schweiz zu bieten habe – hervorragende Künstler, hervorragende Kunsthallen, Galerien, Kunstzeitschriften und Sammler –, fänden, abgesehen von der Basler «Art», zu wenige Grossanlässe statt, findet der Ausstellungsmacher Hans Ulrich Obrist. «Weshalb es nie eine Biennale oder Triennale in der Schweiz gegeben hat oder weshalb die europäische ‹Manifesta› hier nie Station gemacht hat», so der weltweit tätige Starkurator, sei ihm schleierhaft.

Die Jury

37 Kunstsachverständige haben mit der Nennung ihrer Favoriten zum BILANZ-Rating 2005 beigetragen. Gewichtet wurden die Anzahl Nennungen pro Künstler (prioritäres Kriterium) und die Platzierung der Namen in den eingesandten Ranglisten (sekundäres Kriterium).

Dieter Beer, Daros Collection, Zürich; Ralf Beil, Konservator Musée Cantonal des Beaux-Arts Lausanne; Tobia Bezzola, Kurator Kunsthaus Zürich; Paolo Bianchi, Kurator, Baden; Konrad Bitterli, Kunsthistoriker, Daiwil; Peter Bläuer, Kunstvermittler, Basel; Lionel Bovier, Direktor JRP / Ringier Kunstverlag; Bernhard M. Bürgi, Direktor Kunstmuseum Basel; Marianne Burki, Kuratorin Kunsthaus Langenthal; Giovanni Carmine, freier Kurator, Zürich; Dolores Denaro, Direktorin Centre PasquArt, Biel; Christoph Doswald, freier Kurator und Publizist; Matthias Frehner, Direktor Kunstmuseum Bern; Gianni Jetzer, Kurator Neue Kunsthalle St. Gallen; Philipp Kaiser, Kurator Museum für Gegenwartskunst Basel; Daniel Kurjakovic, freier Kurator, Zürich; Roman Kurzmeyer, Kurator und Kunstwissenschaftler, Basel; Markus Landert, Konservator Kunstmuseum Thurgau; Christoph Lichtin, Konservator Kunstmuseum Luzern; Pierre-André Lienhard, Kunsthistoriker, Basel; Heike Munder, Direktorin Migros Museum, Zürich; Patricia Nussbaum, Leiterin Kunstmuseum Olten; Beatrix Ruf, Direktorin Kunsthalle Zürich; Sabine Schaschl-Cooper, Direktorin Kunsthaus Baselland; Peter Schneemann, Ordinarius für Kunstgeschichte der Gegenwart, Bern; Nadia Schneider, Direktorin Kunsthaus Glarus; Madeleine Schuppli, Direktorin Kunstmuseum Thun; Martin Schwander, Kunstvermittler, Riehen; Dieter Schwarz, Direktor Kunstmuseum Winterthur; Reinhard Spieler, Direktor Museum Franz Gertsch, Burgdorf; Claudia Spinelli, Kunstkritikerin, Basel; Markus Stegmann, Kurator Museum zu Allerheiligen, Schaffhausen; Christoph Vögele, Konservator Kunstmuseum Solothurn; Mirjam Varanadis, Kuratorin Kunsthaus Zürich; Roland Wäspe, Direktor Kunstmuseum St. Gallen; Marc-Olivier Wahler, Direktor Swiss Institute – Contemporary Art, New York; Sarah Zürcher, Direktion Kunsthalle Freiburg.