Glücklich, wer den Mut hat und es sich leisten kann, sein Zuhause mit avantgardistischer Malerei, Fotokunst im XXL-Format oder den Installationen namhafter Gegenwartskünstler zu veredeln. Etwa mit einem wohnzimmertauglichen «Hirschhorn» oder einer assoziativen Video-Arbeit von Rist. Die mit dem «Pickelporno»? Ja, genau. Gefällt mir ausgesprochen gut, dieses Video. Und wie geht es Ihnen? Nichts sorgt für interessantere Gespräche und provoziert die Anerkennung der Gäste zuverlässiger als aktuelle Kunst. Wer es versteht, sich mit den richtigen Zeitgeist-Trophäen zu schmücken, schindet damit nicht nur gesellschaftlichen Eindruck. Mit junger Kunst lässt sich mittlerweile auch gutes Geld verdienen; unter Umständen sogar sehr viel Geld. Fragt sich nur, bei welchen Künstlern – neben dem ideellen Gehalt eines Werks – berechtigte Hoffnung auf finanzielle Dividende besteht.

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Für Laien gleicht das Aufspüren von Positionen, die bei inhaltlicher und formaler Perfektion im eigentlichen Wortsinn noch als «preiswert» zu bezeichnen sind, der berühmten Suche im Heuhaufen. Um sich auf einem heterogenen und gleichzeitig hochspekulativen Markt wie dem für zeitgenössische Kunst zurechtzufinden, benötigt man einigermassen verlässliche Vergleichsgrössen. Dies setzt einen objektivierbaren Massstab voraus. Mit dem Ziel, einen solchen Massstab zu schaffen, wurde 1993 das Künstler-Rating der BILANZ ins Leben gerufen. Die seither im Jahresrhythmus publizierte Liste mit den Namen der «50 wichtigsten» Gegenwartskünstler des Landes beruht auf der Einschätzung einer prominent besetzten Fachjury (siehe Kasten auf Seite 90) und deckt ausschliesslich bildende Künstlerinnen und Künstler ab, die Schweizer sind oder seit Jahren hierzulande leben und arbeiten (siehe Tabelle auf der rechten Seite).

Der Überraschungssieger des Jahres 2006 heisst Christoph Büchel. Zum ersten Mal in der Geschichte des BILANZ-Künstlerratings hat es mit ihm ein Künstler auf den ersten Rang geschafft, der unbestrittenermassen zu den Shooting Stars der heimischen Szene gehört. Vor sechs Jahren tauchte der Name des Basler Nachwuchskreativen erstmals in unserer Rangliste auf. Seitdem hat sich der 40-jährige Installationsvirtuose unaufhaltsam nach vorne geschoben – und dabei international wohl etablierte Namen wie Fischli/ Weiss, Pipilotti Rist, Roman Signer und John Armelder hinter sich gelassen.

Wer in Büchels «Hole» eingetaucht ist, eine begehbare Topografie des Terrors, die vergangenen Herbst in der Kunsthalle Basel aufgebaut war, kann vielleicht nachvollziehen, warum der Meister des arrangierten Chaos im Urteil unserer Fachjury heuer obenaus schwingt. Im Zentrum von Büchels gruseliger Erfahrungslandschaft steht das ausgeweidete Skelett eines zerbombten Reisebusses. Sein Zustand lässt zunächst nur einen Rückschluss zu: Überlebende gab es hier keine! Rings um das Busskelett liegen auf Sortiertischen und Regalen die Überreste der Explosion – gruppiert nach Ausgangsmaterial, Zerstörungsgrad und Grösse, fein säuberlich beschriftet, aufeinander gestapelt oder in Plastikfolie eingeschweisst. Bei eingehender Betrachtung der versammelten Fundstücke entsteht vor dem geistigen Auge des Besuchers ein Bild von der ehemaligen Beschaffenheit des Busses, seiner Passagiere und dem Hergang der Katastrophe. Mit Schaudern wird einem nach und nach klar, dass sich der imaginäre Anschlag weder in Kairo noch in Bagdad oder Ramallah zugetragen haben kann. Bei dem zerbombten Gefährt in Büchels «Worst-Case-Szenario» handelt es sich – warum gedanklich in die Ferne schweifen? – um einen Reisecar aus der Schweiz.

Um derartige Grossinstallationen mit der beabsichtigten Detailtreue und Akribie zu realisieren, braucht Christoph Büchel – neben kreativer Besessenheit – vor allem eins: viel Zeit. Kein Wunder, ist der gefeierte Installations-Maniac, seitdem er den internationalen Durchbruch geschafft hat, kaum mehr zu Hause anzutreffen. Praktisch das ganze Jahr über zieht Büchel von Ort zu Ort, um seine begehbaren Psychogramme und Katastrophenszenarien in Szene zu setzen. «Es entwickelt sich allmählich ein Markt für seine Arbeiten», freut sich der Kunsthändler Iwan Wirth, der den «Trashpoeten» aus Basel vor zwei Jahren exklusiv unter Vertrag genommen hat und seither das Seine zu dessen gedeihlicher Entwicklung beiträgt. «Wir versuchen dahin gehend zu wirken», erklärt Wirth seine Strategie, «dass Institutionen, für die Büchel grössere Installationen realisiert, diese anschliessend auch kaufen.» Selbst wenn die Arbeiten des Ausnahmekünstlers nicht in jedes Entrée passen, erfreuen sie sich offenbar auch bei exzentrischen Privatsammlern zaghaft steigender Beliebtheit. So fand beispielsweise ein abgewracktes und mit Gebetsteppichen behangenes «Taxi aus Kabul», das die Galerie Hauser & Wirth an der letztjährigen «Art» präsentierte, zwischenzeitlich Eingang in eine Schweizer Privatsammlung. Für alle jene, die sich ebenfalls mit dem Gedanken an die Anschaffung eines Büchel-Originals tragen und zu Hause über eine leer stehende Turnhalle verfügen, sei an dieser Stelle verraten, dass der zerbombte Reisecar inklusive sämtlicher Sprengteile im Moment noch zu haben ist. Also, nichts wie hin!

Schweizer Künstlerinnen und Künstler seien «überproportional in der Champions League vertreten», zieht Iwan Wirth einen Vergleich mit dem Fussball heran. Zurückführen lässt sich dieser Vorsprung auf eine unvergleichliche Dichte an öffentlichen und privaten Institutionen, die sich hierzulande mit der Förderung, Rezeption und Vermittlung zeitgenössischer Kunst befassen. Weil ein derart eng gewobenes Netz leicht zu Bequemlichkeit führen könne, hält es Iwan Wirth für das Weiterkommen lokaler Künstler für entscheidend, «dass sie möglichst rasch ins Ausland gehen, um sich dort zu bewähren».

Einer, dessen Arbeiten auch jenseits der Landesgrenzen auf zunehmendes Interesse stossen, ist der «Verwandlungskünstler» Gianni Motti. Ähnlich wie Büchel ist auch dieser Ausnahmekreative, der es erstmals in die Top Ten geschafft hat, ein Meister des doppelbödigen Spiels. Nur setzt Gianni Motti keinen Sperrmüll, sondern vorab sich selbst als Medium ein. Der Genfer mit italienischen Wurzeln lässt sich lebendigen Leibes zu Grabe tragen, mimt einen besoffenen Elite-Gardisten der Queen, spricht ungefragt vor der Uno oder greift als zwölfter Mitspieler in ein wichtiges Fussballspiel ein. Mit subversivem Spielwitz schlüpft Motti in alle möglichen Rollen, beschafft sich imaginäres Körperfett von Silvio Berlusconi und siedet es zu einer symbolischen Seife ein (siehe Bild auf Seite 90) oder bringt nadelgestreifte Bankiers publikumswirksam hinter Gitter.

Aufsteiger des Jahres 2006 ist der in Zürich lebende Georgier Andro Wekua, dessen eindringliche Collagen sich bei Sammlern im In- und Ausland wachsenden Zuspruchs erfreuen (siehe «Reality Bytes» auf Seite 104). Verglichen mit der letztjährigen Auswertung hat Wekua nicht weniger als 25 Ränge gutgemacht und belegt neu den hervorragenden 13. Platz. Betrachtet man die Verschiebungen im Tableau der «50 wichtigsten» Gegenwartskünstler der Schweiz, fällt die starke Performance von Nachwuchstalenten aus der Romandie auf. Hand aufs Herz: Wem waren Namen wie Valentin Carron (Rang 16), Mai-Thu Perret (Rang 25), Philippe Decrauzat (Rang 40) oder Didier Rittener (Rang 42) vor ein paar Jahren schon geläufig?

«Bei der Künstlergeneration unter vierzig findet man in der Westschweiz interessantere Positionen», sagt die Zürcher Galeristin Eva Presenhuber, die neben Jungtalenten wie dem 29-jährigen Walliser Objektkünstler Valentin Carron auch bewährte Aushängeschilder der Schweizer Gegenwartskunst wie Fischli/Weiss oder Jean-Frédéric Schnyder im Pogramm führt. Erika Friedrich von der gleichnamigen Galerie in Basel sieht das ähnlich: Die welsche Szene sei «im Kommen», bekräftigt Friedrich, die im Übrigen von einem «absoluten Overkill» an neuen Künstlerinnen und Künstlern spricht. Weil das Angebot laufend breiter werde, brauche es heute ein «extremes Potenzial», um sich national, erst recht aber auf internationaler Ebene durchzusetzen. Die Qualitätserfordernisse seien in den letzten Jahren «viel rigider» geworden, sagt Friedrich: «Künstler, die nicht ganz genau wissen, was sie tun, haben keine Chance auf einen Fensterplatz.»

Während klassische Flachmalerei und Skulptur gegenwärtig ein Revival erleben, sind Genres wie Fotografie und Video vorübergehend etwas in den Hintergrund getreten. Eva Presenhuber diagnostiziert in diesem Zusammenhang einen neuen «Materialfetischismus», will heissen: eine Rückbesinnung auf handfeste Materialien wie Holz, Stein, Ton, Aluminium, Pappkarton oder Polyester. «Unikate sind wieder gefragt», sagt die Galeristin. Die neu entdeckte Liebe zum «Original» hat zur Folge, dass handwerkliches Geschick und Können der Künstler wie ehedem in den Vordergrund rücken. Galt es vor nicht allzu langer Zeit noch als schick, die Idee für ein Werk anhand eines Polaroid-Bilds zu fixieren, dessen Ausführung jedoch getrost einem handwerklich begabten Assistenten zu überlassen, ist heute erneut die persönliche Handschrift en vogue: «Man arbeitet wieder eigenhändig im Atelier», beschreibt Presenhuber den Trend zur wahrhaftigen Produktion. Wenn das keine erfreulichen Perspekiven sind.