Überzeugende Wettbewerbsbeiträge, eine durchzogene Bilanz auf der Piazza Grande und vor allem schweisstreibende Temperaturen: Am 70. Filmfestival in Locarno ist Halbzeit.
Ob beim Anstehen für ein Eintrittsbillett oder auf dem roten Teppich: Locarno schwitzte. Da kam das neue PalaCinema gerade richtig. Im klimatisierten neuen Kinozentrum mit Golddach, das pünktlich zur Jubiläumsausgabe des Festivals fertig gebaut worden war, liess es sich aushalten. Am Sonntag folgte dann endlich die ersehnte Abkühlung.
Die ganz grosse Kinoentdeckung lässt auf sich warten
In Sachen Film ging es in den ersten fünf Festivaltagen nicht immer heiss zu und her. So lässt die ganz grosse Kinoentdeckung auf der Piazza Grande noch auf sich warten. Bei manch einem sorgte die Filmwahl des künstlerischen Leiters Carlo Chatrian gar für Stirnrunzeln. Kein Wunder war die Piazza bisher noch nie ausverkauft: 6800 Zuschauer waren laut Festivalangaben das Maximum, Platz hätten 8000.
Am ehesten vermochte noch der Eröffnungsfilm der Französin Noémie Lvovsky, «Demain et tous les autres jours», zu überzeugen. Allerdings erhielt auch das poetische Werk über ein neunjähriges Mädchen, das mit einer manisch-depressiven Mutter lebt, durchzogene Kritiken.
Ein alter Mann spielt alle an die Wand
Der internationale Wettbewerb um den Goldenen Leoparden hingegen wartete bisher mit einigen erstaunlich zugänglichen Filmen auf. Das palästinensische Werk «Wajib» von Annemarie Jacir ist eine gelungene Mischung aus Kammerspiel und Roadmovie: Vordergründig geht es um ein entfremdetes palästinensisches Vater-Sohn-Paar, zwischen den Zeilen jedoch wird viel erzählt über das alltägliche Leben der kleinen Leute angesichts des Konflikts im Nahen Osten.
Ins Herz schliesst man auch «Lucky», den Protagonisten des gleichnamigen Spielfilms von John Caroll Lynch. Der inzwischen 91-Jährige Harry Dean Stanton spielt grossartig einen alten, kauzigen Mann in einem US-Wüstenkaff, der sich vor dem nahenden Tod fürchtet - und seinen Ängsten mit philosophischen Exkursen begegnet.
Was trocken klingt, sorgte an der Premiere für viel Gelächter. In einer Nebenrolle ist Lynchs Namensvetter, Regisseur David Lynch, zu sehen.
Dokfilm über Favela in Rio überzeugt
Aus Schweizer Sicht wird erst der Montag richtig spannend: Dann stellt der junge Regisseur Dominik Locher seinen neuen Spielfilm «Goliath» vor. Das Drama mit Filmpreis-Gewinner Sven Schelker («Der Kreis») als junger Familienvater steht als einziger Schweizer Film im Wettbewerb.
Überzeugen konnte am Samstag der Dokumentarfilm «Favela Olimpica» des Westschweizers Samuel Chalard. Das eindrückliche Lehrstück über die Vertreibung von Favela-Bewohnern vor den Olympischen Spielen in Rio lief im Rahmen der Kritikerwoche. Dort hatte am Sonntag auch Milo Raus Dokumentarfilm «Das Kongo Tribunal» Premiere.
Ardant stiehlt Kinski die Schau
In Locarno bleibt das ganz grosse Staraufgebot im Stile von Cannes meist aus. Am Freitag herrschte aber doch ein wenig Aufregung: Mit Oscar-Gewinner Adrien Brody war ein Grosser Hollywoods im Tessin zu Gast.
Der 44-jährige US-Amerikaner nahm am Freitagabend auf der Piazza Grande den Leopard Club Award entgegen - zu Tränen gerührt. Er sei dankbar, tun zu können, was er liebe. Sein Dank galt in erster Linie seinen Eltern, die mit ihm das Festival besuchten.
Brody gewann 2002 für seine Interpretation eines polnisch-jüdischen Pianisten in Roman Polanskis «The Pianist» einen Oscar. Zuletzt war er etwa in «The Grand Budapest Hotel» (2014) zu sehen.
Grosser Auftritt von Fanny Ardant
Einen grossen Auftritt auf der Piazza hatte am Donnerstagabend die französische Schauspielerin Fanny Ardant. Mit ihren charmanten Rede vor der Premiere ihres neuen Films «Lola Pater» stahl sie dem eigentlichen Ehrengast des Abends - der deutschen Darstellerin Nastassja Kinski - schlichtweg die Schau.
Ardant lobte die unglaubliche Ambiance auf der Piazza und gratulierte dem Publikum mit Galgenhumor dafür, in Locarno grossartige Filme anzuschauen, die «niemals in grossen Städten wie Rom oder Paris in die Kinos kommen werden».
(sda/ccr)