In den letzten Monaten drehte sich das Kunstmarktkarussell immer rasanter. Messen schlagen zurzeit ihre Zelte zwischen New York, Hongkong und Basel im Monatsrhythmus auf, die Karawane von Händlern, Sammlern und Auktionatoren zieht hektisch ans nächste Wasserloch, derweil an den Auktionen die Preise für Nachkriegs- und Gegenwartskunst in zuvor nicht für möglich gehaltene Höhen klettern.
Für Nichteingeweihte gab die Kunstwelt am 15. Mai bei der Auktion von Christie’s im New Yorker Rockefeller Center Rätsel auf. Nicht etwa wegen der manchmal hermetischen Bedeutungen der Werke, sondern vielmehr wegen der schwindelerregenden Preise. Fast eine halbe Milliarde Dollar wurde mit 66 Werken an jenem Frühlingsabend erzielt. Und zwar nicht für Picassos oder Cézannes, die Pioniere der Moderne, sondern – ein Novum – für Nachkriegs- und Gegenwartskunst von zum Teil noch lebenden Künstlern. Insgesamt 59 Werke gingen dabei für einen einstelligen Dollar-Millionenbetrag weg, neun für über zehn Millionen und drei gar für über vierzig Millionen.
58,4 Millionen Dollar für ein Werk von Jackson Pollock, beinahe das Doppelte des Schätzwertes? 56,1 Millionen Dollar für Roy Lichtenstein? Vielen erscheinen solche Preise schlicht irrational.
Kunst kaufen ist Mode. Marktbeobachter sind sich darin einig, dass die noch nie gesehene Preisexplosion weniger über den Wert der Kunst selbst aussagt als über fehlende Investment-Alternativen. Die «neue Ära», wie sie Christie’s-Chairman Brett Gorvy ausgerufen hat, reflektiert vor allem die Ausweitung der Sammlerschicht in Richtung Asien und die Entdeckung von Kunst als Anlagevehikel.
«Viele Spekulanten sind zu Käufern geworden, die bei Auktionshäusern beliebt sind», sagt Eva Presenhuber, international bestens vernetzte Galeristin aus Zürich. Kunst habe sich definitiv zur neuen Asset Class entwickelt. Dies hat allerdings den Effekt, dass das Werturteil von Kritikern, Kuratoren und Kunsthistorikern zusehends von der Stimme des Marktes als neuem Bewertungssystem verdrängt wird. Zwischen den Klassikern mit ihren kapitalen Summen und den jungen Shooting Stars mit den hochschnellenden Preisen wird das mittlere Segment fast zerrieben.
Nicht alle Kunstmarktteilnehmer sind mit der Entwicklung einverstanden. «Der grösstmögliche Markterfolg ist nicht das einzige Ziel. Nicht alles lässt sich durch ihn messen oder erkennen», sagt die Galeristin Monica De Cardenas, die mit ihren Galerien in Mailand und Zuoz Künstler wie die Schweizer Markus Raetz und Franz Gertsch vertritt. «Entscheidend sind überzeugende Ausstellungen sowohl in Galerien wie in Museen», ist auch Eva Presenhuber überzeugt.
Es sind solche Überlegungen, die das BILANZ-Künstler-Rating relevanter denn je machen. Die Liste, die BILANZ nun bereits zum 20. Mal erstellt, spiegelt nämlich den Stellenwert von Schweizer Künstlern – und zwar nicht anhand von Umsatzzahlen oder Preisrekorden, sondern anhand des Urteils einer Jury, die sich aus den wichtigsten Akteuren der Szene zusammensetzt. Namhafte Kuratoren, Museumsleute und Kritiker geben ihre Stimme ab, wen sie derzeit zu den einflussreichsten Künstlern zählen.
Die Spitze führen seit Jahren dieselben Künstler an. Fischli/Weiss, Roman Signer und John Armleder heisst das führende Trio. Dass die Zusammensetzung der ersten Plätze kaum Veränderungen zeigt, kann als Beleg für die hohe Stabilität und die Relevanz der Befragungsmethodik bewertet werden. Bereits zum fünften Mal in Folge besetzen Fischli/Weiss den ersten Platz – in der 20-jährigen Geschichte des BILANZ-Künstler-Ratings positionierten sie sich nicht weniger als 17-mal zuoberst auf der Liste. Die Virtuosen des Banalen – David Weiss ist 2012 verstorben – haben mit ihren Skulpturen, Fotografien, Installationen und Videos 2007 den internationalen Durchbruch geschafft. Wie sie Weltgeschichte mit dem Alltag kurzschliessen, war in Retrospektiven in der Tate Modern und in den Deichtorhallen in Hamburg zu sehen. Seit diesem Frühling sorgt ihre riesige Steinskulptur «Rock on Top of Another Rock» in Kensington Gardens in London für Furore, ihre erste Arbeit im öffentlichen Raum in Grossbritannien. «Museen haben grosses Interesse, ihre Werke zu sammeln», bestätigt die Galeristin Eva Presenhuber. Mit Fischli/Weiss, Ugo Rondinone, Urs Fischer und Valentin Carron, der dieses Jahr die Schweiz an der Biennale Venedig vertritt, repräsentiert die bestens vernetzte Galeristin die Schwergewichte der Schweizer Gegenwartskunst.
Bereits gebe es für die Werke, deren Preise sich zwischen 100 000 und drei Millionen Franken bewegen, Sammler im Mittleren Osten und in Lateinamerika.
Kunst in vier Dimensionen. Auch der Ostschweizer Objekt- und Performancekünstler Roman Signer (Platz 2) ist ein Stammgast auf den obersten Plätzen; ihm widmet derzeit zu seinem 75. Geburtstag eine junge Künstlergeneration eine Hommage in der Kunsthalle St. Gallen, die wie Signer mit subversiven Gesten, performativen Skulpturen und energetischen Prozessen arbeitet. Signer gilt als Daniel Düsentrieb des Schweizer Kunstbetriebs; seit 35 Jahren experimentiert er mit Aggregatszuständen, fordert Luftwiderstand und Zentrifugalkraft heraus. Signer lässt Möbelstücke mittels einer Explosion durch den Raum schleudern, jagt Aktenkoffer durch den Eiskanal oder katapultiert Fahrräder durch die Luft und lässt dabei dem Zufall immer seinen Raum. Mit skurrilen Aktionen, die er in Fotografien und Videos dokumentiert, erweitert er den traditionellen Skulpturenbegriff um die vierte Dimension der Zeit. Obwohl sich sein Bekanntheitsgrad ausserhalb der Schweiz in den letzten zehn Jahren stetig vergrössert hat, sind die Preise seiner Werke geradezu erschwinglich geblieben: Fotoserien in Zehnerauflagen kosten zwischen 5000 und 25 000 Franken; Skulpturen bewegen sich zwischen 50 000 und 150 000 Franken.
Zum dritten Mal in den letzten fünf Jahren findet sich John Armleder, der Genfer Hotelierspross, auf Platz drei. Mit einem spielerisch-assoziativen Umgang in Installationen, Malerei und Zeichnung und seinem langjährigen Lehrauftrag an der Ecole cantonale d’art de Lausanne (Ecal) ist er einer der einflussreichsten Künstler der letzten drei Dekaden. Gerade zieht er mit einer viel beachteten Einzelpräsentation im neu geschaffenen Diary Art Center in London die Aufmerksamkeit auf sich, und sein Galerist Andrea Caratsch kann sich kaum der Anfragen von institutioneller Seite erwehren. «Die Museen sind sehr interessiert an Armleders Werk», bestätigt er.
Dass sich die Nachfrage auch von Sammlerseite bei John Armleder verstärkt hat, kann ihn ebenfalls freuen. Allein im Jahr 2008 verkaufte Caratsch mehr Werke von Armleder als in den sieben Jahren davor zusammen. Es ist das Ergebnis kontinuierlicher Zusammenarbeit, in deren Rahmen der Galerist produktionsintensive Werke wie Neonarbeiten vorfinanziert. Die Preise bewegen sich zwischen 50 000 und 200 000 Euro und sind, obwohl sie sich in den letzten Jahren verdoppelt haben, für einen Künstler mit Armleders Ausstellungsgeschichte im internationalen Vergleich immer noch moderat.
Auch für Caratsch ist der Gradmesser des Erfolgs eines Künstlers nicht primär der Markterfolg, sondern die Frage, ob er einen grossen Einfluss auf die nächste Generation ausübt und institutionelle Unterstützung erhält. «Am Markt zu schnell gehypte Shooting Stars riskieren», so Caratsch, «nach wenigen Jahren zu verglühen.»
Erfolgreiche Postmodernisten. Auffällig beim diesjährigen BILANZ-Künstler-Rating ist denn auch, dass sich die Vorreiter der Postmoderne, die seit den sechziger Jahren beharrlich an ihrem Œuvre arbeiten, aber immer wieder über längere Perioden vom Markt vernachlässigt wurden, ihre Ränge verbessert haben: Markus Raetz (von Platz 17 auf 8), Olivier Mosset (von 10 auf 9), Franz Gertsch (von 35 auf 13), Silvie Defraoui (von 36 auf 32), Jean-Frédéric Schnyder (von 29 auf 21).
Markus Raetz hat seine Anhängerschaft in den vergangenen Jahren stetig ausgebaut. So hatte er mit seinen Skulpturen, oftmals sogenannten «Anamorphosen», die von verschiedenen Blickwinkeln anders aussehen, und seinen raffinierten, die Wahrnehmung kitzelnden Zeichnungen und Radierungen im vergangenen Winter eine viel beachtete Präsentation im Kunstmuseum Basel. Seine Galeristin Monica De Cardenas hätte in ihrer letzten Ausstellung im Frühjahr gewisse Werke bis zu fünfmal verkaufen können. Die grossen Skulpturen kosten zwischen 100 000 und 250 000 Franken, kleinere Multiples zwischen 20 000 und 25 000 Franken. «Markus Raetz und Franz Gertsch halten sich vom grossen Markttrubel bewusst fern und schaffen zahlenmässig wenig Werke», sagt De Cardenas. «Sie wünschen, dass diese in Galerien- oder Museumsausstellungen gezeigt werden und wenig oder gar nicht an Messen. Da kommen sie besser zur Geltung, und man kann sich für die Betrachtung Zeit lassen.»
Das hat zwar zur Folge, dass die beiden Künstler in Übersee weniger bekannt sind; dennoch gibt es bereits Sammler aus den USA und aus Indien, die Werke von Raetz und Gertsch gekauft haben. Ihr Résumé: «Die Karriere von Markus Raetz ist der Beweis dafür, dass es auch anders geht: dass ein guter Künstler es sich erlauben kann, zurückhaltend zu sein, und trotzdem erfolgreich sein kann.»
Olivier Mosset, der in Arizona lebende Maler, der sich seit den sechziger Jahren hartnäckig der malerischen Autonomie verpflichtet, die sich nicht auf Inhalte, sondern allein auf die Materialität stützt, findet ebenfalls breiten Zuspruch beim Expertenteam. Der Maler, der nur rund zehn Bilder im Jahr malt, hat eine ganze Generation abstrakt-konkreter Künstler in der Westschweiz inspiriert; seine monochromen und Streifenbilder werden von Andrea Caratsch für Preise zwischen 40 000 und 150 000 Franken gehandelt.
Zu den Gegenwartskunst-Pionieren, die heute reevaluiert werden, gehört auch Silvie Defraoui, die «Grande Dame der Schweizer Video- und Fotokunst», die bis zum Tod ihres Mannes im Künstlerduo Silvie und Chérif Defraoui auftrat. «Ihr Werk wird derzeit von jüngeren Kuratoren wiederentdeckt», sagt die Galeristin Susanna Kulli. Ein Gradmesser für die Aktualität ihres Werks, das bereits an der Biennale in Venedig und an der Documenta in Kassel zu sehen war. Defraoui befasst sich bereits seit den siebziger Jahren mit dem Begriff des «Archivs», mit dem Sammeln und Rezipieren von Bildern, und hinterfragt den Wahrheitsgehalt medialer Bilderströme; ein Themenfeld, das auch von jüngeren Künstlern beackert wird. Durch ihre über zwanzigjährige Lehrtätigkeit an der Ecole Supérieure d’Art Visuel in Genf übt sie zudem einen entscheidenden Einfluss auf jüngere Kunstschaffende aus.
Sichere Werte in unsicheren Zeiten. Auffallend am Rating 2013 ist, dass die Jungen etwas von ihrem Nimbus verloren haben. Künstler wie Kilian Rüthemann, Fabian Marti und Tobias Madison, die mit Baumaterialien, Fotogrammen und Versatzstücken aus der Welt der Werbung arbeiten, haben Ränge verloren, ebenso die Shooting Stars der letzten Jahre wie Pamela Rosenkranz und Latifa Echakhch. Doch der Befund würdigt nicht ihre Arbeit herab, sondern ist eher Beleg dafür, dass zurzeit die Wegbereiter der Zeitgenossen verstärkt ins Visier genommen werden. Sichere Werte in unsicheren Zeiten.
Was gute Kunst ist, dafür gibt es keine objektiven Kriterien. Welche Kunst nachhaltigen Bestand haben wird, darüber bestimmt die Übereinkunft von Kuratoren, Museumsdirektoren, Kritikern und Sammlern – aber nicht allein. Der Einfluss eines Künstlers auf eine neue Künstlergeneration ist eben auch ein Garant dafür, dass sein Œuvre Bestand haben wird.