Die Wirtschaft steckt in der Krise, doch die Kunstbranche boomt wie nie zuvor. Es ist aber immer eine Frage der Perspektive: Blickt man von oben auf das Treiben in diesem nach irrationalen Kriterien funktionierenden Wirtschaftszweig oder von unten? War man am 8. Mai an der Auktion bei Christie’s im Rockefeller Center in New York, wo an einem einzigen Abend Kunst für 388 Millionen Dollar versteigert wurde – die höchstdotierte Versteigerung für Gegenwartskunst überhaupt –, oder in einer Nebenstrasse im Zürcher Galerienviertel im Kreis 5? Bereits das erste Los der New Yorker Auktion – eine 1 Meter 90 hohe Wachsfigur des Schweizer Shootingstars Urs Fischer – gab den schwindelerregenden Takt vor und erzielte fast das Doppelte des Schätzpreises. Die Figur – eine ironische, in vergänglichen Wachs gegossene Replik des Sammlers und Medienmoguls Peter Brant – war einem Käufer 1,3 Millionen Dollar wert. Derweil wurde in der kleinen Galerie in einer Zürcher Nebenstrasse um den Preis gefeilscht. Der Galerist gab seinem Käufer 20 Prozent Preisnachlass und gewährte überdies Ratenzahlungen.
Die beiden Szenen scheinen um Lichtjahre voneinander entfernt zu sein. Doch das obere und das untere Ende auf der Skala dieser Welt haben sehr wohl miteinander zu tun. Auch Urs Fischer, Jahrgang 1973, hat als 22-Jähriger in kleinen Galerien angefangen. Dass er zum Star der internationalen Kunstszene avancierte, hat laut seiner Galeristin Eva Presenhuber, die ihre international gut vernetzte Galerie in Zürich West gleich neben dem Prime Tower betreibt, vor allem mit zwei Faktoren zu tun. Mit Fischers «besonderem Talent» und der Tatsache, dass er «das Glück hatte, von bekannten und erfahrenen Sammlern gekauft zu werden». Fischers Sammler lesen sich tatsächlich wie ein Who is who der Opinionleader der Kunstszene. Der zypriotische Bauunternehmer Dakis Joannou, der Erbe Friedrich Christian Flick, die Verleger Peter Brant und Michael Ringier sowie Luxusgütertycoon François Pinault trugen laut Presenhuber nebst wichtigen Museumsausstellungen dazu bei, Urs Fischers «Anerkennungswert zu steigern». «Diese Sammler beeinflussen das Verhalten anderer. Das ist nichts Neues.»
Top 3 in Stein gemeisselt. Im Kunstmarkt herrscht der Herdentrieb. Es gibt keine objektiven Kriterien, die Werke werden von Opinionleaders validiert. Die Übereinkunft von Kuratoren, Museumsdirektoren, Kritikern und Sammlern bestimmt darüber, welche Kunst Bestand hat. Deshalb ist auch das BILANZ-Künstler-Rating ein Gradmesser dafür, welche Künstler vor den kritischen Augen der Branchenkenner bestehen.
Aber mit Einschränkungen: Urs Fischers derzeitiger Markterfolg – er dominiert laut dem Swiss Artists Index die Liste der umsatzstärksten Schweizer Künstler im internationalen Auktionsmarkt – wird nur bedingt durch seinen Rang im BILANZ-Künstler-Rating bestätigt. Der 39-Jährige, der mit seinen effektbetonten Gesten auf den ersten Blick auch eine gefällige Seite hat, büsste vier Plätze ein, von 7 auf 11. Die Künstler, die auf den drei ersten Plätzen rangieren – das Künstlerduo Peter Fischli und der kürzlich verstorbene David Weiss, Roman Signer sowie John Armleder – und seit Jahren mit Konzeptkunst, Performances und Objekten Furore machen, verharren scheinbar unverrückbar in den obersten Rängen. Ein Beleg dafür, dass Marktführerschaft nicht immer mit dem Grad an Anerkennung von Kuratoren und Kritikern übereinzustimmen braucht.
Auffallend ist am Jahrgang 2012 des BILANZ-Künstler-Ratings, dass sich gerade die jüngere Generation nicht mit leicht konsumierbarer Kunst ihren Weg nach oben bahnt. Oft schlagen sie zerebrale, politische oder poetische Töne an. Zu dieser neuen Garde gehören etwa die Aufsteiger Kilian Rüthemann (Platz 12, Vorjahr 14), der mit einfachsten Materialien wie Zement, Beton, Zucker und Schaumgummi wahre Raum-Abenteuer schafft, oder Fabian Marti (Platz 15, Vorjahr 20) , der sich in Installationen, Fotogrammen und Skulpturen mit Parallelwelten und übernatürlichen Phänomenen auseinandersetzt. Auch Tobias Madison (Platz 25, Vorjahr 30) ist darunter: Er stellt mit Bildern, Skulpturen und Fotografien die materielle und die künstliche Welt in neue Zusammenhänge und macht bissige Kommentare zur Konsum- und Werbeindustrie.
Minimalistische Eleganz. Krisenzeiten sind produktiv für die Kunst. Gesellschaftliche Spannungszustände – das ist der Humus, auf dem aufregende Kunst gedeiht. Sie versteht sich nicht als Dekoration von Penthouses, sondern als ein Nachdenken mit künstlerischen Mitteln. Zwei der interessantesten Aufsteigerinnen des Jahres sind Latifa Echakhch (Platz 13, Vorjahr 26) und Vanessa Billy (Platz 47, Vorjahr 104). Beide fallen mit ebenso leisen wie präzisen Gesten auf, in denen sie gewichtige Themen wie nationale Identität oder den Umgang des Menschen mit Material und Umwelt verhandeln. In der Branche finden sie erhebliche Resonanz.
Echakhch, in Martigny lebende Künstlerin mit französisch-marokkanischen Wurzeln, bietet politische Substanz, die sich hinter einfachen Gesten verbirgt. Ganz gleich, ob sie in ihren installativen Arbeiten nationale Symbole oder die (De-)Konstruktion von Identität in einer globalisierten Welt untersucht: Sie tut dies mit wohlbedachten, minimalistischen Bewegungen von grosser Poesie und Eleganz. Positive Kritiken erhielt ihre Ausstellung in der Londoner Tate 2008, mit der die 38-Jährige ihre internationale Karriere lancierte; 2011 fiel sie mit ihrer Arbeit «Fantasia» an der von Bice Curiger kuratierten Biennale von Venedig auf: mit zehn Meter hohen, kreuz und quer stehenden Fahnenstangen, die den Weg zum italienischen Pavillon säumten – ein subtiler Verweis auf die kulturelle Verwirrung in einer globalisierten Welt. Im letzten Mai machte Echakhch zudem an der kuratierten Open-air-Ausstellung während der Kunstmesse Frieze in New York auf sich aufmerksam, und derzeit bereitet sie ihre Soloshow vom Herbst im Zürcher Kunsthaus vor.
Kraft, Mut und Ausdauer. Zu den Aufsteigern, die im Künstler-Rating den grössten Sprung nach vorne gemacht haben, gehört Vanessa Billy. Die 34-jährige Genferin, die sich am renommierten Londoner Chelsea College of Art and Design ausbildete und zwölf Jahre in der Themsestadt lebte, hat mit erfrischend kritischen Positionen in der Branche Aufmerksamkeit erregt. Dabei benutzt sie einfachste Materialien – Zement, Wasser, Stein, Holz, Metall und Keramik –, um sich mit den Spuren auseinanderzusetzen, die der Mensch in der Natur hinterlässt. «Ich interessiere mich für das Material, das uns umgibt, und dafür, wie es den Menschen formt», sagt Billy. Mit ihren asketischen, an Arte povera erinnernden Arbeiten punktete sie nicht nur bei der BILANZ-Jury. Dieses Jahr konnte Billy gleich zwei aufwendige Auftragsarbeiten in Zürich realisieren: in einem Schulgebäude und im Rahmen des Kunstfreiluftspektakels Art and the City. Auf dem Turbinenplatz in Zürich West lässt sie einen Baukran einen in die Erde eingelassenen Metallgriff fassen, so, als wollte er gerade den Planeten Erde aus den Angeln heben. Gibt es einen sarkastischeren Kommentar zur Bauwut in diesem Quartier? An der viel beachteten Kunstmesse Frieze in New York machte sie zudem international mit einer Einzelpräsentation auf sich aufmerksam. Das Werk «Trawler» – ein kritischer Kommentar zum Leerfischen der Meere – zeigt einen mit Wasser gefüllten Plastikbeutel, der scheinbar von einem Metalldraht über den Sand geschleift wird. Es wurde verkauft. Billys Galeristin Chaja Lang von der Zürcher Galerie BolteLang freut sich: «Sowohl von Sammler- wie von Museumsseite besteht zurzeit sehr grosses Interesse.» Schweizer Banken und Versicherungen besitzen Werke von ihr sowie der Kanton Zürich. Die international gute Vernetzung dank ihren Galerien in London und Dänemark ist unerlässlich für eine nachhaltige Künstlerkarriere.
Aber was gehört sonst noch zu einer erfolgreichen Künstlerlaufbahn? «Die wichtigsten Eckpfeiler sind Kraft, Mut, Ausdauer», so die Galeristin Susanna Kulli, die Künstler wie John Armleder (Rang 3, Vorjahr 4), Thomas Hirschhorn (4, Vorjahr 2) und Olivier Mosset (10, Vorjahr 9) vertritt. «Dazu kommen Loyalität, Grosszügigkeit, Engagement, Risikofreude.» Eva Presenhuber, Galeristin von Fischli/Weiss, meint: «Der Erfolg muss, wenn er langfristig sein will, immer wieder neu verdient werden. Es sind vor allem Risikobereitschaft und Glaubwürdigkeit gefragt.»
Späte Anerkennung. Der Diskurs in Museen, unter Kuratoren und Kritikern ist indes nicht deckungsgleich mit dem Kunstmarkt. Das beweist die internationale Anerkennung von Manon, der Zürcher Foto- und Installationskünstlerin, die endlich an ihren Anfangserfolg anknüpfen kann. Manon (Jahrgang 1946) rangiert erstmals im BILANZ-Künstler-Rating (Platz 50). Sie wurde in den letzten Jahren von einer jungen Künstler- und Kuratorengeneration wiederentdeckt, die ihr den legitimen Platz als Schweizer Pionierin der Fotoperformance- und Installationskunst zuweist. Bereits 1974 machte sie Furore mit ihrer inzwischen legendären Installation «Das lachsfarbene Boudoir», einem aufregenden Konzentrat aus Fetischobjekten und Düften. Seither arbeitet die Künstlerin kontinuierlich an ihrem Werk – fast unbemerkt vom Markt, keineswegs aber von der Museumswelt. Ihre Arbeiten kreisen um Identität, Geschlechterstereotype und Vergänglichkeit – als Fotografie, Performance oder Installation – und sind unter anderem in Museumssammlungen in Zürich, St. Gallen, Bern und Genf vertreten.
Ungeachtet der Tatsache, dass Manon keine feste Galerieverbindung hat – ihr Mann besorgt die Administration –, bahnt sie sich ihren Weg zu international renommierten Museen im Ausland. «Ich arbeite jeweils sehr lange an neuen Serien», sagt sie. «Die Galerien mit ihren internationalen Messebeteiligungen und Vernissagen sind ganz anders getaktet als mein künstlerischer Prozess.» Die Künstlerin, der Flughäfen zuwider sind, kommt nun nicht umhin, ins Flugzeug zu steigen. 2013 wird sie ihr «Lachsfarbenes Boudoir» in der Tate Liverpool neu aufbauen, ebenso in der Schirn Kunsthalle Frankfurt und im Lentos Kunstmuseum in Linz. Merke: Erfolg in der Kunst misst sich nicht nur am Preisschild, sondern daran, wer museale Weihen erhält.